Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau

  • Bei der Besprechung von „Im Dorfe“ meinte ich, im interpretatorischen Ansatz, dem Grundverständnis des Protagonisten dieses Zyklus also, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Wolfgang Holzmair und Christoph Prégardien vernommen zu haben, fügte aber hinzu, im Einsatz ihrer Ausdrucksmittel wirke er allerdings ein wenig zurückhaltender als Prégardien. Weil das nun aber ein punktueller, aus der Betrachtung eines Liedes gewonnener Eindruck war, stellte sich für mich natürlich die Frage, wie weit man diese Feststellung verallgemeinern kann. Nach dem Anhören einer ganzen Reihe von weiteren Liedern glaube ich sagen zu können: Man kann. Und überdies: Es zeigt sich, dass hinter diesen Unterschieden in der gesanglichen Interpretation ein unterschiedliches Verständnis des Protagonisten steht. Mit einem kurzen vergleichenden Blick auf das Lied „Die Wetterfahne“, bei dem ja die melodische Linie von ihrer Aufgabe her, die Aussagen des lyrischen Textes zu reflektieren, auf hohe Expressivität angelegt ist, möchte ich das belegen.


    Melodische Linie und Klaviersatz sind in diesem Lied von großer Unruhe geprägt. Im Autograph dieses Liedes findet man die Vortragsanweisung „Ziemlich geschwind, unruhig“.
    Schon gleich bei der ersten Melodiezeile schraubt sich die Vokallinie bei permanenten Rückungen in ihrer Harmonisierung in unruhigen Aufwärtsbewegungen hoch bis zum ersten Höhepunkt ("Liebchens Haus"). Danach muss sie innehalten, weil im Klavier eine Sechzehntel-Bewegung mit eingelagerten Trillern aufrauscht: Den Wind musikalisch malend, der in die Wetterfahne fährt.


    Diese Unruhe in der melodischen Linie setzt sich danach fort. Jetzt aber wirkt sie durch große Intervallsprünge wie zerstückt. Das Beharren auf einem Grundton bei "Er hätt es eher bemerken sollen...", bei gleichzeitigen Ausgriffen in großen Intervallen nach oben, wirkt, als würde da einer zerknirscht in sich hineinreden, zumal das Klavier jetzt von seinen Achtelläufen abgekommen ist und die Intervallsprünge mit Akkorden akzentuiert. Dabei kann man as "Quasi-Glissando" "pfi-iff", "hä-ätt", "beme-erken" usw. kann man als tonmalerisches Aufgreifen des Windes verstehen. Der Vers "Der Wind spielt drinnen mit den Herzen..." wird auf die nur leicht modifizierte melodische Linie des Eingangsverses gesungen, leise, vom Klavier wieder im Unisono und pianissimo begleitet. Eindringlich wirkt das. Hier herrscht musikalische Introversion: Das Bild draußen kehrt auf schmerzliche Weise im Innern der Seele wieder.


    Dann aber erklingt laut und bohrend, hart auf einer melodischen Sekunde artikuliert und von leeren Quinten im Klavier akzentuiert der Ruf: "Was fragen sie nach meinen Schmerzen?...". Dieser Gedanke hat sich in den Wanderer so eingebrannt, dass er ihn wiederholen muss. Wieder leise die gleiche melodische Figur in der Singstimme: "Der Wind spielt ...". Jetzt aber zwei Takte lang im Klavier von spielerischen Trillern untermalt. Und dann wieder laut, im Crescendo mächtig sich aufäumend und wieder mit Quinten im Klavier bohrend akzentuiert: "Was fragen sie nach meinen Schmerzen...". Bei der bitter-ironischen Feststellung: "Ihr Kind ist eine reiche Braut" erfolgt auf den Silben "rei-che" eine Dehnung über einen ganzen Takt, derweilen im Klavier die Sechzehntel wie in einem irrwitzigen Lauf nach oben rauschen.



    Nach dem forte einsetzenden Vorspiel nimmt sich das Lied bei der ersten Melodiezeile ins Piano zurück. Ganz dem entsprechend deklamiert Wolfgang Holzmair sie in ihrer Aufwärtsbewegung relativ zurückhaltend, ohne die Stimme sonderlich zu forcieren, und die Höhe auf dem Wort „Haus“ lässt er ruhig ausklingen. Bei der zweiten Melodiezeile wird er war deutlich expressiver, die Wiederholung der melodischen Figur bei den Worten „sie pfiff den armen Flüchtling aus“, bei der Schubert ja ein Crescendo vorgibt, deklamiert er nicht in der stimmlichen Schärfe, die hier möglich ist. Er lässt das lyrische Ich zwar betroffen wirken von dieser Erfahrung, die es da macht, aber nicht seelisch verletzt. Auch das sprunghaft-rasche Auf und Ab der melodischen Linie akzentuiert er nicht sonderlich, er deklamiert es zwar stimmlich präzise, vermeidet dabei aber, diesem immer wieder erneuten Ansetzen der melodischen Linie in tiefer Lage den Beiklang von Verärgerung zu geben, einem Verärgert-Sein des lyrischen Ichs über die eigene Blindheit.


    Auf beindruckende Weise gestaltet er den neuerlichen Anstieg der Vokallinie bei den beiden ersten Versen der dritten Strophe. Hier ereignet sich ja die Hinwendung der lyrischen Perspektive vom „realen“ Außen- in den seelischen Innenraum, was sich in der Rücknahme der Dynamik ins Pianissimo und in einer Fermate über der Pause nach dem Sextsprung zu dem Wort „laut“ hin niederschlägt. Holzmair deklamiert hier die melodische Linie in einem stark verinnerlichten Ton und lässt sie bei dem Wort „laut“ mit einem lang gehaltenen und sehr leisen Vibrato in der Stimme ausklingen. Das nachfolgende „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“ wird von ihm unter Beachtung der Anweisung „laut“ deklamiert, jedoch wieder ohne volle Ausschöpfung des expressiven Potentials, das der melodischen Linie hier innewohnt: Dem dreifachen Sekundsprung, der am Ende in einen Terzfall mündet. Ganz dieser interpretatorischen Intention entsprechend, wird auch der aus einem Sechzehntel-Anlauf hervorgehende kleine Sextfall bei „eine reiche Braut“ zwar forte, aber nicht dynamisch auf die Spitze getrieben deklamiert.


    Bei der Wiederholung dieser Verse lässt er die taumelnde Bewegung der melodischen Linie auf den Versen „Der Wind spielt drinnen mit den Herzen“ deutlich stärker hervortreten. Und wieder erklingt am Ende dieses höchst eindrucksvolle Vibrato bei dem Wort „laut“. Auch den Worten „meinen Schmerzen“ verleiht er nun durch eine sehr rasche Deklamation einen stärkeren Akzent als beim ersten Mal. Hier nun, erst am Ende des Liedes also, lässt er den tiefen Schmerz vernehmen, den die Bewusstwerdung des Verlusts der Geliebten in der Konfrontation mit ihrem Haus und der Wetterfahne oben für dieses lyrische Ich mit sich brachte.


    Der Blick auf die sängerische Gestaltung dieses Liedes durch Christoph Prégardien kann, da es hier ja um die Eigenart der Holzmair-Interpretation geht, kurz gefasst werden, - in Gestalt punktueller Hinweise auf die relevanten Unterschiede. Der Aufstieg der melodischen Linie in der ersten Melodiezeile ereignet sich rascher und deklamatorisch akzentuierter, in der prägnanten Artikulation der lyrisch bedeutsamen Worte „Wetterfahne“ und „Liebchens“ nämlich. Das Wort „Haus“ am Ende erklingt in deklamatorisch verblüffend flüchtiger, wie in nur nebenbei angesprochener Weise. Hier wird interpretatorisch tiefes Eindringen in die Komposition vernehmlich: Das lyrische Ich bringt, so empfindet man das, zum Ausdruck, dass es schon auf der Wanderschaft weg von diesem Haus ist.


    Die Worte „sie pfiff den armen Flüchtling aus“ werden mit einer starken Hervorhebung der sich wiederholenden Achtelfigur in der melodischen Linie deklamiert, - die Betroffenheit durch den Gedanken hörbar werden lassend. Und danach ereignet sich eine permanent wachsende, die Unruhe in der Bewegung der melodischen Linie betonende und nutzende Steigerung der deklamatorischen Expressivität, gipfelnd in dem fallenden doppelten Sekundsprung bei dem Wort „Frauenbild“, den das Klavier ja mit seinen extremen Achtelsprüngen im Diskant akzentuiert.


    Dass die gesangliche Interpretation bei Prégardien stärker auf Ausschöpfung des semantischen Potentials ausgerichtet ist, kann man auch bei der dritten Strophe auf beeindruckende Weise vernehmen. Die sich wiederholende, aber m Intervall sich steigernde Sprungbewegung der melodischen Linie bei den Worten „auf dem Dach“ und „nicht zu laut“ hebt er deutlich hervor, unter voller Ausnutzung der Fermaten. Der Ausruf „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“ kommt bei ihm in seinem appellativen Klagecharakter deklamatorisch voll zur Geltung, ebenso das konstatierende „ihr Kind ist eine reiche Braut“. Prégardien deklamiert hier die melodische Linie in bemerkenswert lakonischer Weise, im Gestus des „So ist das halt eben“.


    Erstaunlich lang halten er und Andreas Staier die Fermate über der Pause nach den Worten „nur nicht so laut“. Hier kommt für einen Augenblick völlige Stille in das Lied. Umso heftiger dann der nachfolgende Ausbruch bei der Wiederholung der Klage „Was fragen sie nach meinen Schmerzen“, - hochgradig expressiv sowohl beim Pianisten in der Artikulation der Achtel-Fallbewegung vor dem erneuten Einsatz der melodischen Linie, wie auch in der Deklamation derselben durch den Sänger. Er betont ganz bewusst den Steigerungseffekt, den Schubert bei der Wiederholung der Verse durch die Anhebung der melodischen Linie um eine Sekunde und die damit einhergehende harmonische Rückung in das Lied gebracht hat.


