Opern unter der Lupe -010 - Georges Bizet: Carmen

  • Diese Diskussion gehört zwar nicht hierher, aber meines Wissens dominierte seit dem frühen 19. Jhd. bis Mitte des 20. Jhds. die Aufführung in der Landessprache (jedenfalls im Falle von deutsch, französisch, italienisch, englisch, wie das die slawischen und skandinavischen Länder gemacht haben, weiß ich nicht).


    Es exitieren an die zweihundert Aufnahmen von CARMEN, darunter überdurchschnittlich viele Produktionen im Hörfunk, Fernsehen und in diversen Studios. Mitschnitte aus der Hosentasche nicht mitgerechnet. Kein Label hat das Werk ausgelassen, oft sogar mehrfach eingespielt. Die Reihe der Dirigenten ist endlos. Diese Dokumente sind nicht nur Ausdruck von Sammelwut und Musikmarktinteresse, sie veranschaulichen sehr gut und umfänglich die Rezeptionsgeschichte und damit die Auseinandersetzung mit der Oper. Sie stellen für mich ein wissenschaftliches Studienobjekt dar. Sprachlich ist vieles darunter, auch Fassungen in Polnisch, Russisch, Tschechisch oder Schwedisch. Auch eine ungarische Übersetzung ist mir bekannt. Die erste Einspielung stammt von 1908 aus Berlin mit Emmy Derstinn und Karl Jörn, also mit einem Sopran und einem ehr lyrischen Tenor. Damit möchte ich auch auf die interessanten Berkmerkungen von Sixtus verweisen, der etliche spätere Besetzungen zu Recht sehr kritisch sieht. Ich übrigens auch. So viele Aufnahmen es auch gibt, so viel Irrtümer sind dabei unterlaufen. Es gab und gibt eine starke Neigung, die Oper monströs misszuverstehen. Mir ist eine diskrete Interpretation lieber, die von innen kommt und nicht von außen, die die handelnden Figuren in ihren Nöten, Ängsten, Träumen, Irrtümern und Zwängen glaubhaft macht. Drama statt Folklore. Einen entsprechehenden höchst interessanten Versuch in diese Richtung unternahm 1977 sowohl in Edinburgh als auch im DG-Studio Claudio Abbado mit Teresa Berganza. In CARMEN sind selbst die Nebenfiguren pralle Charaktere. Zu dieser Einsicht fürt aber nur die urspüngliche Dialogfassung. Sie ist das Fenster in die Tiefe des Werkes. Was nun die Micaela, den Gegenentwurf zu Carmen, anbelangt, unterstütze ich die Sicht von Stimmenliebhaber. Auch sie ist in der Dialogfassung viel konturierter, nicht die kleine niedliche Dorfmieze sondern eine junge Frau von großer Entschlossenheit. Die ist sehr schwer zu besetzen, wenn sie so rüberkommen soll.


    Gruß Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Es gab und gibt eine starke Neigung, die Oper monströs misszuverstehen. Mir ist eine diskrete Interpretation lieber, die von innen kommt und nicht von außen, die die handelnden Figuren in ihren Nöten, Ängsten, Träumen, Irrtümern und Zwängen glaubhaft macht. Drama statt Folklore. Einen entsprechehenden höchst interessanten Versuch in diese Richtung unternahm 1977 sowohl in Edinburgh als auch im DG-Studio Claudio Abbado mit Teresa Berganza. In CARMEN sind selbst die Nebenfiguren pralle Charaktere. Zu dieser Einsicht fürt aber nur die urspüngliche Dialogfassung.

    Und ich kann meinerseits nur diese Ausführungen unterschreiben. Die Rezitativ-Fassung verfälscht meines Erachtens den Werkcharakter weit mehr als eine Nicht-Originalsprache das könnte. Ich würde daher in Deutschland immer die Dialogfassung auf deutsch spielen, es sei denn an großen Häusern mit durchreisenden Gast-Star-Solisten, da geht das dann natürlich nicht, das muss dann die Originalsprache her, allerdings trotzdem die Dialogfassung (ist ja inzwischen auch so üblich).

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Was die deutschen Übersetzungen klassischer Opern im 19.Jh. betrifft, Johannes, gebe ich zu bedenken: Sie sind nicht nur bieder, sondern auch oft ungenau und, was schlimmer ist: Sie wimmeln von falschen Betonungen. Die Partituren wurden nun mal am Originaltext entlang komponiert, und jede Übersetzung verfälscht mehr oder weniger.
    Bei aller berechtigten Kritik an Karajan: Seine größte Tat war sicher die Einführung der Originalsprache in Wien, von wo sie sich dann weltweit durchgesetzt hat. Aber ich gebe zu, dass sich manche Spieloper im Original jenseits der Landesgrenzen schwer tut. Wie heißt es aktuell so schön: Einzelfallprüfung!


