Aribert Reimann. Eine Betrachtung ausgewählter Liedkompositionen

  • Die Begründung leuchtet mir ganz und gar nicht ein. Es gibt auch keine Streichquartettmusik und kein Adjektiv Klaviersonatenmusikalisch. Es genügt, von musikalischen Eigenheiten einer Klaviersonate zu sprechen. Die Rede von den klaviersonatenmusikalischen Eigenheiten einer Klaviersonate ist unnötig geschwollen.

    Nun, gut. Ich dachte es mir schon, hielt es aber immerhin doch für möglich, dass etwas Sinnvolles dahintersteckt. Nun bin ich aufgeklärt. Vielen Dank!

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Die Begründung leuchtet mir ganz und gar nicht ein. Es gibt auch keine Streichquartettmusik und kein Adjektiv Klaviersonatenmusikalisch. Es genügt, von musikalischen Eigenheiten einer Klaviersonate zu sprechen. Die Rede von den klaviersonatenmusikalischen Eigenheiten einer Klaviersonate ist unnötig geschwollen.

    Nun, gut. Ich dachte es mir schon, hielt es aber immerhin doch für möglich, dass etwas Sinnvolles dahintersteckt. Nun bin ich aufgeklärt. Vielen Dank!

    Ich finde es nicht so schwierig. Natürlich macht der Begriff "klaviersonatenmusikalisch" keinen besonderen Sinn, weil wir hier für die Untersuchung nur Musik haben. Aber man könnten den Begriff "filmmusikalisch" prägen, wenn man wollte und die Musik im Hinblick auf das Filmgeschehen untersuchen. So verstehe ich "liedmusikalisch" Es wird die Musik nicht aufgrund ihrer inhärenten Strukturen untersucht, sondern im Hinblick auf ihre Beziehung zur vertonten Lyrik.

  • Nun, gut. Ich dachte es mir schon, hielt es aber immerhin doch für möglich, dass etwas Sinnvolles dahintersteckt. Nun bin ich aufgeklärt. Vielen Dank!

    Ich bezweifle, dass Du nach einer Antwort auf Deine Frage gesucht hast. Danke für die Bestätigung.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ja, dieser Antwort von Thomas möchte ich mich dringend anschließen. Oder anders formuliert: Man spürt die Absicht und man ist verstimmt.


    Ich wollte ursprünglich schon vor Helmut antworten. Meine Antwort wäre freilich boshafter ausgefallen als die von Helmut und weniger pointiert trotzdem. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe.


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Dabei ist Helmut durchaus nicht der einzige, der die Begrifflichkeit "Liedmusik" verwendet:


    Die Wiener Liedmusik von 1778—1789

    Irene Pollak-Schlaffenberg

    Studien zur Musikwissenschaft
    5. H. (1918), pp. 97-151 (55 pages)

    https://www.jstor.org/stable/41435712


    Dies ist nur ein Beispiel, es finden sich noch mehrere Publikationen, die den Ausdruck "Liedmusik" verwenden.

  • Lied 3: „Vor dem Schloß in den Bäumen“

    Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht,
    Unter den Fenstern ein Spielmann geht,
    Mit irren Tönen verlockend den Sinn -
    Der Spielmann aber ich selber bin.

    Vorüber jag ich an manchem Schloß,
    Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß,
    Du frommes Kindlein im stillen Haus,
    Schau nicht nach mir zum Fenster hinaus.

    Von Lüsten und Reue zerrissen die Brust,
    Wie rasend in verzweifelter Lust,
    Brech ich im Fluge mir Blumen zum Strauß,
    Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!

    Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang!
    Herz, o mein Herz, bist ein irrer Klang,
    Den der Sturm in alle Lüfte verweht.
    Lebt wohl, und fragt nicht, wohin es geht!

    Schon von seinem Umfang, erst recht aber von seiner poetischen Aussage her bildet dieser dritte lyrische Text den Schwerpunkt und das Zentrum dieses Eichendorff-Liederzyklus´. Die Figur des heimatlos umherziehenden Spielmanns ist in der Literatur der Romantik und in der Lyrik Eichendorffs die Metapher für den der Ort- und Heimatlosigkeit ausgesetzten Dichter. Hier wird dieses Ausgesetzt-Sein sogar als existenzielle Gefährdung durch Irrsinn und Tod lyrisch thematisiert. Das zweite Verspaar der zweiten Strophe ist Eichendorffs Gedicht „Der irre Spielmann“ (1837) entnommen. Hier, in diesen Versen, ereignet sich gar eine Identifikation des lyrischen Ichs mit dieser Figur.