    Ergebnis:
    Da es hier nicht um eine Wertung geht, sondern nur um die Frage nach dem der Interpretation zugrunde liegenden Verständnis des Protagonisten, kann man aus diesem Vergleich der beiden Aufnahmen zu der Feststellung gelangen:
    Holzmairs Winterreisender ist ein still sein Schicksal Erleidender, einer der hinnimmt, in eine existenzielle Grenzsituation geraten zu sein und sich das in stillem Monolog vergegenwärtigt.
    Der von Prégardien ist aus anderem Holz geschnitzt: Er lässt die Welt im allgemeinen um sein Leiden wissen, - und die stadtbürgerliche Welt im besonderen, aus der er vertrieben wurde, um die Vorwürfe, die er ihr macht.

  • Hier hat es Helmut Hofmann wahrlich verdient, dass man diesen wahrlich wunderbaren und exemplarischen Intepretationsvergleich nicht einfach beschweigt, sondern würdigt. Was die Subtilität, Sorgfalt der Analyse, den Esprit und die Aussagekraft angeht kann man das kaum besser machen. Einfach vorbildlich!


    Anmerken darf ich aber auch, dass ich hier einen gewissen Anklang an den Stil mit den Beethoven-Klaviersonaten Threads sehe, die Willi und ich vornehmlich gestalten. Und noch etwas erlaube ich mir hinzufügen: Solche strukturellen Interpretationsvergleiche vertragen sich mit Besprechungen von Werkaspekten mit ihrer "philosophisch"-ästhetischen Dimension durchaus. Hier darf ich speziell auf den Thread über Beethovens "Pathetique" hinweisen, wo wir motiviert durch Christian B. auf die Problematik des (vermeintlichen) Kehraus-Finales sowie das grundsätzliche Problem des "Sturm und Drang" bei Beethoven eingegangen sind. Das stört dort in keiner Weise, sondern ergänzt sich wunderbar.


    So - und nun bin ich als flüchtiger Gast auch schon wieder verschwunden... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bedingt durch eine zweiwöchige Offlinezwangspause (der Internet-durch Satellit-Betreiber.....) und sehr viel Orgelarbeiten rund um das Osterfest habe ich diesen Thread immer mal zwischendurch auf meinem Mobiltelefon mitgelesen, wenn ich unterwegs war. Mitzudiskutieren war mir nicht möglich.


    Auch zukünftig werde ich mich wohl auf das Mitlesen beschränken müssen, weil ich ein Käufer bin, der sich nur diejenigen CDs besorgt, die ihm auch wirklich gefallen. Vom Sänger Fischer-Dieskau besitze ich mehrere Einspielungen, von den Kollegen seiner Zeit und auch den späteren Aufnahmen habe ich keine im Bestand. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich nicht immer wieder Versuche in diese Richtung unternahm. Oft besorgte ich mir durch verschiedene Musikbibliotheken CD-Einspielungen und Videos der Winterreise. Ebenso hörte ich längere wie kürzere Abschnitte über das Internet. Ausser Fischer-Dieskau haben mir insgesamt drei Versionen so gut gefallen, dass ich einen Kauf mir vorstellen könnte: Robert Holl, Peter Schreier und Matthias Goerne.
    Mir ist eigentlich egal, ob das jemand ggf. einseitig findet. Sicherlich fußt das auf meinem subjektiven Geschmack, der aber durchaus auch verschiedene Möglichkeiten guter Interpretationen zulassen kann. Jedenfalls könnte ich taktweise begründen, warum mir bei dem einem gewisse Elemente gut gefallen und bei dem anderen nicht. Ich höre diese Musik immer in der Gesamtheit, d.h. die Klavierbegleitung ist für mich hinsichtlich der gesetzten Noten und deren Interpretation genauso wichtig wie die Gesangsanteile. Alles wiederum ist eng mit dem Text verwoben.
    Hier haben für mich die Versionen Fischer-Dieskau/Brendel (CD und DVD, sind unterschiedlich) viele Meriten, weil Brendel nun einmal ein ganz wunderbarer, sowohl durchdachter als auch emotional hochsensibler Schubert-Interpret ist. Wenn ich alleine den "Rückblick" in den Versionen FiDi/Perahia und FiDi/Brendel vergleiche, dann weiss ich, schon alleine hinsichtlich der Phrasierung und der feinagogischen Vorbereitung von Akzenten, warum ich hier so gerne den Alfred Brendel höre, selbst wenn Perahia natürlich auch ein ganz hervorragender und auch reflektierter Pianist ist.


    Doch wie gesagt, auch ein Robert Holl-Version kann mich etwas für sich einnehmen. Das liegt an seiner in meinen Ohren wunderbaren vollen und mächtigen Stimme, seiner vielschichtigen Musikalität, seiner nahezu 100%igen Akzentfreiheit und auch an der ungewohnt und deshalb einmal durchaus reizvoll tiefen Lage, durch die die Klavierbegleitung noch düsterer und ernster klingt (ich weiss, dass das nicht original Schubert ist.)
    Holl ist hier durchaus wandlungsfähig, mit weichen und lyrischen Elementen. Verglichen mit Fischer-Dieskau hört es sich für mich jedoch immer noch nach etwas zu einförmig an, vor allem dann, wenn man sich nach einigen Liedern an den sonoren Klang dieser herrlichen Stimme gewöhnt hat und die Seele sich nach noch mehr Identifikation sehnt.
    Im Vergleich mit Brendel empfinde ich hier z.B. beim Lied "Gute Nacht" es als Interpretenfehler, dass der Pianist aus expressiven Gründen agogische Anhalter auf den Akzenten veranstaltet. Man kann und soll da etwas machen, aber es soll nicht so weit gehen, dass der Eindruck des "Gehenmüssens" durch eine Störung des pulsierenden Rhythmus zugunsten eines irgendwie "Ausdruckmachens" verwischt wird. Ein bisschen schneller könnte es wohl auch sein. Karl Engel machte bei seiner Prey-Begleitung hier übrigens genau das Gegenteil: schnelles Tempo und keine Agogik. Mir ist das aber dann wieder zu teilnahmslos.Wirklich unter die Haut geht es beim Klavierspiel Brendels zusammen mit Fischer-Dieskau. Das Verhältnis von agogischem Ausdruck und Puls zu finden, ist sehr schwer, ebenso das rechte Maß der eingesetzen Dynamik. Bei Brendel bleiben da keine Wünsche offen.


    Um eine Gelegenheit zum Anhören der Holl-Interpretation zu geben, möchte ich auf diesen Link hinweisen:


    Dieses Video ist nicht mehr verfügbar, weil das mit diesem Video verknüpfte YouTube-Konto gekündigt wurde.


    Wobei es methodisch vielleicht sinnvoll wäre, die jeweilige Interpretation durch Fischer-Dieskau als Bezugsgröße zu nehmen und dann der Frage nachzugehen, welche anderen Akzente die jüngeren Interpreten setzen, worin sie den Protagonisten dieser „Winterreise“ gleichsam neu sehen, und ob sie – das ist freilich eine heikle Frage, der nicht unbedingt zwingend nachgegangen werden muss – sich darin als Angehörige einer fortgeschrittenen historischen Zeit zu erkennen geben.


    Dieser Ansatz ist ja in den nachfolgenden Beiträgen (oder wenigstens in einem Beitrag) etwas in Zweifel gezogen worden. Ich möchte ihn jedoch unterstützen. Fischer-Dieskau hat mit seinen Einspielungen und Konzerten eine eigene Interpretationswelt für sich geschaffen, die durchaus als Bezugpunkt gelten kann....gelten muss.
    Brendel ist ähnliches bei der Schubert-Literatur für Pianisten gelungen, und meinem Eindruck nach auch als Pianist der "Winterreise". Die Studioaufnahmen mit Fischer-Dieskau sind im Detail noch etwas ausgefeilter und expressiver als die auch schon sehr gute Begleitung, die er bei der Zusammenarbeit mit Goerne live spielte (eine unglaubliche Konzentrationsleistung übrigens...)


    Matthias Goerne geht es ja "gesanglicher" als Fischer-Dieskau an -mit einer vollen und ebenfalls sonoren Stimme- , und mir kann auch das gut gefallen, Vielleicht empfinde ich diesen Klang und auch die nicht ganz so tiefe Lage weniger beim Anhören auf die Dauer abnutzend, als bei Holl.
    Goernes Verzicht auf aussprachliche Modulationen (in meinen von Fischer-Dieskau geprägten Ohren ist es ein solcher) erweckt bei mir jedoch den Eindruck eines gewissen mitfolgenden Verzichts auf Identifikation. Es ist immer noch so, dass er uns nun ein (schaurig) schönes Kunstlied vorträgt, aber nicht selbst zum Wanderer wird.
    Dass der Text lebendig wird und ich faktisch den traurigen Wanderer selbst höre, nun, diese Wirkung entsteht bei mir, wenn ich Fischer-Dieskau höre. Einerseits kann ich gut erklären, wieso das so ist, andererseits auch überhaupt nicht.


    Von Bostrigde lieh ich mir einmal eine DVD aus, wobei es mir allerdings recht schwerfiel, nicht auf "Stop" bei der Fernbedienung zu drücken.
    Ich schreibe ungern Negatives und erkenne auch das Bemühen eines durchaus großen Oratorien-Tenors an. Mir fehlte da unter anderem der sprachliche Bezug, das Gefühl, dass der Sänger in jeder semantischen Feinheit versteht, was der Text beinhaltet. Mir macht es keine Probleme, eine Tenorarie von Bach mit diesem großartigen Sänger zu hören. Sein leichter Akzent stört mich dort weniger. Beim Schubert jedoch war es etwas, was meinem Empfinden nach sich zwischen den Text , die Musik und den Hörer schob.


    Besser finde ich da schon diese Live-Version, die ich auf im Netz fand:


    Dieses Video ist nicht mehr verfügbar, weil das mit diesem Video verknüpfte YouTube-Konto gekündigt wurde.