    Bei der Micaela können wir uns schnell einigen: Singen ist immer schwer. Ich wollte diese Partie keineswegs herabsetzen oder in die Nähe einer Soubrette bringen. Aber eine gute Pamina (die häufig anzutreffen ist) wäre doch auch eine gute Voraussetzung für das tapfere Mädchen.
    Und passabel? Wollen wir mit dem Wörterbuch unter dem Arm herumlaufen? Mit Worten lässt sich trefflich streiten, man kann es aber auch lassen - besonders wenn man genau weiß, was gemeint ist...


    In diesem Sinne grüßt euch herzlich
    Sixtus

  • Bei Carmen würde ich es mir ja noch gefallen lassen, wenn in Originalsprache gesungen wird und die Dialoge in der jeweiligen Landessprache gesprochen werden . Das setzt aber voraus das die Opernhäuser für ausländische Sänger Sprachlehrer haben .

  • Was die deutschen Übersetzungen klassischer Opern im 19.Jh. betrifft, Johannes, gebe ich zu bedenken: Sie sind nicht nur bieder, sondern auch oft ungenau und, was schlimmer ist: Sie wimmeln von falschen Betonungen. Die Partituren wurden nun mal am Originaltext entlang komponiert, und jede Übersetzung verfälscht mehr oder weniger.



    Komisch, dass Verdi nicht solche Skurpel hatte, als er den "Don Carlos" in Italien selbstverständlich als italienischsprachigen "Don Carlo" spielen ließ...


    Da war ihm die Textverständlichkeit für das Publikum weit wichter als falsche Betonungen und sonstiges, was man gegen Übersetzungen in die Landessprache ins Feld führen kann.


    Jede Übersetzung verfälscht mehr oder weniger - vielleiht doch weniger, vielleicht verfälscht es doch mehr, wenn die Grundvoraussetzung der Uraufführungssituation nicht mehr gegeben ist, nämlich dass das Publikum der Sprache, in der gesungen wird, auch mächtig ist!


    Und was die "Biederkeit" betrifft: Mir hat mal ein Regisseur, der den "Don Pasquale" erstmals in der Übersetzung des Ricordi-Klavierauszugs gelesen hat, gesagt: "Das ist ja wie eine Operette!" Und ich antwortete ihm: "Ja!" Manchmal verliebt man sich so in die Idiomatik einer Originalsprache, dass das Semantische bestenfalls noch eine sekundäre Rolle spielt. Die Originalsprachlichkeit "entlastet" den Zuschauer/Zuhörer vor einer allzu intensiven und bewussten Auseinandersetzung (oder wenigsten Vergegenwärtigung) mit den Inhalten (der Inhalte)...


    Insofern darf man das mit dem diesbezüglichen "Verdienst" Karajans durchaus kritisch sehen, er hat damit dem durchreisenden internationalen Sängerzirkus überall Tür und Tor geöffnet und die Bedeutung der Ensembles deutlich gemindert. Das kann man begrüßen oder eben nicht, es kann natürlich sein, dass er damit das ohnehin Unvermeidliche nur besonders frühzeitig eingeleitet hat.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wenn man eine fremde Sprache nicht ziemlich gut beherrscht (und/oder ziemlich viel originalsprachliche Literatur gelesen hat), erkennt man Sprachebenen doch kaum.
    Ich verstehe z.B. viel zu wenig französisch oder italienisch, um erkennen zu können, ob es sich um ironische oder eher gehobene usw. Sprache handelt, selbst wenn ich den groben Sinn erkennen kann.

    Dass viele der inzwischen auch weit über hundert Jahre alten Übersetzungen oft grausig sind, erkennt man aber auch mit nur rudimentärer Kenntnis der Originalsprache. (Nur zur Klarheit: Die Qualität der Übersetzungen ist für mich kein gutes Argument gegen Oper in der Publikumssprache.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das Thema Originalsprache oder Übersetzung ist eines mit Endlosschleife. Wir werden es nicht zu Ende bringen. Deshalb hier ein pragmatischer Kompromissvorschlag:


    Gehen wir nach Mailand, Wien oder Paris, um große weite Welt zu schnuppern, und ins heimische Stadttheater, wenn wir uns an heimischen Klängen erfreuen wollen. Aber wenn im Radio Falstaff kommt, höre ich lieber von Sir John "Eccomi qua. Son pronto." - als "Bin schon zurück - und fertig." Boito zuliebe.


    Mir fällt aber auch ein Beispiel ein, bei dem ich mich anders entscheide: Das Duett Hans/Kezal mit Wunderlich und Frick darf gern deutsch klingen. (Ich stelle mir grade Gottlob vor, wenn er tschechisch singt!)


    Nehmen wir es also nicht gar zu bierenst!


    Schöne Grüße von Sixtus


    (So viel zu Carmen!)

  • Das Duett Hans/Kezal mit Gottlob Frick und Fritz Wunderlich gehört zu den Sternstunden der Oper in deutscher Sprache. Doch wenn man sich den Kezal in der Originalsprache anhört, lernt man die Sprachmelodie des Slawischen zu schätzen.