    Des Spielmanns „Töne“ sind „verlockend“, aber sie sind zugleich auch gefährlich. Dies deshalb weil sie aus einer „von Lüsten und Reue“ „zerrissenen Brust“ eines Menschen kommen, so dass er „das fromme Kindlein im stillen Haus“ warnen muss, sich ihnen hinzugeben, könnte es doch dadurch in seine zutiefst gefährdete Existenz hineingezogen werden. An Goethes „Erlkönig“ fühlt man sich da erinnert. Lyrische „Blumen“ vermag er zwar zu brechen, einen „fröhlichen Strauß“ aber gleichwohl daraus nicht zu binden. Seine Unzugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft findet lyrisch darin Ausdruck, dass er „an manchem Schloß“ vorüberjagt, ohne Zugang finden zu wollen und zu finden.

    Die innere Zerrissenheit, der „irre Klang“ seines Herzens kann so weit führen, dass er nur noch den einfachen „Schrei“ , nicht aber mehr den gestalteten Gesang hervorzubringen vermag. Der mit den Worten „Lebt wohl“ eingeleitete letzte Vers bringt ein Abschied-Nehmen aus der menschlichen Gesellschaft dar. Das Wohin seines Weges wird zwar offengelassen - hier ist ein Eichendorff am Werk -, aber das vielsagende „fragt nicht“ legt nahe, dass das der Tod ist.

    Reimanns Liedkomposition auf diesen Text legt nahe, dass er nicht primär an der existenziellen Heimatlosigkeit dieser Figur „Spielmann“ ansetzt, sondern an deren Folgen, der inneren Zerrissenheit, Rastlosigkeit und Verzweiflung dieses lyrischen Ichs. Seine Musik bringt das in Gestalt ihrer eigenen, in der Abfolge von klanglich hochexpressiven klanglichen Chiffren sich entfaltenden strukturellen Zerrissenheit auf höchst eindrückliche Weise zum Ausdruck.

    Wie dieser Spielmann vermag sie keinen melodisch gebundenen Gesang hervorzubringen, dieser mutet in seiner stoßweise sich entfaltenden, ganz und gar des Melos entbehrenden und von jeglicher Klavierbegleitung häufig alleingelassenen deklamatorischen Rhetorik wie das verzweifelte Herausschreien von tiefer Seelenpein an. Es steigert sich darin vom anfänglichen Piano bis ins Fortissimo, vom Klavier mal in seinem rezitativisch-deklamatorischen A-Cappella-Gestus nur kommentiert, mal darin akzentuiert, und erst am Ende, beim affektiv ausgerichteten „Lebt wohl“, kommt ein leicht wehmütig angehauchtes Piano-Melos in die Melodik, und das Klavier lässt, ablassend von diesem Gestus, nur noch zwei einsame arpeggierte Akkorde erklingen.


  • „Vor dem Schloß in den Bäumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Über die ganze erste lyrische Strophe hin wechseln Klaviersatz und Melodik miteinander ab. Diese erklingt also durchweg ohne Klavierbegleitung, und da die Liedmusik mit einem fünftaktigen Klaviersatz einsetzt, diesem also gleichsam der Primat zukommt, gewinnt man den Eindruck, dass er gleichsam den klanglichen Raum und die atmosphärische Aura entwirft, in denen die melodische Linie der Singstimme sich entfaltet.

    Es ist ein Raum und eine Atmosphäre von klanglich irrlichternder Zerrissenheit, und der Begriff „melodische Linie“ ist eigentlich unangebracht, denn ein Melos wohnt dem Vortrag der Singstimme nicht inne, die Linie, in der sie sich deklamatorisch entfaltet, ist wesenhaft rezitativisch geprägt. Reimann greift damit den Sachverhalt auf, dass der vierte Vers der ersten Strophe die Aussagen aller anderen Verse als die eines lyrischen Ichs ausweist, so dass dessen Wesen, seine existenzielle Grundsituation und emotionale Befindlichkeit von Anfang an in die Melodik Eingang finden müssen. Sie muss also Ausdruck eines Spielmanns sein, dem Gesang nicht mehr gelingen will, so dass er sich im „Schrei“ artikulieren muss.