    Natürlich ist da viel Gutes und viel Musikalisches dabei - und mein Augenbrauensenken an bestimmten Details mag wie eine pingelige Pickerei wirken. Allerdings finde ich auch, dass sich das Gesamteindruck auch aus der Summe der Details zusammensetzt - nicht nur, aber auch.
    Bei "Gute Nacht" sehe ich auf, wenn die Betonung bei den irren Hunden auf irre liegt, statt auf irre (beide Sylben sollten betont werden, in der normalen Sprache wäre es nur die erste Sylbe)


    Wenn der Sänger dann später den Boden kissen will, dann habe ich großes Verständnis dafür, dass das ü für einen englischen Sänger schwerfällt, vor allem auch, weil es auf Englisch "to kiss" heißt.
    Dennoch wird man durch solche Details etwas aus dem Ernst der Sache selbst geworfen, weil man daran erinnert wird, dass da ja eben nicht der Wanderer singt, sondern der englische Tenor Bostrigde, der sein Bestes gibt, um den Hörern deutsche Kunst-Liedgut nahezubringen.
    Anzuerkennen ist solche eine Leistung jedoch über alle Maßen.


    Helmut Hofmann: es gibt zwei Arten von Fortschritt. Zum einen das unablässige Fortschreiten der Zeit an sich ( wobei die Beantwortung der Frage "Was ist Zeit" äusserst schwierig ist), zum Anderen der Fortschritt im Sinne von Modernität und Verbesserung ( ein PC von heute ist besser als die ersten Rechner, die der NASA zur Verfügung standen)


    Im zweiten Sinne kann ich im Zusammhang mit musikalischer Interpretation kaum so etwas wie "Fortschritt" erkennen. Der Ausdruck "heute macht man das nicht mehr so" sehe ich weniger als Beweis eines "Fortgeschritts im Sinne der Verbesserung", vielmehr jedoch als den Willen an, mit der Mode gehen zu wollen.
    Es gibt aus meiner Sicht beim Singen einen Fortschritt gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: man macht dieses damals sehr gebräuchliche Portamento kaum noch. Man kann und will es nicht mehr hören und empfindet es als geschmacklos (finde ich auch so).
    Nur beim südländischen Belcanto hat es überleben können - ein Grund mehr, weshalb ich das so ungern höre.


    Ansonsten kann ich nicht erkennen, was nun die heutigen Schubert-Sänger "besser" machen würden. Sie machen bei ihren Winterreisen so manches anders als Fischer-Dieskau, was ja an ihren individuellen Stimmen und Persönlichkeiten liegt, aber auch am allgemeinen Fortschreiten der Zeit.
    Fischer-Dieskau ist hinsichtlich Schubertlied und Winterreise eine singuläre Erscheinung, für die man dankbar sein kann, dass es sie gegeben hat.


    Das alles bleibt auch eine Geschmacksfrage - und über den lässt sich streiten oder auch nicht.


    Das Ziel, die Winterreise mit einem mir bekannten Bariton selbst einmal aufzuführen, habe ich noch nicht ad acta gelegt, auch wenn die üblichen Aufgaben einen ständig davon abhalten wollen.
    Wenigstens "Gute Nacht" habe ich schon im Rahmen einer Schubertiade ganz seriös im Kreise von Fachleuten aufführen können. Es bedeutete mir sehr viel, weil mir diese Musik unglaublich eng am Herzen liegt.
    Die Vorbilder hat man dabei im Ohr, aber bei der konkreten Beschäftigung mit der Musik entsteht dann automatisch immer etwas Eigenes.
    Gut ist, wenn man wirklich weiß, warum man etwas an einer Stelle genau so und nicht anders machen will, auch im Bezug auf die kleineren und größeren Zusammenhänge. Je mehr Zusammenhänge man knüpfen kann, und je besser man das auch technisch umsetzen kann, desto reifer und anhörbarer wird dann der Vortrag.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Da Du mich hier direkt angesprochen hast, lieber Glockenton, möchte ich mich nur kurz auf diese Deine Bemerkung einlassen:
    „…es gibt zwei Arten von Fortschritt. Zum einen das unablässige Fortschreiten der Zeit an sich ( wobei die Beantwortung der Frage "Was ist Zeit" äusserst schwierig ist), zum Anderen der Fortschritt im Sinne von Modernität und Verbesserung ( ein PC von heute ist besser als die ersten Rechner, die der NASA zur Verfügung standen). Im zweiten Sinne kann ich im Zusammenhang mit musikalischer Interpretation kaum so etwas wie "Fortschritt" erkennen. Der Ausdruck "heute macht man das nicht mehr so" sehe ich weniger als Beweis eines "Fortschritts im Sinne der Verbesserung", vielmehr jedoch als den Willen an, mit der Mode gehen zu wollen.“

    Ich versuchte herauszufinden, wo ich in meinen Beiträgen zu diesem Thread das Wort „Fortschritt“ benutzt habe und konnte nicht fündig werden. Zunächst einmal stimme ich Dir völlig darin zu, dass es im Zusammenhang mit musikalischer Interpretation keinen „Fortschritt“ im Sinne eines teleologischen, gleichsam auf einen Idealtypus ausgerichteten Prozesses gibt.


    Aber das ist ja auch nicht der Ansatz, von dem her in diesem Thread der Blick auf neuere Interpretationen der „Winterreise“ gerichtet wird. Es soll nicht gefragt werden: Was machen heutige Interpreten besser als die der „Generation Fischer-Dieskau“ oder die Sänger, die sich davor der Winterreise interpretatorisch gewidmet haben. Vielmehr lautet der Frageansatz:
    Vernimmt man darin eine neue Sicht auf das Werk?
    Können sängerische Interpreten, die der Zeit „Post-Fischer-Dieskau“ angehören, diesem Werk neue Aussagen abgewinnen, - solche sie seinen musikalischen Reichtum in Gestalt neuer Dimensionen erschließen?


    Und das, finde ich, ist nicht nur eine interessante, es ist auch eine sachlich durchaus berechtigte Fragestellung. Und diesbezüglich ist in diesem Thread ja doch, wie ich denke, schon einiges zutage gekommen. Wenn ein Christian Gerhaher die Abfolge der Lieder ganz bewusst nicht „von hinten her“ interpretiert, um den Protagonisten der „Winterreise“ nicht in den Kontext eines „existenzialistischen Eskapismus“ zu bringen, so stellt das einen durchaus neuen interpretatorischen Zugriff auf das Werk dar, der eine Beschäftigung damit lohnt.


    (Bitte - weil Du Dich auf das Mitlesen beschränken möchtest - aus diesem meinem Beitrag keine Verpflichtung zu einer Antwort herleiten! )

  • Wenn du etwa meinst, daß ein Sänger ohne großen vokalen Anspruch, mit schlichter Singfreude, den Spagat zwischen Brendel und, sagen wir, Gilbert Schuchter gewinnen kann, dann solltest du dir die Mühe machen, das für alle nachvollziehbar an der Winterreise zu belegen.

    Aber nein, das wollte ich mit dem »anrührend« keinesfalls sagen. Das war nur ein Aspekt bei der Sache, der für mich aber nicht darüber hinwegtragen konnte, dass ich Streisand als überfordert und ihren Vortrag insgesamt als völlig unzureichend empfunden habe.

  • Hallo Dieter Stockert,
    weil ich Dich gerade hier antreffe - in der Verteidigung Deines Dich-Einlassens auf Barbara Streisand an einem Ort, an dem es um Schuberts Winterreise geht - ... ( manchmal wirklich erheiternd, was man hier so alles erleben kann, - die Streisand ist übrigens Spitzenklasse in ihrem Fach!) ...


    Könntest Du vielleicht (es würde mich freuen!) die Interpretation derselben durch Geraerts/Rémy, die Du hier ja bereits angesprochen hast, in etwas detaillierterer Form vorstellen?
    Dann könnte man nämlich darüber ins Gespräch kommen.
    Wäre von Nutzen für diesen Thread, - und überdies eine schöne Sache!
    (Ist aber nur eine Bitte!)

  • Nun kann ich mich doch eher, als ich dachte, aus der Türkei zu Worte melden. Gleichzeitig bin ich mehr als froh, dass ich mich überhaupt zu Worte melden kann. Denn erstens kam der Floiger heute aus Istanbul mehr als eine halbe Stunde zu spät in Bremen an, so dass wir mit 45 Minuten Verspätung starteten, und zweitens weiß ich nicht, ob ihr euch vortellen könnt, wie das ist, wenn man über einer 17-Millionen-Stadt 35 Ninuten kreist,ohne landen zu dürfen. Und dann ratet mal, in welchem Flugzeug ich saß: Richtig,in einem Airbus A 320. Aber am Flugzeug lag es nicht, und auch nicht an den Piloten, die haben ihren Job toll gemacht haben. Es lag an so etwas Banalem wie dem Wetter und in Folge dessen, dass der Flughafen Istanbul zu war. Aber wir haben alles gut überstanden, und als Ergebnis der vielen Verspätungen habe ich auch noch zur Rush-hour-Zeit in Istanbul eine eineinhalbstündige Stadtrundfahrt genossen und dabei festgestellt, wie fähige Gärtner die Stadt Istanbul hat. Solch ein Meer an höchst fantasievollen und farbenprächtien Bildern, die die Gärtner aus Blumen "gemalt" haben, habe ich noch in keiner Stadt geshen. Nun aber genga davon geredet.

    Zitat

    Dr. Holger Kaletha: So und nun bin ich als flüchtiger Gast schon auch wieder verschwunden...

    Warum denn, lieber Holger? Wenn die persönlichen Differenzen, die ja beigelegt scheinen, nicht mehr im Wege stehen, kann man doch wieder ganz normal miteinander umgehen, oder nicht?

    Zitat

    Glockenton: Kleiner Einschub eines Mitlesers...

