Bei der Besprechung von „Im Dorfe“ meinte ich, im interpretatorischen Ansatz, dem Grundverständnis des Protagonisten dieses Zyklus also, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Wolfgang Holzmair und Christoph Prégardien vernommen zu haben, fügte aber hinzu, im Einsatz ihrer Ausdrucksmittel wirke er allerdings ein wenig zurückhaltender als Prégardien. Weil das nun aber ein punktueller, aus der Betrachtung eines Liedes gewonnener Eindruck war, stellte sich für mich natürlich die Frage, wie weit man diese Feststellung verallgemeinern kann. Nach dem Anhören einer ganzen Reihe von weiteren Liedern glaube ich sagen zu können: Man kann. Und überdies: Es zeigt sich, dass hinter diesen Unterschieden in der gesanglichen Interpretation ein unterschiedliches Verständnis des Protagonisten steht. Mit einem kurzen vergleichenden Blick auf das Lied „Die Wetterfahne“, bei dem ja die melodische Linie von ihrer Aufgabe her, die Aussagen des lyrischen Textes zu reflektieren, auf hohe Expressivität angelegt ist, möchte ich das belegen.
Melodische Linie und Klaviersatz sind in diesem Lied von großer Unruhe geprägt. Im Autograph dieses Liedes findet man die Vortragsanweisung „Ziemlich geschwind, unruhig“.
Schon gleich bei der ersten Melodiezeile schraubt sich die Vokallinie bei permanenten Rückungen in ihrer Harmonisierung in unruhigen Aufwärtsbewegungen hoch bis zum ersten Höhepunkt ("Liebchens Haus"). Danach muss sie innehalten, weil im Klavier eine Sechzehntel-Bewegung mit eingelagerten Trillern aufrauscht: Den Wind musikalisch malend, der in die Wetterfahne fährt.
Diese Unruhe in der melodischen Linie setzt sich danach fort. Jetzt aber wirkt sie durch große Intervallsprünge wie zerstückt. Das Beharren auf einem Grundton bei "Er hätt es eher bemerken sollen...", bei gleichzeitigen Ausgriffen in großen Intervallen nach oben, wirkt, als würde da einer zerknirscht in sich hineinreden, zumal das Klavier jetzt von seinen Achtelläufen abgekommen ist und die Intervallsprünge mit Akkorden akzentuiert. Dabei kann man as "Quasi-Glissando" "pfi-iff", "hä-ätt", "beme-erken" usw. kann man als tonmalerisches Aufgreifen des Windes verstehen. Der Vers "Der Wind spielt drinnen mit den Herzen..." wird auf die nur leicht modifizierte melodische Linie des Eingangsverses gesungen, leise, vom Klavier wieder im Unisono und pianissimo begleitet. Eindringlich wirkt das. Hier herrscht musikalische Introversion: Das Bild draußen kehrt auf schmerzliche Weise im Innern der Seele wieder.
Dann aber erklingt laut und bohrend, hart auf einer melodischen Sekunde artikuliert und von leeren Quinten im Klavier akzentuiert der Ruf: "Was fragen sie nach meinen Schmerzen?...". Dieser Gedanke hat sich in den Wanderer so eingebrannt, dass er ihn wiederholen muss. Wieder leise die gleiche melodische Figur in der Singstimme: "Der Wind spielt ...". Jetzt aber zwei Takte lang im Klavier von spielerischen Trillern untermalt. Und dann wieder laut, im Crescendo mächtig sich aufäumend und wieder mit Quinten im Klavier bohrend akzentuiert: "Was fragen sie nach meinen Schmerzen...". Bei der bitter-ironischen Feststellung: "Ihr Kind ist eine reiche Braut" erfolgt auf den Silben "rei-che" eine Dehnung über einen ganzen Takt, derweilen im Klavier die Sechzehntel wie in einem irrwitzigen Lauf nach oben rauschen.
Nach dem forte einsetzenden Vorspiel nimmt sich das Lied bei der ersten Melodiezeile ins Piano zurück. Ganz dem entsprechend deklamiert Wolfgang Holzmair sie in ihrer Aufwärtsbewegung relativ zurückhaltend, ohne die Stimme sonderlich zu forcieren, und die Höhe auf dem Wort „Haus“ lässt er ruhig ausklingen. Bei der zweiten Melodiezeile wird er war deutlich expressiver, die Wiederholung der melodischen Figur bei den Worten „sie pfiff den armen Flüchtling aus“, bei der Schubert ja ein Crescendo vorgibt, deklamiert er nicht in der stimmlichen Schärfe, die hier möglich ist. Er lässt das lyrische Ich zwar betroffen wirken von dieser Erfahrung, die es da macht, aber nicht seelisch verletzt. Auch das sprunghaft-rasche Auf und Ab der melodischen Linie akzentuiert er nicht sonderlich, er deklamiert es zwar stimmlich präzise, vermeidet dabei aber, diesem immer wieder erneuten Ansetzen der melodischen Linie in tiefer Lage den Beiklang von Verärgerung zu geben, einem Verärgert-Sein des lyrischen Ichs über die eigene Blindheit.