    Über fünf Takte erstreckt sich im Diskant der geradezu riesige Bogen aus Sechzehnteln, mit dem die Liedmusik einsetzt. Er entfaltet sich vorwiegend in Sekundintervallen, und der Anstieg, auf der Ebene eines tiefen „E“ ansetzend, nimmt veritable zwei Oktaven ein, so dass der Bogen auf der Ebene eines zweigestrichenen „F“ aufgipfelt, um sich danach zweieinhalb Takte lang zu seinem Ausgangspunkt wieder abzusenken. Das geschieht bemerkenswerterweise im Pianissimo und wiederholt sich nach der Deklamation der Worte des ersten Verses auf identische Weise noch einmal, nun aber im Bass von sprunghaft angelegten Achtelfiguren begleitet. Die musikalische Evokation des Raumes, in dem das lyrische Ich sich artikuliert, erfolgt auf in ihrer klanglich irrlichternden Rasanz höchst eindrückliche, in ihrem Pianissimo aber zugleich geisterhaft anmutende Art und Weise.

    Im Piano entfaltet sich auch die Melodik auf den Worten „Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht“. Und auch hierbei stellt sich nicht zuletzt deshalb die Anmutung von atemloser Geisterhaftigkeit ein. Vor allem liegt das aber an ihrer Struktur. Nach einer leicht gedehnten Tonrepetition vollzieht die melodische Linie einen zweimaligen Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, um danach eine Sexte tiefer bei „rauschend“ eine vierschrittige Legato-Figur aus Sechzehntel-Sekundfall und Quartsprung mit Tonrepetition zu beschreiben, die, wie eine klangliche Imagination dieses Wortes und eben deshalb auch ein wenig geisterhaft anmutet. Auf dem Wort „weht“ liegt dann eine kleine Dehnung auf der gleichen Ebene, auf der sich gerade die deklamatorische Tonrepetition ereignete.

    Unmittelbar danach lässt das Klavier noch einmal den so weit gespannten Sechzehntelbogen erklingen, mit dem es die Liedmusik eröffnete. Er stellt eine von jenen klanglichen Chiffren dar, die die Welt des Spielmanns und sein Leben darin musikalisch erstehen lassen. Man könnte sie als klangliche Imagination der Aussage des ersten lyrischen Verses verstehen. Aber ich denke, dann hätte man sie in ihrer Aussage zu eng verstanden. In ihr klingt auch das irre Jagen auf, in dem sich das Leben des Spielmanns entfaltet.

    Die, wieder ohne Klavierbegleitung vorzutragende, Melodik auf den Worten „Unter den Fenstern ein Spielmann geht“ empfindet man wie eine Fortsetzung derjenigen des ersten Verses, denn sie weist den gleichen deklamatorisch hektischen Gestus auf. Nach einem Auf und Ab in oberer Mittellage ereignet sich ein Sextsprung zur gleichen tonalen Ebene des hohen „Es“ wie dort, und danach beschreibt die melodische Linie wieder einen Fall, nun sogar über das große Intervall einer Oktave, um danach in einen rasanten Anstieg zur Ebene eines hohen „B“ überzugehen und schließlich ebenfalls, nur eine Terz tiefer, in einer Tonrepetition mit kleiner Dehnung zu enden.

    Die nun nachfolgende Chiffre, der an diese Melodiezeile sich anschließende dreitaktige Klaviersatz, mutet nun aber wirklich wie die Einleitung zur Melodik auf den Worten des dritten Verses an, denn sie besteht aus quintolischen Figuren, in denen sich Sprünge und Stürze von Achteln über riesige Intervalle vom extrem hohen Diskant bis zu abgrundtiefen Bass ereignen.
    Da klingen, so kann an das verstehen, die „irren Töne“ auf, von denen der dritte Vers spricht, und tatsächlich vollzieht die melodische Linie auf diesen Worten auch ein sprunghaftes Auf und Ab in Achtelschritten, dies natürlich über kleinere Intervalle, aber immerhin von einer Sexte bis zur None reichenden. Bei den Worten „verlockend den Sinn“ geht sie dann, die lyrische Aussage derselben reflektierend, zu einem quartolischen Auf und Ab in Sekundintervallen auf hoher Lage über, in dem durch einen eingelagerten Sechzehntelfall mit nachfolgend vermindertem Sekundanstieg im Legato der Semantik des Wortes „verlockend“ Ausdruck verliehen wird.

    Der vierte Vers ragt aus der ersten Strophe heraus, ist von seiner lyrischen Aussage her von ganz anderer Qualität als die drei vorangehenden Verse. Diese stellen, da man noch nicht weiß, wer sie artikuliert hat, gleichsam sachlich ausgerichtete lyrisch-sprachliche Deskription dar. Beim vierten Vers aber handelt es sich um das Bekenntnis eines lyrischen Ichs. Und dieser Sachverhalt findet, wie könnte es anders ein, angesichts der strikten Wortgebundenheit von Reimanns Liedkomposition, auch seinen Niederschlag in der Liedmusik. Schon der der Melodik wie üblich vorangehende Klaviersatz ist nun von ganz anderer Art. Keine Sechzehntel in Gestalt von weit ausgreifenden Ketten oder statischem Hingetupft-Sein mehr, sondern eine im Diskant aufsteigend angelegte und damit gleichsam zur Melodik hinführende Folge von vier sechs- und fünfstimmigen Akkorden, von denen der erste ein „mf“ vorzutragender arpeggierter ist, die anderen aber piano erklingen.