    Es ist mir immer wieder ein große Freude, lieber Glockenton, in wie vielen Punkten wire überseinstimmen, so auch hier in Schuberts Winterreise.
    Auch ich halte die Aufnahme von Robert Holl für außerordentlich gut, auch wenn ich hier und jetzt das nicht an Einzelheiten festmachen kann. Aber alleine schon deine Feststellung, dass die die Fülle und die Macht seiner Stimme so gefallen, zeigt, dass wir es hier mit einer Stimme zu tun haben, deren Vorzüge gerade in bestimmten Liedern wie "DAs Wirtshaus" oder "Die Nebensonnen" zur Geltung kommen. Überhaupt muss ein Bass wie eben auch Robert Holl ganz anders an die Sache herangehen wir ein Bariton, der auch die Höhen noch anders gestalten kann oder gar ein Tenor. Robert Holl ahtte ich ja kenngelernt in der 1981er-Aufnahme des Mozart-Requiems unter Harnoncourt kennen- un dschätzen gelernt und ich kenne aus meinen Exempalren in meiner Sammlung keinen Bass, der das besser gesungen hat.
    Auch was du über Alfred Brendel gesagt hast, liegt ganz auf meiner Linie. Er ist halt ein genuiner Schubert-Solopianist und geht aus dieser Position heraus mit einem ganz anderen Verständnis an die gemeinsame Gestaltung heran als ein "gelernter" Liedbegleiter wie Gerald Moore. Das wird auch schön deutlich aus den gemeinsamen Gesprächen von Brendel und Fischer-Dieskau, die auch auf der DVD enthalten sind, die bei der Aufnahme in der Berlinrer Siemens-Villa entstanden ist. Brendel sieht den Klavierpart immer auch aus der Sicht des Solisten, und Fischer-Dieskau ist klug genug, das zu akzeptieren. Aus diesem gegenseitgien Verständnis kann so einer große Aufnahme entstehen, wenngleich Fischer-Dieskaus Stimme zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr auf dem Höhepunkt war.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo,


    der Gedichtzyklus heißt Winterreise (nicht Wintertag); es kann also davon ausgegangen werden, dass sich in den Gedichten (über einen Zeitraum von mehr als 1 Tag) ein/e äußere/r/s Bewegung, Fortgang, Fortschreiten vollzieht. Nur äußerlich? In diesem Zeitraum werden sehr unterschiedliche Situationen durchschritten/erlebt; das geht vom Gedicht 1 bis zu Gedicht 16, zum hier aktuellen Gedicht 17 und dann weiter bis zu Gedicht 24. Ich gehe davon aus – und das erscheint mir als ein natürlicher Vorgang - der Winterreisende vollzieht nicht nur einen zeitlichen, räumlichen Fortgang, sondern auch eine innerliche, seelische, psychische Bewegung.


    Was an Müllers Dichtung auffällt ist ihr „dokumentarischer“ Charakter. Relativ emotionslos nüchtern, quasi „objektiv“, beschreibt das Subjekt seine Situation, in der es sich befindet. Wir erfahren lediglich in der letzten Strophe, dass ihm die Abweisung durch die Welt nicht viel bedeutet – er ihr mit selbstbewusster Gleichgültigkeit begegnet. Das ist aber im Grunde ziemlich wenig. Welche konkreten „Gefühle“ er dabei hat – ob er etwa unter der Situation leidet – darüber schweigt sich diese Dichtung komplett aus. Die „Empfindsamkeit“, die man eigentlich von Lyrik erwartet, wird also im Grunde so gut wie ausgespart.


    Genau das – Gefühl und Empfindung zu zeigen – ist es aber, was man von der Musik erwartet. Hintergrund für die Romantik ist die Gefühlskultur der Empfindsamkeit – in der Sprache der Zeit ausgedrückt will man „Rührung“ empfinden. Musik soll also vor allem „das Herz rühren“, sonst wird sie als ausdrucksleer empfunden.


    In den Zitaten wird Müller unterstellt, dass er „Im Dorf“ die Gefühlsebene außen vor lässt, er quasi ein Hauptwesensmerkmal der Romantik, die Gefühlskultur der Empfindsamkeit, übergeht, er rührt weder das Herz noch erzeugt er Rührung beim Leser. (Meine Folgerung aus den Zitaten: Er macht als Dichter der Romantik einen ganz entscheidenden Fehler – ist er also ein mit großen Fehlstellen in der romantischen Dichtung behafteter Schreiber?).


    Wird „Im Dorf“ als Bestandteil des Gedichtzyklus verstanden, kann sich ein ganz andere Sichtweise ergeben: Die seelischen Erschütterungen gehen so tief, dass dann für Gefühle kein Platz mehr ist, der Winterreisende zeitlich begrenzt gefühllos wird/ist, zugleich wird aber der Blick für die Realität geschärft; m. E. genau diesen Zustand drückt Müller „Im Dorf“ aus.


    Was das für Schuberts Vertonung bedeutet, darauf gehe ich nun jetzt nicht ein (siehe Beitrag Nr. 84)




    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich versuchte herauszufinden, wo ich in meinen Beiträgen zu diesem Thread das Wort „Fortschritt“ benutzt habe und konnte nicht fündig werden.


    Hier:



    Zitat von »Helmut Hofmann«
    Wobei es methodisch vielleicht sinnvoll wäre, die jeweilige Interpretation durch Fischer-Dieskau als Bezugsgröße zu nehmen und dann der Frage nachzugehen, welche anderen Akzente die jüngeren Interpreten setzen, worin sie den Protagonisten dieser „Winterreise“ gleichsam neu sehen, und ob sie – das ist freilich eine heikle Frage, der nicht unbedingt zwingend nachgegangen werden muss – sich darin als Angehörige einer fortgeschrittenen historischen Zeit zu erkennen geben.



    Da habe ich mich gefragt, ob Du den Fortschritt im Sinne eines "heute sind wir da weiter...." meinst, oder eben den normalen, natürlichen Fortschritt der Zeit im Sinne von "die Zeit vergeht".


    Nun hast Du diese Frage durch eine Präzisierung Deiner ursprünglichen Fragestellung beantwortet:


    Vernimmt man darin eine neue Sicht auf das Werk?


    Mit Verweis auf meinen Beitrag oben meine ich diese Frage durchaus mit Ja beantworten zu können.


    Können sängerische Interpreten, die der Zeit „Post-Fischer-Dieskau“ angehören, diesem Werk neue Aussagen abgewinnen, - solche sie seinen musikalischen Reichtum in Gestalt neuer Dimensionen erschließen?


    Es ist anders, manchmal auch facettenärmer........Also wenn es um "neue Dimensionen" gehen soll, dann sage ich, ausgehend von dem, was ich kenne, eher nein.


    Natürlich muss man gerade als Sänger, aber auch allgemein als Musiker, Sachen auf seine Art und Weise immer wieder neu machen. Musik muss musiziert werden, damit sie Teil unseres Lebens bleibt. Es gibt nun manchmal derart herausragende Interpretationen, dass man direkt nach dem Anhören meint, dass es sich nicht mehr lohnt, eine neue Aufnahme/Aufführung des Werkes in Angriff zu nehmen. Dem ist natürlich nicht so, denn ein Kunstwerk ist wie ein riesiger dunkler Berg, den ein Künstler meistens nur teilweise beleuchten kann. Es bleiben zum Glück immer noch Aspekte für nachfolgende Interpreten übrig.


    Von vielen wichtigen Werken besitze ich eine ganze Menge an Einspielungen, etwa Beethovens Symphonien, der Messe h-moll.........
    Den Käufen ging immer ein vorheriges Hören voraus, um sicherzustellen, dass eine weitere Einspielung mir einen Zugewinn an Freude und Erkenntnis bringt. Bei den neueren Winterreisen (post Fischer-Dieskau) ging ich genauso vor, kam aber bisher einfach nicht zu einem Kaufentschluss, sondern beließ es beim Ausleihen oder dem Online-Hören /TV etc.


    Der Hauptgrund war und ist für mich der, den ich oben schon beschrieb:

    Es ist immer noch so, dass er uns nun ein (schaurig) schönes Kunstlied vorträgt, aber nicht selbst zum Wanderer wird.


    Es fragt sich, was man von der Ästhetik her hören will. Will ich einen schönen Kunstliedvortrag, sozusagen mit eingebauten Anführungszeichen genießen, oder soll das Erlebnis über diese Situation, dass da ein Sänger mit dem Pianisten mir einen gepflegten Kunstvortrag bietet, hinausgehen? Durch die textliche Identifikation des Sängers mit dem Wanderer identifiziere ich mich dann mit den Empfindungen, mit dem Leid des Wanderers. Ich werde im Inneren berührt, weil ich beim Zuhören unter dem Eindruck stehe, dass mein Ich und die leidende Seele des Wanderers miteinander geradezu verschmelzen. Obwohl mir die Musik mit all ihren hier oft überraschenden Mitteln und Wendungen bewusst ist, vergesse ich manchmal, dass ich überhaupt einem musikalischen Vortrag lausche, sondern bin mitten in der Situation des Wanderers drin. Bei einer reinen Lesung wäre das jedoch nie der Fall, was für die Kraft der Musik spricht. Meiner musikästhetischen Ansicht nach ist es das, was Schubert eigentlich bewirken wollte, denn es ist ja wohl so, dass er sich wohl selbst recht stark mit der Figur des Wanderers identifizierte.
    Für mein Empfinden vermisse ich dieses hohe Maß der auf den Hörer überspringenden Identifikation mehr oder weniger bei den Sängern der Generation "Post-Fischer-Dieskau".
    Weil es ja auch Zeitgenossen gibt, die Fischer-Dieskaus Art als "artifiziell" oder so etwas ablehnen, betone ich extra " für mein Empfinden".


    Es ist mir immer wieder ein große Freude, lieber Glockenton, in wie vielen Punkten wir übereinstimmen, so auch hier in Schuberts Winterreise.


    Dito!!


    Ich freue mich auch ausserordentlich über Deine zutreffenden Aussagen zu Robert Holl und zum Pianisten Alfred Brendel.