Auf beindruckende Weise gestaltet er den neuerlichen Anstieg der Vokallinie bei den beiden ersten Versen der dritten Strophe. Hier ereignet sich ja die Hinwendung der lyrischen Perspektive vom „realen“ Außen- in den seelischen Innenraum, was sich in der Rücknahme der Dynamik ins Pianissimo und in einer Fermate über der Pause nach dem Sextsprung zu dem Wort „laut“ hin niederschlägt. Holzmair deklamiert hier die melodische Linie in einem stark verinnerlichten Ton und lässt sie bei dem Wort „laut“ mit einem lang gehaltenen und sehr leisen Vibrato in der Stimme ausklingen. Das nachfolgende „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“ wird von ihm unter Beachtung der Anweisung „laut“ deklamiert, jedoch wieder ohne volle Ausschöpfung des expressiven Potentials, das der melodischen Linie hier innewohnt: Dem dreifachen Sekundsprung, der am Ende in einen Terzfall mündet. Ganz dieser interpretatorischen Intention entsprechend, wird auch der aus einem Sechzehntel-Anlauf hervorgehende kleine Sextfall bei „eine reiche Braut“ zwar forte, aber nicht dynamisch auf die Spitze getrieben deklamiert.
Bei der Wiederholung dieser Verse lässt er die taumelnde Bewegung der melodischen Linie auf den Versen „Der Wind spielt drinnen mit den Herzen“ deutlich stärker hervortreten. Und wieder erklingt am Ende dieses höchst eindrucksvolle Vibrato bei dem Wort „laut“. Auch den Worten „meinen Schmerzen“ verleiht er nun durch eine sehr rasche Deklamation einen stärkeren Akzent als beim ersten Mal. Hier nun, erst am Ende des Liedes also, lässt er den tiefen Schmerz vernehmen, den die Bewusstwerdung des Verlusts der Geliebten in der Konfrontation mit ihrem Haus und der Wetterfahne oben für dieses lyrische Ich mit sich brachte.
Der Blick auf die sängerische Gestaltung dieses Liedes durch Christoph Prégardien kann, da es hier ja um die Eigenart der Holzmair-Interpretation geht, kurz gefasst werden, - in Gestalt punktueller Hinweise auf die relevanten Unterschiede. Der Aufstieg der melodischen Linie in der ersten Melodiezeile ereignet sich rascher und deklamatorisch akzentuierter, in der prägnanten Artikulation der lyrisch bedeutsamen Worte „Wetterfahne“ und „Liebchens“ nämlich. Das Wort „Haus“ am Ende erklingt in deklamatorisch verblüffend flüchtiger, wie in nur nebenbei angesprochener Weise. Hier wird interpretatorisch tiefes Eindringen in die Komposition vernehmlich: Das lyrische Ich bringt, so empfindet man das, zum Ausdruck, dass es schon auf der Wanderschaft weg von diesem Haus ist.
Die Worte „sie pfiff den armen Flüchtling aus“ werden mit einer starken Hervorhebung der sich wiederholenden Achtelfigur in der melodischen Linie deklamiert, - die Betroffenheit durch den Gedanken hörbar werden lassend. Und danach ereignet sich eine permanent wachsende, die Unruhe in der Bewegung der melodischen Linie betonende und nutzende Steigerung der deklamatorischen Expressivität, gipfelnd in dem fallenden doppelten Sekundsprung bei dem Wort „Frauenbild“, den das Klavier ja mit seinen extremen Achtelsprüngen im Diskant akzentuiert.
Dass die gesangliche Interpretation bei Prégardien stärker auf Ausschöpfung des semantischen Potentials ausgerichtet ist, kann man auch bei der dritten Strophe auf beeindruckende Weise vernehmen. Die sich wiederholende, aber m Intervall sich steigernde Sprungbewegung der melodischen Linie bei den Worten „auf dem Dach“ und „nicht zu laut“ hebt er deutlich hervor, unter voller Ausnutzung der Fermaten. Der Ausruf „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“ kommt bei ihm in seinem appellativen Klagecharakter deklamatorisch voll zur Geltung, ebenso das konstatierende „ihr Kind ist eine reiche Braut“. Prégardien deklamiert hier die melodische Linie in bemerkenswert lakonischer Weise, im Gestus des „So ist das halt eben“.
Erstaunlich lang halten er und Andreas Staier die Fermate über der Pause nach den Worten „nur nicht so laut“. Hier kommt für einen Augenblick völlige Stille in das Lied. Umso heftiger dann der nachfolgende Ausbruch bei der Wiederholung der Klage „Was fragen sie nach meinen Schmerzen“, - hochgradig expressiv sowohl beim Pianisten in der Artikulation der Achtel-Fallbewegung vor dem erneuten Einsatz der melodischen Linie, wie auch in der Deklamation derselben durch den Sänger. Er betont ganz bewusst den Steigerungseffekt, den Schubert bei der Wiederholung der Verse durch die Anhebung der melodischen Linie um eine Sekunde und die damit einhergehende harmonische Rückung in das Lied gebracht hat.
Ergebnis:
Da es hier nicht um eine Wertung geht, sondern nur um die Frage nach dem der Interpretation zugrunde liegenden Verständnis des Protagonisten, kann man aus diesem Vergleich der beiden Aufnahmen zu der Feststellung gelangen:
Holzmairs Winterreisender ist ein still sein Schicksal Erleidender, einer der hinnimmt, in eine existenzielle Grenzsituation geraten zu sein und sich das in stillem Monolog vergegenwärtigt.
Der von Prégardien ist aus anderem Holz geschnitzt: Er lässt die Welt im allgemeinen um sein Leiden wissen, - und die stadtbürgerliche Welt im besonderen, aus der er vertrieben wurde, um die Vorwürfe, die er ihr macht.