Ab etwa 1800 ist der Sprache der europäischen Kunstmusik zunehmend ein Element des Emotionalen inhärent, welches zuvor fehlt. Da "Emotionen" im Gegensatz zu "Gefühlen" die Neigung haben, Menschen zu vereinnahmen und ihnen Verhaltensweisen und Befindlichkeiten zu oktroyieren, kann man davon sprechen, dass die Musik, die wesentlich mehr eine Sprache der Gefühle als des Geistes ist, auch eine entsprechende Emotionalisierung des (vertieften) Hörers bewirkt. Als Erklärung für das Phänomen der Emotionalisierung wird eine verminderte Wertigkeit geistig betonter Elemente in der Musiksprache angenommen, welche zu einer geringeren Betonung des Geistes des Rezipienten führt und somit einen breiteren Spielraum für die Entfaltung von Emotionen schafft. All dies ist in vielfacher Hinsicht konkret am Notentext feststellbar.
Liebe Bachiana,
die Unterscheidung von Gefühl und Emotion gibt es ja in der Literatur. Im Unterschied zu einfachem Gefühl ist dem zufolge Emotion ein Gefühl, was zugleich eine "Antwortreaktion" des beteiligten Subjekts enthält. Beispiele:
Trauer ist Gefühl, Weltschmerz dagegen Emotion, weil man auf Trauer mit Wehmut reagiert.
Freude ist Gefühl, Jubel Emotion, weil der Jubel mit einem Triumpfgefühl auf Freude antwortet.
Auf dieser Grundlage läßt sich aber Deine Kernthese gerade nicht bestätigen. Denn Emotionen haben nicht weniger, sondern mehr Geist und Verstand als Gefühle, denn Gefühle sind unreflektiert, Emotionen dagegen höchst reflektiert.
Und ebensowenig leuchtet ein, warum uns nur Emotionen Gefühle aufoktroyieren sollen und Gefühle nicht. Rachmaninows Musik zeigt viel Weltschmerz, aber beim Hören von Rachmaninow-Musik bekomme ich nun selber gar keinen Weltschmerz. Und freudige Musik kann mir eine freudige Empfindung nicht weniger aufoktroyieren als jubelnde Musik den Jubel.
Könnte es also sein, dass Du "Emotion" viel zu sehr auf Wagnersche Gefühlsextase eingeengt hast?
Lieber Holger, ich werde mich bemühen ! Doch ihr wisst schon, dass man besonders solche vergleichenden Analysen nicht einfach nebenbei aus dem Ärmel schütteln kann ? Vor allem müssen hier sinnvoll vergleichbare Werke gefunden werden ! (Aber wie üblich habe ich bereits griffige Ideen... ;))
Da bin ich sehr gespannt darauf!
Höchste Lust ist reinste Emotion. Das ist der Grund, warum Wagner schreibt: "unbewusst - höchste Lust!". Eine bewusste Wahrnehmung des Empfindens mag in jenem ekstatischsten Momente zwar möglich sein, jedoch kaum mehr eine bewusste Steuerung von Handlungen oder Gedanken.
Wozu braucht denn die Erfassung von Gefühlen oder Emotionen überhaupt die "bewußte Steuerung von Handlungen und Gedanken"? Auch das ist eine Komplexitätsreduktion für meinen Geschmack. Wagners Oper besteht ja nicht nur aus Isoldes Liebestod, da gibt es z.B. auch noch eine sehr verständige Mitleidsethik...
Die Lust des Vergessens mag kurzfristig das Leiden für beendet scheinen lassen. Doch in Wahrheit ? Noch niemals hat Stillstand Leiden beendet. Überwunden ist es dadurch noch lange nicht! Eher meine ich, das Gegenteil sei der Fall. Leider ist es noch immer so, dass vernünftiges Verhalten langfristig weniger Leiden nach sich zieht, als unvernünftiges Handeln. Um dies zu erkennen, muss man nicht einmal prüde, verklemmt, sinnen- oder genussfeindlich sein. Im Gegenteil. Ich bezweifle sehr stark, dass jemals jemand in seinem Leben entscheidend mehr Glück und positive Gefühle, Gesundheit oder Freude erzeugen konnte, indem er sich der Lust hingab, zu fühlen, was sich momentan an angenehm scheinenden Gefühlen anbot. Den "Willen auszuhängen" ist demnach wie ein Drogenrausch
Schopenhauer hat nicht zufällig den Buddhismus entdeckt. Der Buddhist überwindet das Leiden, indem er sein Bewußtsein ausschaltet, wenn er z.B. mit einer Bürste den Boden schruppt, eine bekannte Übung. Warum soll das unvernünftig sein? Und er überwindet tatsächlich das Leiden, resultierend aus dem unstillbaren Durst menschlicher Begierde. Bei Wagner geschieht all das mit Musik und Ästhetik.
Dies mag auch aus einer anderen Sicht wichtig sein: für unser Thema hier ! Denn genau diese zuvor bereits sukzessiv verstärkte und bei Wagner zum Kult erhobene "Zelebration der Lust und Emotion" ist es, die Musik seit 1800 zu "emotionalisierter Musik" macht.
Das kann man glaube ich schwerlich behaupten, dass es bei romantischer Musik generell um emotionale Luststeigerung geht. Eine ziemlich gewagte These - die behauptet, alle Romantik kulminiere in Wagner. Schopenhauer sagt so schön: Auf ein Ziel läuft ein Weg immer nur dann zu, wenn man am Zielpunkt angekommen den Weg im Rückblick betrachtet!
Herzliche Sonntagsgrüße
Holger