    Auch was du über Alfred Brendel gesagt hast, liegt ganz auf meiner Linie. Er ist halt ein genuiner Schubert-Solopianist und geht aus dieser Position heraus mit einem ganz anderen Verständnis an die gemeinsame Gestaltung heran als ein "gelernter" Liedbegleiter wie.....


    Ja eben - ganz genau!
    Ich höre diese Musik ja wie gesagt als Ganzes, d.h. die Gesangslinie ist "nur" ein herausgehobener Teil der musikalisch gesehen ebenso wichtigen, weil Zusammenhang und Bedeutung stiftenden Klavierstimme. Wie auch beim Schwanengesang stelle ich auch bei der Winterreise fest, dass ich oft das Gesamtergebnis Fischer-Dieskau/Brendel anderen, sicherlich auch sehr guten Einspielungen Fischer-Dieskaus vorziehe, selbst wenn der Sänger in früheren Jahren rein stimmtechnisch noch etwas frischer war. Es kommt sehr auf den Pianisten an! Die Musik ist hier nicht nur so ein leider notwendiger Background für den eigentlich wichtigen Sänger, der sich darüber produzieren will. Es gibt solche Musik, aber das trifft absolut nicht auf Schubert zu,
    Den stimmlichen Herbst glich Fischer-Dieskau in seinen Spätaufnahmen aber durch einen musikalisch-rhetorisch noch reiferen und eindrücklicheren Vortrag bestens aus, d.h. ich vermisse da bei diesen späten Aufnahmen des Sängers wirklich nichts. Wenn man vor allem strahlende Stimmen genießen will, dann gäbe es womöglich eh geeignetere Musik als ausgerechnet Schubertlieder...


    Gruß aus Norwegen in die Türkei (und wo Ihr sonstwo sitzen mögt, auch nach Ostwestphalen ;) )


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Glockenton spricht mir in vielem aus dem Herzen. Auch in meinen Ohren bleiben viele Interpreten dem poetischen Gehalt manches schuldig.


    Was nun Fischer-Dieskau betrifft, so liegen von ihm ja auch recht unterschiedliche Ansätze vor. Mit Gerald Moore 1955 läßt er die "Wetterfahne" mit einem verhalten empörten Ton einsetzen, um die Wut dann, vielleicht notengerecht, beim "sie pfiff" usw. voll ausbrechen zu lassen. Mit Billing z.B. klingt Dieskau anfangs weicher und ängstlicher, vielleicht hilfloser. Mit Brendel, man verzeihe mir, kann ich die hier vielgerühmte Homogenität nicht erkennen - allderdings bin ich auf die Amazonschnipsel angewiesen, ich besitze diese Aufnahme mit.


    Ich schätze sehr Hermann Prey, auch in der Engel-Aufnahme. Wenn man sich die Passage:


    Er hätt´ es eher bemerken sollen,
    des Hauses aufgestecktes Schild,
    so hätt´ er nimmer suchen wollen
    im Haus ein treues Frauenbild


    herausgreift, so legt Prey hier ein ausgedehntes crescendo an. Die Klavierbegleitung hat ja etwas walzerhaftes (bei Mahler wäre das ein Totentanz). Die pianistische Rhetorik des Begleitmotivs zu den zitierten Versen läßt sich bis zu Mozart zurückverfolgen als mocking phrase (Holzbläser, z.B. Finale 2. Akt Figaro). Daraus darf man schließen, daß das "Auspfeifen" der Wetterfahne nicht im forte auf "pfiff" gemalt wird, sondern sich aus der Szene danach entwickelt.


    Ich glaube, daß sich das bösartige Timing dieser zweiten Strophe nirgends so gut realisiert findet wie bei Prey und Engel, wo Klavier und Stimme gleichsam Kopf an Kopf ihre Jagd austragen.


    Geschenkt, daß Prégardien davon nichts hören läßt. Das von ihm und Staier gewählte Tempo ist fast doppelt so schnell wie bei Engel (oder Moore oder gar Sawallisch). Prégardien hat keine Mühe mit diesem Tempo, seine Stimme ist ungemein beweglich. Aber es gibt keine differenzierte Emotionalität oder Entwicklung. Deswegen kann ich hier, beim besten Willen, auch keinen "Winterreisenden" vernehmen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Warum denn, lieber Holger? Wenn die persönlichen Differenzen, die ja beigelegt scheinen, nicht mehr im Wege stehen, kann man doch wieder ganz normal miteinander umgehen, oder nicht?

    Lieber Willi,


    genieße Deine Türkei-Reise! Und an diese Airbus-Flieger denken wir lieber nicht - ich muß mit den im Spätsommer auch mit so einer Kiste abheben! :thumbsup: Helmut möchte - dies ist seiner Antwort unten zu entnehmen - keine Metareflexionen über Interpretation. Unsere Bemühungen um Beethoven zeigen finde ich, das beides sehr gut zusammengeht, aber er hat hier offenbar eine andere Auffassung. Da es sein Thread ist, werde ich mich deshalb hier zurückhalten. Wenn es unvereinbare Vorstellungen über die Diskussion über Musik/Interpretation gibt, muß man eben damit leben. Der Threadstarter darf die Regeln festlegen, wie diskutiert wird. Und die sind mir zu eng - so will und kann ich nicht über Musik reden.


    Viel Spaß in der Türkei jedenfalls - ich bin im Moment dabei, meine Anlage auszuprobieren, gleich kommen die jbl-Boxen dran! :hello:


    Aber in der Sache habe ich nichts zurückzunehmen: Dieser Thread soll sich nicht um die Interpretation der Wintereise oder einzelner Lieder drehen - und das tat er über eine lange Strecke -, sondern um die Vorstellung neuer Aufnahmen derselben und die reflexive Auseinandersetzung damit.


    In den Zitaten wird Müller unterstellt, dass er „Im Dorf“ die Gefühlsebene außen vor lässt, er quasi ein Hauptwesensmerkmal der Romantik, die Gefühlskultur der Empfindsamkeit, übergeht, er rührt weder das Herz noch erzeugt er Rührung beim Leser. (Meine Folgerung aus den Zitaten: Er macht als Dichter der Romantik einen ganz entscheidenden Fehler – ist er also ein mit großen Fehlstellen in der romantischen Dichtung behafteter Schreiber?).

    Lieber Horst,


    das sind alles sehr wichtige und zentrale Fragen, die Du aufwirfst. Ich werde gleich einen eigenen Thread eröffnen, wo es primär um die Diskussion dieser Ebene gehen soll. Da werde ich Dir ausführlich antworten! Dann fühlt sich hier niemand gestört von lästigen (und ach so nichtsnutzigen, geschwätzigen oder arrogant-gelehrigen) "philosophischen" Fragen. (Und ich bin in der Tat schwer verärgert, weil ich partout keine Lust mehr habe, ständig auf solche Polemiken ad hominem reagieren zu müssen. Für Negatives habe ich keine Lust, meine geistigen Energien zu verschwenden. Also schaffen wir uns einen eigenen Raum für solche Diskussionen, wenn es nicht anders geht.) Jedem das Seine - eben auch jedem sein Thread, den er haben will! In so einen Forum ist für alle Platz - jeder geht dann halt zu seinem Marktstand, den er besonders mag und läßt die anderen links liegen. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit. Glockenton: "Für mein Empfinden vermisse ich dieses hohe Maß der auf den Hörer überspringenden Identifikation mehr oder weniger bei den Sängern der Generation "Post-Fischer-Dieskau". Farinelli sprach in diesem Zusammenhang oben einmal von der "Entemotionalisierung" und fügt in seinem neuen Beitrag hinzu: "Auch in meinen Ohren bleiben viele Interpreten dem poetischen Gehalt manches schuldig."


    Ich bin mir nicht sicher, ob man das in dieser Form verallgemeinernd feststellen kann. Diese Tendenz zur "Entemotionalisierung" scheint es wirklich zu geben. Aber es finden sich - nach meinen bisherigen Hör-Recherchen - auch Gegenbeispiele. Es käme eben darauf an, dies anhand einzelner Beispiele tatsächlich in sorgfältiger und möglichst ins Detail gehender Untersuchung nachzuweisen.
    Eben das soll ja Sinn und Zweck dieses Threads sein. Und wenn ich diesen in einem meiner vorangehenden Beiträge reklamiert habe, dann nicht, weil ich etwas gegen "Metareflexion über Interpretation" hätte - ich habe hier gar nichts gegen etwas zu haben, das nebenbei! - , sondern weil mir die Zielsetzung dieses Threads am Herze liegt (vielleicht sollte ich besser "lag" sagen).


    Um es noch einmal ganz deutlich und klar zu sagen:
    "Metareflexion" ist notwendiger Bestandteil dieses Threads. Aber sie bringt für ihn nur etwas, wenn sie am konkreten Sachverhalt ansetzt, einem Lied in der Interpretation durch einen der neuen Interpreten der "Winterreise" also. Sie bringt - für diesen Thread!!! - wenig, wenn sie sich auf allgemein-abstrakter Ebene bewegt und dort verbleibt.

  • Ich möchte Dich, Helmut Hofmann, ganz konkret bitten, kurz meinen obigen Beitrag aus Deiner Sicht zu kommentieren, soweit Dir dies für den Thread relevant erscheint. Wenn ich an einer sachbezogenen Antwort nicht interessiert wäre, hätte ich diesen Beitrag nicht zu schreiben brauchen. Ich sehe mich außerdem durchaus imstande, auch bezüglich der anderen Lieder Aussagen zu treffen zu meinen vier Einspielungen der Winterreise oder hier formulierte zu kommentieren, möchte dies aber auf keinen Fall initiierend tun - was vermutlich auch in Deinem Sinne sein dürfte.


    Hier nochmals die Nummer des Beitrags (die technische Fähigkeit, diesen "sprechend" als Link zu überschreiben, geht mir leider ab): 90.

    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Könntest Du vielleicht (es würde mich freuen!) die Interpretation derselben durch Geraerts/Rémy, die Du hier ja bereits angesprochen hast, in etwas detaillierterer Form vorstellen?