  • „Vor dem Schloß in den Bäumen“ (II)

    Mit einer heftig anmutenden, weil in hoher „Es“-Lage ansetzenden und über die großen Intervalle einer Sexte und einer Septe (im Sprung) sich ereignenden Fall- und Sprungbewegung setzt die melodische Linie auf der Worten „der Spielmann“ ein. Sie reflektiert die innere Erregung des lyrischen Ichs. Und im gleichen deklamatorischen Gestus, nur nun im kleineren Intervall einer Sexte setzt sie sich bei „aber ich selber bin“ in der tonalen Ebene auf mittlere Lage ab, um über einen Quintfall bei „bin“ in einer kleinen Dehnung zu enden.

    Nun, mit der zweiten Strophe, wandelt sich das Verhältnis von Melodik und Klaviersatz. An die Stelle eines solistischen Nacheinanders tritt ein Zusammenspiel. Aber das ist nur ein formales, insofern beide zugleich erklingen, dabei aber ihre absolute Autonomie beibehalten, so dass man von einem wirklichen „Zusammen“ eigentlich nicht sprechen kann. Und im übrigen wird dieser fakturielle Sachverhalt auch nicht durchgehalten, erklingt doch mehrmals noch die melodische Linie mehr oder weniger lang a capella.

    Vor dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe setzt das Klavier im Diskant wieder mit seinen Legato-Sechzehntel-Folgen ein, die nun aber noch stärker irrlichternd wirken, weil sie nicht mehr als bogenförmige Kette angelegt sind, sondern erst als zweimaliges Aufwärts, dann als fallende Kennte und schließlich als sprunghaftes Auf und Ab. Und überdies kommt nun, anders als in der ersten Strophe, auch der Klavierbass zum Einsatz, und dort ereignet sich Ähnliches wie im Diskant, nur zumeist als gegenläufige Bewegung von Achteln, was den Klaviersatz noch dichter und expressiver macht. Als klangliche Chiffre reflektiert er das lyrische Bild vom lyrischen Ich als ein Dahin- und Vorüberjagen.

    Die melodische Linie auf den Worten „Vorüber jag ich an manchem Schloß“ setzt, und dies nun nicht mehr im Piano, sondern im Mezzoforte, im zweiten Takt dieses Klaviersatzes ein. Reimann lässt nun von dem Verfahren ab, jeden Vers in eine geschlossene, also pausenlose Melodiezeile umzusetzen, erst der letzte Vers der zweiten Strophe ist wieder als ununterbrochene Melodiezeile angelegt. Hier, beim ersten Vers, beschreibt die melodische Linie nach einem anfänglich Ab und Auf über große Intervalle, das dem Wort „Vorüber“ starken Ausdruck verleiht, bei „jag ich“ einen Anstieg in hohe Lage, dann tritt eine Sechzehntelpause in sie, und bei den Worten „an manchem Schloss“ wieder zu ihrem anfänglichen deklamatorischen Gestus des Auf und Abs zurück, nun aber in Gestalt von kleineren Intervallen. Und diese kleine zweite Teil der Melodiezeile erklingt sogar a-cappella.

    Dass sich die Wanderschaft des lyrischen Ichs an „manchem Schloss“ vorbei ereignet, das ist zwar auch insofern bedeutsam, dass es die Ausgeschlossenheit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, bedeutsamer ist aber noch im Hinblick auf seine existenzielle Grundbefindlichkeit, dass dies „jagend“ geschieht. Deshalb entfaltet sich die melodische Linie im ersten Teil in größerer Expressivität, und sie ist in den dieses „Jagen“ klanglich evozierenden Klaviersatz gebettet. Und dieser setzt sich in der fast zweitaktigen Pause für die Melodik des zweiten Verses in dieser Grundstruktur fort, nur dass an die Stelle der nach oben schießenden Sechzehntel-Ketten nun durchweg ein wellenförmiges Auf und Ab sowohl im Diskant, wie auch im Bass tritt. Der dritte Vers enthält in den Worten „Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß“ ja nicht ein bewegtes, das Leben des lyrischen Ichs beschreibendes lyrisches Bild, sondern dessen daraus hervorgehendes Äußere und das seines „Rosses“.