    (Fast ebensogerne höre ich dieses Duett mit Michael Bohnen und Joseph Schmidt)

  • Vorsicht, lieber Erich!
    Wenn wir mit sehr alten historischen Aufnahmen kommen, erschrecken wir alle, die diese Sänger nicht mehr kannten. Das heißt natürlich nicht, dass es mir keinen Spaß macht - im Gegenteil! Vielleicht in anderem Zusammenhang...
    Aber wenn wir erst mal bei der Gesangskultur angekommen sind, wird der Boden wieder heiß wegen des Geschmackswandels im Laufe der Zeit. Bis irgendwann!


    Beste Grüße von Sixtus

  • Ich habe gerade eine Oper von Auber in Arbeit, die es - wie die Carmen - mit gesprochenen Dialogen oder auch mit Rezitativen gibt, und das Libretto, das ich dazu habe, enthält beide Versionen. Da sieht man erst, wie vieles "unter den Tisch fällt", wenn die ursprünglichen Dialoge in Rezitative umgewandelt werden.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Banner Strizzi
  • Wie ich bereits im Thread zu Sabine Devieilhe mitteilte, stellt René Jacobs nach konzertanten Aufführungen in Paris und Antwerpen nun auch in Deutschland eine neue „Carmen“-Variante zur Diskussion. Sie basiert auf der neuen Ausgabe des Bärenreiter-Verlages, der in der Rekonstruktion von Paul Prévost eine ‚Ur-Carmen‘ veröffentlicht hat, die auch Musik enthält, die selbst das Uraufführungs-Publikum vom 3. 3. 1875 nicht zu hören bekam, weil Georges Bizet auf Verlangen der Opéra Comique Teile seiner Komposition streichen bzw. ändern musste. Natürlich wird das Werk von René Jacobs in einer französischen Dialogfassung präsentiert und statt der ‚Habanera‘ erklingt Bizets ursprünglich vorgesehene Arie.


    „Carmen“ (Georges Bizet); Carmen – Gaȅlle Arquez / Don José – François Rougier / Micaela – Sabine Devieilhe / Escamillo – Thomas Dolié / Frasquita – Margot Genet / Mercédès – Séraphine Cotrez / Remendado – Grégoire Mour / Dancaire – Emiliano Gonzalez Toro / Moralès – Yoann Dubruque / Zuniga – Frédéric Caton / Lillas Pastia und Andrès – Karolos Zouganelis / Pequeňos cantores de la ‚Orcam‘, Madrid / Le Choeur de chambre de Namur / B’Rock Orchestra / Dirigent: René Jacobs.


    Konzertante Aufführungen in Dortmund am 16. 3. (Konzerthaus), am 17. 3. in Köln (Philharmonie) und am 25. 3. in der Hamburger Elbphilharmonie.

  • Auf diese "Carmen" von Jacobs bin ich sehr gespannt, weil mich schon andere entsprechende Editionen von ihm fasziniert haben. Er geht tatsächlich an die Quellen. Und das ist auch bei Bizet dringend geboten, wie es im Verlauf dieses Treads betreits deutlich wurde. Neulich bekamen wir hier zu lesen, dass ein Theatermensch neue Fassungen von Opern mit dem Ziel erarbeite, sie von allen möglichen verdächtigen Zutaten zu befreien. Mit der "Zauberflöte" sein an Anfang gemacht. Auch "Carmen" soll folgen. Offenbar hat man vergessen, Werke genau zu lesen. Dann würde sich manches von selbst erledigen. Das Letzte, was die Dauerbrenner auf der Opernbühne vertragen, sind besserwisserische und vorgeblich politisch korrekte Eingriffe in die originale Substanz. Hände weg von "Carmen". ;)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • und statt der ‚Habanera‘ erklingt Bizets ursprünglich vorgesehene Arie.

    Man kann es naürlich auch übertreiben. Diese "ursprünglich vorgesehene Arie" wurde seinerzeit von der Protagonistin der Uraufführung abgelehnt - sie war ihr nicht spanisch genug. Die vom Komponisten Sebastián de Yradier (1809-1865)komponierte Melodie war einer der beiden "Reisser" dieser Oper. Und den will man weglassen ?

    De Yradier hat die Melodie mit einem Text veröffentlicht, der angeblich in dieser Form von den eingeborenen Kubas verwendet worden sei. IMO deutet das dann DOCH auf ein "Volkslied" hin, das seinerzeit Yradier verwendet habe. (?). Es handelt sich übrigens um ein GLÜHENDES, FORDERNDES Liebeslied - an ein Mädchen. Insofern ist die Interpretatione durch eine Frau eignetlich unpassend - aber - wie das Tonbeispiel beweist - oft seh beeindrucken

    Persönlich finde ich die Originalfassung für gelungener als die - an sich gute - Bearbeitung Bizets.

    Der Clip wurde in diesem Thread bereit im Jahre 2016 eingestellt. Ich wiederhole ihn gerne, damit er ins Gedächtnis gerufen wird.(IMO die beste verfügbare Version)

    Zur Oper an sich: In einem meiner Operführer (Leo Melitz Führer durch die Opern - Auflage von ca 1912/14) findet man Aussagen wie "Schwüles Werk" oder aber Anmerkungen, daß "das Ganze lediglich durch sein hervorragendes musikalisches Lokalkolorit" zusammengehalten wird.

    mfg aus Wien

    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!