    Ja, es wäre eine schöne Sache, wenn ich das könnte. Da ich aber von Musik eigentlich »nichts verstehe« – ich kann ja nicht einmal Noten lesen, ich kann Musik nur hörend aufnehmen und empfinden –, tue ich mich da schwer. Dazu kommt, dass meine freie Zeit begrenzt ist und gerade jetzt allerhand nebenbei anliegt. Außerdem kenne ich ich nur die beiden Einspielungen von Geraerts / Rémy und Prégardien / Staier (gibt es noch andere Einspielungen mit Hammerklavier – ich kaufe mir Musik dieser Zeit ja nur in »authentischen« Aufnahmen?). Wie wäre ich also qualifiziert, dazu mehr zu schreiben als die persönlichen Eindrücke eines Laien? Ist es nicht schon gewagt, wenn ich mich zu dem, was kompetentere Leute hier schreiben, überhaupt äußere? Ich mache es ja auch nur punktuell ...


    Aber ich habe mir heute nach langer Zeit wieder einmal die Winterreise von Geraerts / Rémy angehört, und danach dann, über YouTube, »Im Dorfe« und den »Lindenbaum« von Fischer-Dieskau und Brendel, die ich auf die Schnelle gefunden habe. Überrascht war ich, dass mich der moderne Flügel eigentlich nicht gestört hat. Und bei »Im Dorfe« fand ich im ersten Moment beeindruckend, was Fischer-Dieskau daraus gemacht hat. Aber beim »Lindenbaum« bin ich dann regelrecht erschrocken. Nach Geraerts kam mir das nur noch übertrieben vor. Da konnte ich allenfalls den kunstvollen Vortrag »bewundern«, aber nicht mehr mitempfinden. (Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, hat es mich, zumindest so kurz nach der kompletten Winterreise von Geraerts, und vielleicht auch etwas zugespitzt gesagt, eher abgestoßen. – Bevor ich jetzt im Geiste gesteinigt werde: Ich will damit in keiner Weise provozieren, ich sage nur, wie es mir dabei geht, aber ich habe ja gesagt, ich kann dazu nichts Kompetentes schreiben!)

  • Lieber Dieter Stockert,


    eben will ich meine Antwort an WlfgangZ hier einstellen, da lese ich Deinen Beitrag. Bitte einen Augenblick Geduld, ich werde Dir alsbald antworten.
    Jetzt muss ich das erst einmal bei WolfgangZ tun.

  • Zit: "Ich möchte Dich ... ganz konkret bitten, kurz meinen obigen Beitrag aus Deiner Sicht zu kommentieren,..."


    Das tue ich sehr gerne, lieber WolfgangZ. Aber zunächst einmal zu Deiner Bemerkung:
    „Ich sehe mich außerdem durchaus imstande, auch bezüglich der anderen Lieder Aussagen zu treffen zu meinen vier Einspielungen der Winterreise oder hier formulierte zu kommentieren, möchte dies aber auf keinen Fall initiierend tun - was vermutlich auch in Deinem Sinne sein dürfte.“
    Aber nein! Das ist nicht in meinem Sinne! Ich würde mich sehr freuen, wenn Du das „initiierend“ tun würdest, denn das wäre ganz sicher ein Gewinn für diesen Thread. Er hat das ja zum Ziel, und ich bin für jede Vorstellung einer Aufnahme froh und dankbar, die ich nicht selbst machen muss.


    Ich verstehe das Lied „Im Dorfe“ genau so, wie Du das in Beitrag 90 dargestellt hast, - ausgehend von dem Begriff des „Unbehaustseins“. Ich hatte die Winterreise hier einmal als „Stationenzyklus“ bezeichnet: Der aus der bürgerlichen Welt Vertriebene – so sieht sich das Protagonist ja – durchwandert eine menschenfeindliche Winterlandschaft und macht an verschiedenen Stationen derselben Erfahrungen existenzieller Unbehaustheit, die er monologisch artikuliert. In der Summe laufen sie in diesem Zyklus Schuberts auf die lyrisch-musikalische Evokation einer existenziellen Grenzsituation hinaus.


    Hier, in „Im Dorfe“, geht es um die Begegnung des wesenhaft einsamen Wanderers mit einer in nächtlichem Schlaf ruhenden kleinen – dörflichen – Welt, die Müller mit nur wenigen lyrischen Strichen zeichnet (so etwas kann er sehr gut!). Drei Sätze, bzw. Satzteile sind syntaktisch gleich gebaut, - werden mit dem sachlichen „Es“ eingeleitet. Man muss dabei bedenken, dass diese Verse ja vom Wanderer gesprochen sind. Er also verfällt in diesen sachlich-lakonischen Stil, - worin sich die Distanz, die Ferne ausdrückt, in der er diese Welt erlebt. Übrigens: Die liedkompositorische Größe Schubert zeigt sich darin, wie er diesen lyrisch lakonischen Stil in Musik umsetzt: Im, ebenfalls musikalisch-lakonisch daherkommenden, stereotypen Auf und Ab der melodischen Linie am Anfang nämlich.


    Die Hunde und ihre rasselnden Ketten haben als lyrisches Bild in diesem Gedicht eine gleichsam evokative Funktion: Sie lassen im Wanderer imaginativ eine Welt erstehen, aus der sich ausgeschlossen fühlt. Es ist eine, die er zwar nicht realiter erfährt, die er aber durchaus als nächtlich-dörfliche Realwelt innerlich imaginiert. Die Bilder der beiden ersten Strophen skizzieren lyrisch eine Welt – wenn man so will: ein „Milieu“ – , die der monologisch in seiner Innenwelt versunkene Protagonist in die Außenwelt als quasi reale Form individuell menschlichen und gesellschaftlichen Lebens projiziert, - im Wissen darum, dass sie ihm ein für allemal verschlossen, unzugänglich bleiben wird. In diesem Akt der Imagination ereignet also letzten Endes die – diesen Menschen existenziell erschütternde – Erfahrung gesellschaftlicher Exorbitanz.


    Wenn Du also in Deinem Beitrag in der Auseinandersetzung mit Dr. Holger Kaletha feststellst: „es sind die autarken, stärker als in der Stadt auf sich gestellten Landmenschen. Der sich autark gebärdende und in dieser Autarkie innerlich bedrohte Wanderer wurde doch gerade aus der Stadt ausgeschlossen. Wenn das "Milieuhafte ins Allgemeinmenschliche" transponiert wird - richtig -, dann wird doch damit dieses "Milieuhafte" in einem dialektischen Sinne nicht, zumindest nicht primär aus dem Blickfeld gerückt, sondern eben überhöht“, so würde ich Dir darin voll zustimmen. Wenn Dr. Kaletha feststellt: „So geht es hier gerade nicht um die bekannte romantische Begeisterung für das Landleben - die gibt es anderswo, aber nicht hier“, so läuft das argumentativ buchstäblich ins Leere. Wer hat denn behauptet, es ginge hier um den romantischen Entwurf idyllischen Landlebens? Das wäre doch völlig abwegig!


    (Sollte ich mit diesen Ausführungen Deinen Erwartungen nicht entsprochen haben, so lass es mich bitte wissen. Ich mache sehr gerne einen neuen Versuch!)

  • Du fragst (Dich und mich), lieber Dieter Stockert:
    „Wie wäre ich also qualifiziert, dazu mehr zu schreiben als die persönlichen Eindrücke eines Laien? Ist es nicht schon gewagt, wenn ich mich überhaupt zu dem, was kompetentere Leute hier schreiben, überhaupt äußere? Ich mache es ja auch nur punktuell“.


    Dazu kann ich nur sagen: Ich kann, im Unterschied zu Dir, zwar Noten lesen, das aber im Grunde wie ein Drittklässler, nämlich mit dem Finger buchstabierend. Einen Dominantseptakkord zum Beispiel vermag ich nicht auf Anhieb als solchen zu identifizieren. Ich bin also ein Laie wie Du.
    Und im übrigen: Es geht hier doch um nicht mehr – und nicht weniger! - , als eben um die, wie Du sagst, „Wiedergabe des persönlichen Eindrucks“ beim Hören von Musik, - und, so füge ich hinzu, um das In-Worte-Fassen dessen, was einem dabei an Gedanken und Gefühlen in den Sinn kommt.


    Und Du lieferst hier ja doch eigentlich selbst den Beweis dafür, dass Du sehr wohl in diesem Sinne „kompetent“ bist (ich benutze Dein Wort): In dem nämlich, was Du zu Deinen Hörerfahrungen bezüglich des Liedes „Der Lindenbaum“ hier schreibst. Das finde ich hochinteressant!
    Denn ich lese daraus etwas über die spezifische Art von gesanglicher Liedinterpretation durch Harry Geraerts, so wie Du sie im Vergleich mit Fischer-Dieskau wahrgenommen hast.


    Darf ich Dir einen Vorschlag machen?
    Ich kenne diese Interpretation noch nicht, kann mich aber, weil Du es mir – wofür ich Dir sehr danke – möglich gemacht hast, in sie einhören. Ich gebe demnächst einfach mal wieder, welchen Eindruck ich dabei gewonnen habe. Und Du teilst uns hier dann mit, ob der sich mit dem Deinigen deckt und worin dieser möglicherweise von dem Meinigen abweicht.


    Das alles wäre dann, so male ich mir aus, ein weiterer Beitrag zu dem, worum es in diesem Thread ja doch im Grunde geht. Und zwar ein substantiell relevanter, - keiner, der sich in abstrakter, will sagen: von der Ebene der konkreten gesanglichen Liedinterpretation abhebender und nicht auf sie Bezug nehmender, „Metareflexion“ ergeht.

  • Danke, Helmut, für Deine freundliche Antwort! Ich werde mich bei Gelegenheit wieder melden - dann im Kontext eines der anderen Lieder..