    Wieder setzt die melodische Linie erst nach dem Erklingen des Klaviersatzes, dieses Mal sogar erst in dessen drittem Takt ein. Das Wort „zerwühlet“ erfährt dadurch eine Akzentuierung, dass sie melodische Line nach einem verminderten Quartfall einen in eine Dehnung mündenden Anstieg über Terz und eine Quinte beschreibt, und in der nach einer Viertelpause erklingenden zweiten Hälfte der Melodiezeile steigert dich die melodische Linie in noch größere Expressivität. Nun soll sie sogar forte vorgetragen werden. Sie setzt mit einem Legato-Vorschlag in Gestalt eines Quintsprungs ein und steigt drei deklamatorischen Schritten über immer größere Intervall bis zur extrem hohen Lage eines zweigestrichenen „G“ empor, um sich dort bei „Ross“ einer kleinen Dehnung zu überlassen. Diese kleine Zeile erklingt wieder einmal a cappella, das Klavier fügt ihr aber gleichsam im Nachschlag einen Bass und Diskant übergreifenden sechsstimmigen arpeggierten Akkord hinzu.

    In dieser Weise ist auch die Melodik auf den Worten „Du frommes Kindlein im stillen Haus“ angelegt. Die melodische Linie bewegt sich zunächst a cappella in Gestalt eines Auf und Abs in Gestalt kleiner Intervalle in hoher Lage, in der nachfolgenden Achtelpause erklingt wieder der gleiche arpeggierte Akkord, und bei den Worten „im stillen Haus“ beschreibt sie, nun wieder ohne Klavierbegleitung, einen mit einem Sekundfall einsetzenden Anstieg über eine kleine Sekunde und eine Terz in oberer Mittellage. In der sich anschließenden zweitaktigen Pause lässt das Klavier, wie es das schon einmal vor der Melodik des vierten Verses der ersten Strophe tat, wieder eine in Bass und Diskant auseinanderlaufenden Folge von vier- bis sechsstimmigen Akkorden erklingen, und wie dort ist das wohl als Vorab-Verweis auf die Bedeutsamkeit der nun erklingenden melodischen Aussage aufzufassen.

  • „Vor dem Schloß in den Bäumen“ (III)

    Bedeutsam sind sie ja, diese Worte „Schau nicht nach mir zum Fenster hinaus“, bringen sie doch indirekt die Gefahr zum Ausdruck, die von diesem Spielmann und seinen Liedern ausgeht. Und die melodische Linie, die nun erneut a cappella vorgetragen wird und bemerkenswerterweise Piano, reflektiert in ihrer Anlage auch auf eindrückliche Weise dieses Gefahrenpotential. In schnellen, durch die Einlagerung von Sechzehnteln und mit Vorschlag versehenen Sprungfiguren geradezu hektisch wirkenden deklamatorischen Schritten eilt sie in hoher Lage dahin und klingt in einer kleinen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „G“ auf der zweiten Silbe von „hinaus“ aus. Das Klavier kommentiert ihre Aussage nicht, denn die Figuren, die es forte nach einer kleinen Achtelpause erklingen lässt, sind der nun einsetzenden Melodik auf den Worten der dritten Strophe als Begleitung zugedacht.

    Man kennt sie schon. Sie erklangen erstmals nach der Melodik auf den Worten „Unter den Fenstern ein Spielmann geht“, und ihr Auf und Ab von Achteln über riesige, vom tiefen Bass bis zum extrem hohen Bass sich erstreckende Intervalle Sie evozieren als klangliche Chiffre irrwitzige Hektik und begleiten darin die Melodik bis zum Ende des dritten Verses der dritten Strophe. Und diese entfaltet sich in eben diesem Gestus irrwitzig schneller, in Achtel- und Sechzehntelschritten über kleine und große Intervalle in vorwiegend hoher und bei dem Wort „verzweifelter“ in der tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage aufgipfelnder Bewegung, um erst bei dem Wort „Strauß“ innezuhalten. Dies aber auf höchst expressive Weise, in Gestalt eines in eine längere Dehnung übergehenden Sekundfalls von einem zweigestrichenen „G“ zur Ebene eines „Es“ in hoher Lage, wobei die Sprungbewegungen im Klaviersatz das extreme Intervall von der Ebene eines fünfgestrichenen „E“ im Diskant bis zu der eines dreigestrichenen „E“ im Bass erreicht haben.