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich bin also ein Laie wie Du.
    Und im übrigen: Es geht hier doch um nicht mehr – und nicht weniger! - , als eben um die, wie Du sagst, „Wiedergabe des persönlichen Eindrucks“ beim Hören von Musik
    [...]
    Das alles wäre dann, so male ich mir aus, ein weiterer Beitrag zu dem, worum es in diesem Thread ja doch im Grunde geht. Und zwar ein substantiell relevanter, - keiner, der sich in abstrakter, will sagen: von der Ebene der konkreten gesanglichen Liedinterpretation abhebender und nicht auf sie Bezug nehmender, „Metareflexion“ ergeht.

    Danke für Deine ermunternden Worte, auch wenn ich Dir bezüglich meiner wie weit auch immer vorhandenen oder eingeschränkten Kompetenz nur zu einem kleinen Teil recht geben mag. Aber gar nicht einverstanden bin ich mit dem, was Du im letzten Absatz schreibst. Ich sehe das, was Holger beiträgt, als sehr wohl Bezug nehmend auf die konkrete gesangliche Liedinterpretation. Das ist zwar eine andere Ebene und noch dazu in einer Sprache, die mir nicht sehr geläufig ist, aber doch nicht unverständlich. Ohne diese Art der Reflexion würde etwas Essenzielles fehlen. Und nicht zuletzt kann das ja auch manchmal ein Korrektiv sein (wie wörtlich darf man die ländliche Umgebung bei »Im Dorfe« nehmen usw.). Holger hat im Eröffnungsbeitrag zu seiner Winterreise-Diskussion heute Nachmittag ja wunderbare Sachen geschrieben. Ich kann das nicht, und ich kann auch nicht das, was Du in Deinen Beschreibungen der verschiedenen Interpretationen leistest. Ich bin aber sehr froh darüber, dass ich beides lesen darf.

  • "Ich bin aber sehr froh darüber, dass ich beides lesen darf."
    Und diese Freude möchte ich Dir auf keinen Fall missgönnen, - oder sie Dir gar mit meinen Beiträgen hier vermiesen. Tut mir leid, was ich da im Anhang zu meinem letzten Beitrag meinte anmerken zu müssen. Es ist mir aber wirklich ein Problem! Dies deshalb, weil es aus meiner Sicht ein allgemeines, ein sachlich-objektives ist.


    Sei´s drum!
    Ich denke, wir könnten, jenseits dessen, sehr wohl in dem Sinne, wie ich mir das ausgemalt hatte, über die von Dir hier in die Diskussion gebrachte Interpretation der "Winterreise" durch Harry Geraerts ins Gespräch kommen.
    Ich würde mich wirklich freuen darauf.

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  • Dass Helmut Deutsch – um es mal ein wenig salopp zu formulieren – seine Sache gut machen würde, war für den, der sich dieser Aufnahme erstmals erwartungsvoll zuwandte, eigentlich zu erwarten. Und er sah sich bestätigt. Zwar kann man die für die musikalische Aussage dieses Liedes so konstitutive Sechzehntel-Figur im Klavierbass ein wenig härter artikulieren und schroffer abreißen lassen, als Deutsch das tut, aber das liegt durchaus im Ermessen des Interpreten. Die Zwischenspiele erklingen bei ihm sehr wohl so, wie Schubert sich das wohl gedacht hat: Die vor der zweiten Strophe im tiefen Bass repetierenden Sechzehntel lässt er zum Beispiel in klanglich faszinierender Weise in die mit leichter rhythmischer Verzögerung einsetzende und in einem Crescendo sich entfaltende Staccato-Folge des „D“ im Diskant übergehen.


    Aber eigentlich richteten sich die Erwartungen auf Jonas Kaufmann. Und da nun bot sich ein anderes Bild. Um es gleich vorweg auf einen Nenner zu bringen: Das Bemühen um eine Wiedergabe des Notentextes, die dessen Faktur, seiner musikalischen Aussage und also dem Geist der Komposition gerecht wird, ist durchaus vernehmlich. Allein, es mangelt an den stimmlichen Voraussetzungen dafür. Nicht dass die Stimme nicht voll und schön klinge; das tut sie durchaus. Sie wirkt aber – auf mich jedenfalls – zu wenig flexibel, geschmeidig, beweglich, um den deklamatorischen Anforderungen der melodischen Linie voll gerecht zu werden. Irgendwie wirkt das alles, was man da vernimmt, wie deklamatorisch ein wenig zu grob gestrickt. Dies jedenfalls auf dem Hintergrund all der anderen Aufnahmen, die man von bedeutenden sängerischen Interpreten dieses Zyklus kennt.


    Diese Vorab-Feststellung bedarf aber einer angemessenen Konkretion, um glaubhaft sein zu können. Was ich mit dem stimmlich-deklamatorischen Defizit meine, kann man gleich am Liedanfang vernehmen. Das Auf und Ab der melodischen Linie ereignet sich bei Jonas auf eigenartige Weise schwerfällig: Die melodischen Sprung- und Fallbewegungen werden wie leicht schleppend deklamiert. Die U-Vokale in den Worten „tun“ und „Guten“ erklingen nicht frei, wirken sonderbar gepresst. Zwar lässt er die melodische Linie auf den Worten „Und morgen früh ist alles zerflossen“ auf beeindruckend ruhige Weise absinken, dann aber verleiht er – wie das das so gerne gemacht wird – bei dem Wort „zerflossen“ jeder Silbe einen eigenen Akzent und lässt die Stimme dabei zerbrechen.


    Es ist übrigens recht verwunderlich, dass dabei oft nicht beachtet wird, das der Sekundfall beim Übergang von der ersten zur zweiten Silbe erfolgen muss: Auf der zweiten und der dritten Silbe liegt derselbe Ton, ein „D“ nämlich. Ma könnte denken, es sei Erbsenzählerei, wenn auf diesen Sachverhalt hinweist. Ist es aber nicht. Schubert wollte ganz offensichtlich, dass dieses Wort im Ausklingen der melodischen Linie gleichsam ruhig konstatierend, nicht affektiv akzentuiert deklamiert wird, - wie zum Beispiel Jonas Kaufmann das hier macht.


    Man kann ihm aber nicht vorhalten, dass er seine Liedinterpretation durchweg mit deklamatorisch-affektiven Elementen überlädt. Das doppelte „je nun“ am Anfang der zweiten Strophe kommt bei ihm recht flott, ohne jegliche Bedeutungsschwere. Und das gilt für die ganze melodische Linie der zweiten Strophe. Das Word „genossen“ deklamiert er ebenso kurz angebunden, und dem Wort „hoffen“ verleiht er bei der Wiederholung genau der leicht gesteigert Akzent, den Schubert durch die Verkürzung der Fallbewegung um eine Sekunde doch wohl haben wollte. Bei dem Wort „Kissen“ deklamiert er aber – wie bei „zerflossen“ - wieder so, dass man die zwei gleichen Töne auf den Silben nicht vernimmt.


    Bei der letzten Strophe meidet er große deklamatorische Expressivität, lässt die melodische Linie also im Sinne eines monologischen Sich-Bewusstwerdens der existenziellen Befindlichkeit des lyrischen Ichs erklingen. Der appellative Charakter des „Bellt mich nur fort…“ wird nicht sonderlich herausgehoben. Die Tatsache, dass die Stimme wieder recht schwer wirkt, stört hier weniger als am Liedanfang: Er nimmt sie stark ins Piano zurück, und überdies vermittelt gerade dieses Timbre der Stimme – mir jedenfalls – den Eindruck, dass dieses lyrische Ich unter eben dieser Selbsterkenntnis leidet. Im Einsatz auf dem hohen „D“ bei den Worten „Lasst mich nicht ruhn“ verstärkt sich dieser Eindruck dadurch, dass er mit etwas gepresster Stimme erfolgt.


    Das „Ich bin zu Ende“ wird in dem verhaltenen Ton deklamiert, in dem die Strophe einsetzt: Eine Zurücknahme der Stimme ins Pianissimo erfolgt nicht. Hier empfindet man das noch nicht als Manko der Interpretation, wohl aber bei der Wiederholung dieser Worte. Hier ignoriert er die Auswirkungen, die die harmonische Rückung auf die Deklamation der melodischen Linie haben muss. Er setzt die Melodiezeile bei dem Wort „Ende“ in dem deklamatorischen Gestus fort, wie er sie angefangen hat.

  • Zit.:


    Das ist ja, was ich hier kritisiert habe, - möglicherweise mit etwas deftigen und unangemessenen Worte (was ich bedauere). Aber in der Sache habe ich nichts zurückzunehmen: Dieser Thread soll sich nicht um die Interpretation der Wintereise oder einzelner Lieder drehen - und das tat er über eine lange Strecke -, sondern um die Vorstellung neuer Aufnahmen derselben und die reflexive Auseinandersetzung damit.
    Ist es so falsch, wenn man das reklamiert (als derjenige, der den Thread gestartet hat)?


    Zit.:


    Hier, in „Im Dorfe“, geht es um die Begegnung des wesenhaft einsamen Wanderers mit einer in nächtlichem Schlaf ruhenden kleinen – dörflichen – Welt, die Müller mit nur wenigen lyrischen Strichen zeichnet (so etwas kann er sehr gut!). Drei Sätze, bzw. Satzteile sind syntaktisch gleich gebaut, - werden mit dem sachlichen „Es“ eingeleitet. Man muss dabei bedenken, dass diese Verse ja vom Wanderer gesprochen sind. Er also verfällt in diesen sachlich-lakonischen Stil, - worin sich die Distanz, die Ferne ausdrückt, in der er diese Welt erlebt. Übrigens: Die liedkompositorische Größe Schubert zeigt sich darin, wie er diesen lyrisch lakonischen Stil in Musik umsetzt: Im, ebenfalls musikalisch-lakonisch daherkommenden, stereotypen Auf und Ab der melodischen Linie am Anfang nämlich.