    Die Melodik auf den Worten „Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!“ mutet in ihrem quartolischen Auf und Ab wie ein lakonischer Nachtrag dazu an. Sie stellt ohnehin, wie der sie im Klavierdiskant begleitende kontinuierliche Anstieg von Achtelquintolen andeutet, ein Bindeglied zu dem dar, was die nach einer Viertelpause einsetzende Melodik des ersten Verses letzten Strophe zu sagen hat. Die melodische Linie auf den Worten „Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang“ wirkt in dem zweimaligen Übergang eines septolischen Auf und Ab-Anstiegs von Sechzehntels in ein quintolisches von Achteln in hoher Lage wie eine Karikatur von Gesang, und das Klavier unterstreicht das, indem es pro Takt einen einzigen vierstimmigen Achtel-, bzw. Sechzehntelakkord erklingen lässt, als könne das diese Perversion von Gesang begleitende Instrument keinen rechten Klang hervorbringen. Diese Art der Begleitung behält das Klavier nun, wenn es nicht wieder einmal ganz und gar verstummt, bis zum dritten Vers einschließlich bei.

    Auch die Melodik behält den deklamatorischen Gestus, den sie mit den Worten des ersten Verses eingeschlagen hat, bei. In der Abfolge von sprunghaft angelegten Legato-Achtelfiguren wirkt sie wie ein nicht enden wollendes und darin höchst eindrückliches, langsam vom Fortissimo ins Mezzoforte übergehendes Geleier, das, und das ist gleichsam die Krönung dieses wie eine übertriebene Karikatur von Gesang anmutenden Gestus, auf der zweiten Silbe von „verweht“ in einen wahrlich deklamatorisch fünfschrittigen Legato-Sekundanstieg mit anschließend vermindertem Sekundfall endet. Das Klavier hat dazu nur noch einen vierstimmig-dissonanten Achtel-Akkord in tiefer Basslage beizutragen.

    Mit dem letzten Vers lässt Reimann die Liedmusik von der - meines Erachtens zweifelhaften, weil ins Extrem getriebenen - Karikatur von melodischer Gesanglichkeit zum Gestus eindeutiger Ernsthaftigkeit übergehen. Er kann gar nicht anders, wenn er denn die Aussage „Lebt wohl“ so auffasst, wie sie vom lyrischen Ich gemeint ist, - als möglicherweise in den Tod führendes Ausscheiden aus der menschlichen Gesellschaft.
    Ein arpeggierter sechsstimmig dissonanter Akkord geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Auf diesen Worten beschreibt sie einen in eine Dehnung übergehenden, a cappella und piano vorzutragenden verminderten Sekundfall von einem hohen „E“ zu einem „Es“. Erst im Nachhinein lässt das Klavier wieder den gleichen Arpeggio-Akkord erklingen, und auf diese Weise wird die Liedmusik in der Tat dem semantischen und auch dem affektiven Gehalt dieser lyrischen Aussage gerecht.

    Erst nach einer Viertelpause setzt die melodische Linie ihre Bewegungen fort, und dies auch nicht bis zum Ende des letzten Verses. Vor den Worten „wohin es geht“ wird sie darin noch einmal von einer Achtelpause unterbrochen, und diese, sich auch in der Struktur der melodischen Linie auf diesen Worten niederschlagende Ausführlichkeit der liedmusikalischen Reflexion des letzten Verses ist durchaus als Beleg für die Gründlichkeit und Tiefe des kompositorischen Umgangs mit den Versen Eichendorffs aufzufassen.
    Da die Worte „und fragt nicht“ eine Aufforderung beinhalten, beschreibt die melodische Linie erst einen Legato-Bogen in oberer Mittellage und anschließend eine verminderten Quartsprung in hohe, um sich von dort wiederum legato um eine kleine Sekund abzusenken. Das geschieht wieder ohne Klavierbegleitung, und wie auch bei den anderen Fällen dieser Art gewinnt man den Eindruck, dass Reimann mit diesem a cappella-Prinzip die Nachdrücklichkeit der Aussage dieses wesenhaft einsamen lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen will.

    Die nach einer Achtelpause einsetzende melodische Linie auf den Schlussworten „wohin es geht“ erfährt zwar wieder eine Klavierbegleitung, diese zeichnet sich aber durch eine bemerkenswerte klangliche Dürftigkeit aus. Durchgehend besteht sie nur aus zwei- und dreistimmigen, mal steigend, dann aber wieder fallende angelegten Achtelfiguren im Bass, die aber quintolische darstellen, weil sie von Achtelpausen unterbrochen werden und deshalb wie nur hingetupft wirken. In diesem Aus- und Verklingen reflektiert der Klaviersatz den Geist der melodischen Linie. Denn diese mutet in der Art ihrer Entfaltung ebenso an. Auf dem Wort „wohin“ beschreibt sie im Piano einen Legato-Anstieg zur Ebene eines „D“ in hoher Lage, um sich dort auf der zweiten Silbe dieses Wortes einer Dehnung zu überlassen. Auf „es“ liegt ein verminderter Sekundfall, zu dem Wort „geht“ hin wird daraus dann aber ein großer, und auf dieser tonalen Ebene, der eines „C“ in hoher Lage also, klingt die melodische Linie in Gestalt einer langen Dehnung aus.