    Die Hunde und ihre rasselnden Ketten haben als lyrisches Bild in diesem Gedicht eine gleichsam evokative Funktion: Sie lassen im Wanderer imaginativ eine Welt erstehen, aus der sich ausgeschlossen fühlt. Es ist eine, die er zwar nicht realiter erfährt, die er aber durchaus als nächtlich-dörfliche Realwelt innerlich imaginiert. Die Bilder der beiden ersten Strophen skizzieren lyrisch eine Welt – wenn man so will: ein „Milieu“ – , die der monologisch in seiner Innenwelt versunkene Protagonist in die Außenwelt als quasi reale Form individuell menschlichen und gesellschaftlichen Lebens projiziert, - im Wissen darum, dass sie ihm ein für allemal verschlossen, unzugänglich bleiben wird. In diesem Akt der Imagination ereignet also letzten Endes die – diesen Menschen existenziell erschütternde – Erfahrung gesellschaftlicher Exorbitanz.


    Gottseidank fordert das theoretische Interesse gegen alle selbstauferlegten diskursiven Zwänge ihr gutes Recht!


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ach farinelli! Bitte nicht schon wieder! Langsam schlägt´s einem aufs Gemüt. Dieses "Recht" habe ich doch nie bestritten. Ganz im Gegenteil. Noch auf dieser Seite des Threads kannst Du lesen:


    Zit: H.H.: "Metareflexion ist notwendiger Bestandteil dieses Threads. Aber sie bringt für ihn nur etwas, wenn sie am konkreten Sachverhalt ansetzt, einem Lied in der Interpretation durch einen der neuen Interpreten der "Winterreise" also. Sie bringt - für diesen Thread!!! - wenig, wenn sie sich auf allgemein-abstrakter Ebene bewegt und dort verbleibt."


    Ich hatte so sehr gehofft, hier etwas zum Thema "Jonas Kaufmann und die Winterreise" lesen zu können.
    Und dann kommt diese alte Leier wieder!

  • Zitat

    Gottseidank fordert das theoretische Interesse gegen alle selbstauferlegten diskursiven Zwänge ihr gutes Recht!


    Es mag sein, farinelli, dass wir uns hier in einem Dilemma befinden, welches Du pointiert und nicht ohne Ironie formulierst. Ich bitte Dich allerdings, den Kontext zu beachten, in dem Helmut Hofmann geschrieben hat. Da zeichne ich mitverantwortlich, bin aber für seine Antwort wirklich sehr dankbar.


    Es hindert uns niemand daran, der Aufforderung von Helmut Hofmann Folge zu leisten und ein konkretes Lied an einer konkreten neueren Deutung initiierend zu beleuchten. Ich halte Dich hierbei - ohne Wenn und Aber :) - für durchaus kompetenter als mich selbst. Indes: Kommt Zeit, kommt Rat auch meinerseits. Nur erst einmal nicht, und nicht, weil ich keine Lust dazu hätte. Aber die Materie verdirbt ja nicht.


    :hello: Wolfgang


    EDIT: Ich möchte Helmuts allerletzter Wortmeldung nicht unbedingt widersprechen. :P Es ist eine noch wohlklingende, aber schon verstaubte Leier. Denn es liegt an uns, zu antworten. Ansonsten mag er sich - vielleicht - beschweren, aber wir haben keinen Grund dazu!

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • https://www.youtube.com/watch?v=vc7TIYuf-Dk


    Zunächst hoffe ich, dass der obige Link mit der von Helmut vermeldeten CD-Einspielung identisch ist.


    Die Aufnahme entspricht an Präzision und Ausdrucksvermögen seitens beider Interpreten zweifellos hohen Erwartungen. Sie war mir bislang nicht bekannt; ich sehe sie angesiedelt in der Nähe eines Ian Bostridge. Das heißt, dass sorgfältige Textverständlichkeit einhergeht mit sonorem, bisweilen zu sonorem ("Menschen") Vokalismus, dass aber das rhetorische Element sich nicht immer an der Sinn-Phraseologie des Textes orientiert, sondern in recht hohem Maße die Einzelvokabel in den Mittelpunkt stellt - mit anderen Worten: Die Tendenz zu einer vertretbaren Manieriertheit ist trotz der modern-unpathetischen Gesamtanlage unverkennbar. Andererseits sind es eher Einzelpassagen, die mir hier relevant erscheinen. Gewiss liegt keine Überdeutung in dem kritischen Sinne vor, der weiter oben bereits problematisiert wurde.


    Die Klavierbegleitung entspricht in Agogik und wohl auch dynamisch meinen Vorstellungen. Die jede Phrase im Eingang abschließende Terzbewegung nach oben wird beinahe elegant ausgespielt, bevor sie für meinen Geschmack genügend schroff abreißt. Hier tritt vielleicht ein tröstliches Moment hinzu, mit dem ich mich anfreunden kann. Lakonische Verbitterung wird dennoch geltend gemacht; man kann die Passage meines Erachtens in anderen Einspielungen durchaus verhuschter, quasi unzugänglicher hören. Beides scheint mir vertretbar.


    Ja, tendenziell erscheint auch mir Kaufmanns Stimme nicht über Gebühr flexibel, wobei ich gerade deswegen den Eindruck habe, wie oben schon angedeutet, dass Einzelnes umso stärker exaltiert wirkt, ohne dass dies so ganz berechtigt erschiene. Nun zwei Beobachtungen meinerseits; eine andere Auffassung als die von Helmut Hofmann vertrete ich aber - wenn überhaupt - nur bezüglich der eben diskutierten Eingangspassagen am Klavier.


    "Und morgen früh ist alles zerflossen" zerfällt in stakkatierte Einzelpartikel, wärend der Partitur eigentlich nur ein kurzes Ritartando zu entnehmen ist; ein Moment barocker Rede macht sich geltend, aber es wird kein geschlossenes Weltbild expliziert, sondern eine individualisierte Erfahrung. Der Wanderer kann kein Modell fremder Verantwortung geltend machen, keine positive, tröstliche Transzendenz. Wut und Zynismus schwingen mit, im nächsten Schritt dann wohl ein Anspruch der Autarkie in seiner Verzweiflung. Die Frage, die ich noch nicht abschließend für mich beantworten kann, ist, ob Kaufmann hier nicht dennoch des Guten zu viel tut.


    Der "Schlummer" wird unüberhörbar apostrophiert - bringt die Stelle zum Ausdruck, dass genau hierzu der Protagonist eigentlich nicht fähig ist? Legt die Musik dies gegenüber der Dichtung nahe? Erlaubt sie zwischen den Zeilen zu lesen? Ich bin mir nicht sicher - und wieder einmal würde im Bejahungsfall folgen, dass mehr Zurückhaltung seitens des Sängers geboten wäre.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Mit den Worten „tendenziell erscheint auch mir Kaufmanns Stimme nicht über Gebühr flexibel, wobei ich gerade deswegen den Eindruck habe, wie oben schon angedeutet, dass Einzelnes umso stärker exaltiert wirkt, ohne dass dies so ganz berechtigt erschiene“
    hat WolfgangZ – was mir nicht gelungen ist, weil ich mich wieder einmal in Details verzettelt habe – die Sache auf den Punkt gebracht.


    Hab mich gefreut über diesen Beitrag, die Interpretation des Liedes "Im Dorfe" durch Jonas Kaufmann betreffend.

  • Danke, Helmut! Von einem "Verzetteln" Deinerseits kann sowieso keine Rede sein. Ich denke, es geht uns um eine etwas genauere Sicht der Dinge und nicht um die spannende Diskussion im Fragezeichenformat, ob Musik dem Wort etwas hinzufügt oder auch nicht ... :huh::D


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Metareflexion ist notwendiger Bestandteil dieses Threads. Aber sie bringt für ihn nur etwas, wenn sie am konkreten Sachverhalt ansetzt, einem Lied in der Interpretation durch einen der neuen Interpreten der "Winterreise" also. Sie bringt - für diesen Thread!!! - wenig, wenn sie sich auf allgemein-abstrakter Ebene bewegt und dort verbleibt."

    Da bin ich doch bei farinelli und kann Dir nicht folgen, denn im Ergebnis läuft das darauf hinaus, dass Du bestimmst, was fruchtbar für die Diskussion ist. (Wenn es aber Forenregeln gibt, die dem Eröffner einer Diskussion dieses Recht zugestehen, will ich nichts gesagt haben.)

  • Zit: " kann Dir nicht folgen, denn im Ergebnis läuft das darauf hinaus, dass Du bestimmst, was fruchtbar für die Diskussion ist."


    Wenn Du diesen Eindruck hast, dann wird das wohl auch so ein. Es ist aber gar nicht meine Absicht, und ich bin weit davon entfernt, in dieser Rolle hier aufzutreten. Nicht nur, dass es mir nicht zusteht, - es ist mir fremd! Ich sah und sehe mich in meiner Argumentation als im Dienst der Zielsetzung dieses Threads stehend.
    Aber nun bin ich´s leid! Ich werde noch drei bis vier Winterreisen-Aufnahmen hier vorstellen, damit ich das Gefühl habe, einen wesentlichen Beitrag zu diesem Thread geleistet zu haben.
    Und dann bin ich hier weg!

  • Kennt jemand von denen hier unter uns, die über große Sammlungen von Liedaufnahmen verfügen, die „Winterreise“ in der Interpretation von Harry Geraerts und Ludger Rémy? Sie ist 1997 bei MD+G (Gramola ) erschienen, würde also zu denen gehören, die hier in Frage kommen.


    Die Aufnahme ist vergriffen, das CD-Cover findet sich aber bei Amazon. Ich hätte es gerne hier abgebildet, kann das aber nicht.
    Ich finde die Aufnahme hochinteressant, insbesondere unter dem hier von farinelli und Glockenton diskursiv eingebrachten Aspekt „Entemotionalisierung“.
    Mit Dieter Stockert würde ich mich gerne in ein Gespräch über das Lied „Der Lindenbaum“ in der Interpretation durch Geraerts einlassen, und es wäre schön, wenn wir beide dabei nicht allein blieben.
    Diese Aufnahme wirft eine Menge interessanter Fragen auf!

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