    Im dreitaktigen Nachspiel lässt das Klavier seine nun nur noch zweitönigen Achtelfiguren in der Tiefe des Basses versinken, und am Ende erklingt nur noch ein einsames dreigestrichenes Achtel-„G“. Es ist ein liedmusikalisches Ersterben, was sich da in der Melodik und im Klaviersatz des letzten Verses ereignet, und man darf darin, wie ich denke, durchaus vernehmen, dass der Weg dieses einsamen Spielmann-Ichs einer in den Tod ist.

  • Lied 4: „Hörst du die Gründe rufen“

    Hörst du die Gründe rufen
    In Träumen halb verwacht?
    O, von des Schlosses Stufen
    Steig nieder in die Nacht! --

    Die Nachtigallen schlagen,
    Der Garten rauschet sacht,
    Es will dir Wunder sagen,
    Die wunderbare Nacht.

    Diese zwei kleinen Strophen verkörpern den Inbegriff von Eichendorff-Lyrik, und dies in allen ihren Bereichen: Der lyrischen Sprache, ihrer prosodischen Gestalt, ihrer Metaphorik und der aus ihrem evokativen Potential hervorgehenden poetischen Aussage. Die Sprache ist vom Hellen ins Dunkler absinkenden Vokalen und den sonoren Konsonanten „l“, „m“ und „n“ geprägt. Sie ist auf diese Weise in ihrer Klanglichkeit zu Musik geworden. „Nacht“ ereignet sich, und dies, wie typisch für Eichendorff, in Gestalt von wesenhaft zarte und leise Bewegung beinhaltenden lyrischen Bildern. Der Garten rauscht „sacht“ und die Urgründe dieser Welt rufen aus der Tiefe wie aus Träumen kommend nur „halb verwacht“. Das Schlagen der Nachtigall stört dieses Bild von urgründiger Ruhe nicht, denn es generiert Ferne und Weite.

    Eichendorff gestaltet hier poetisch „Nacht“ allein mit einer Metaphorik ohne lyrisches Ich. Das ereignet sich im sprachlichen Gestus der Ansprache an ein imaginäres „Du“, und indem der Rezipient sich mit diesem identifiziert, wird er durch diese sich in gleichförmig dreifüßigen Jamben, Kreuzreim und dem Wechseln von klingender und stumpfer Kadenz entfaltende, onomatopoetische Folge von suggestiver Metaphorik hineingezogen und erfährt das, was die „Nacht“ ihm zu sagen hat. „Wunder“ sind es, die reale Welt transzendierende und zu deren Urgrund hinführende Erfahrungen also. Eichendorff intensiviert diese Erfahrung durch eine bewusst eigesetzte sprachliche Operation, die ein Lyriker tunlichst meiden sollte: Die Wiederholung eines Wortes in zwei aufeinanderfolgenden Versen. Hier ereignet sich das mit dem für die lyrische Aussage fundmentalen Wort „Wunder“ in den letzten beiden Versen.

    Konnte man, wie das mir beim dritten Lied erging, einmal den Eindruck gewinnen, dass Reimann in seinem konsequenten kompositorischen Ansatz an der lyrischen Sprache dem spezifischen Geist der Eichendorff-Lyrik, deren spezifischem affektiven Potential nicht voll und ganz gerecht wurde, so ist das hier in keiner Weise der Fall. Dieses Lied stellt ohne Zweifel das romantischste in diesem Zyklus dar. Weitaus stärker als in den übrigen vier Kompositionen entfaltet sich hier die Melodik in liedhaft gebundener und phrasenhaft weiter angelegter Weise, die Musik erfasst sowohl den semantischen, wie auch den affektiven Gehalt der lyrischen Bilder, fängt sozusagen die Stimmung des lyrischen Textes ein und sie reflektiert in der taktförmigen Gleichförmigkeit ihres Verlaufs auch die prosodischen Gegebenheiten desselben.


  • Das Konzept, das diesem Thread zugrunde liegt, ist - wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf, geschätzter Thomas Pape - nicht das der "persönlichen Perspektive", sondern das einer auf objektive Sachlichkeit ausgerichteten liedanalytischen Betrachtung.

    [...]

    In der Tat stand Reimann als Liedkomponist (auch als Komponist ganz allgemein) aus grundsätzlichen Erwägungen seitab vom europäischen Serialismus, wie er in Deutschland in dominanter Weise von der "Darmstädter Schule" repräsentiert wurde und über dem die Vermeidung, ja das Verbot der Verwendung gleichsam gebrauchsfertiger Ausdrucksmittel (Adornos "Kanon des Verbotenen") wie ein Motto schwebte. Diesem Motto beugte Reimann sich nicht. In diesem Sinn ist mein in keiner Weise wertend eingesetzter Begriff "liedmusikalischer Außenseiter" zu verstehen.


    Dies im Einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen ist Absicht und Ziel dieses Threads. Der Aspekt der Rezeption seines kompositorischen Schaffens, zu dem ja auch die Beliebtheit gehört, bleibt dabei völlig außen vor.

    Dann ist für Dich Henze auch ein Außenseiter, hm? Also daran, ob jemand seriell gearbeitet hat, kann man das wohl nicht festmachen. Zudem begann er ja zwölftönig in Webern-Nachfolge, ganz der damaligen Ästhetik gemäß, dass ein Fortschwimmen in der Nachromantik aufgrund nationalsozialistischer Kontamination nicht möglich und die Wiener Schule, die ja im 3. Reich verboten war, der ideale Ausgangspunkt sei. Und er folgte Webern insofern auch weiterhin, als er "Geschwätzigkeit" mied. Einen Gegensatz zu Adorno sehe ich da erstmal nicht. Ich finde auch keine Texte, in denen Reimann aus "Außenseiter" bezeichnet würde. Ich vermute mal, dass die Ursache für Deine (Fehl-)Zuordnung eine Art Feindseigkeit gegenüber serieller Musik Deinerseits ist?

  • Dann ist für Dich Henze auch ein Außenseiter, hm?

    (...)

    Ich vermute mal, dass die Ursache für Deine (Fehl-)Zuordnung eine Art Feindseigkeit gegenüber serieller Musik Deinerseits ist?

    Von einer "Feinseligkeit gegenüber serieller Musik" meinerseits kann keine Rede sein.

    Ich gewann diesen Eindruck aus dem Vergleich der Liedkompositionen Reimanns mit denen der anderen, seiner Generation angehörenden Repräsentanten der Moderne.

    Aber wenn der Titel dieses Threads dich stört, Du sogar von einer "Fehleinschätzung" sprichst, dann kann er gerne geändert werde. Du verfügst ja über die Möglichkeit dazu.

    Ich schlage vor: "Aribert Reimann. Eine Betrachtung ausgewählter Liedkompositionen".

    Mir soll´s recht sein. Ich bitte darum.

  • kurzstueckmeister

    Hat den Titel des Themas von „Aribert Reimann. Ein liedmusikalischer Außenseiter der Moderne“ zu „Aribert Reimann. Eine Betrachtung ausgewählter Liedkompositionen“ geändert.
  • Ich bedanke mich für die so rasche Erfüllung meiner Bitte um Änderung des Thread-Titels.

    Ich hätte diesen, wie ich jetzt einsehe, sprachlich so nicht anlegen sollen, weil er eine Komponente subjektiver Wertung enthielt, also nicht in der gebotenen Weise sachlich-neutral formuliert war.

    Beschäftigt habe ich mich außer mit Wolfgang Rihm, zu dem ich ja hier einen Thread eingestellt habe, vor allem mit Stockhausen und Henze. Das aber nicht sehr gründlich und tiefgehend.

  • „Hörst du die Gründe rufen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Dem Einsatz der Melodik geht ein fünftaktiges Vorspiel voraus, und wie in Reimanns Liedkomposition üblich, kommt ihm nicht die Funktion einer Einführung in deren Aussage zu, es ist vielmehr der Beginn einer ganz und gar eigenständigen, und dieses mit dem Vorab-Auftritt betonenden, Auseinandersetzung des Klaviersatzes mit der Aussage des lyrischen Textes. Wie auch die Melodik entfaltet er sich darin auf vollkommen autonome Weise, nur vereinzelt vernimmt man auch eine Bezugnahme auf diese in Gestalt einer Akzentuierung von deren Aussage oder einer Kommentierung derselben in einem kurzen Nachspiel. Wenn man so will, kann man in diesem Vorspiel sogar den gleichen Gestus vernehmen, in dem diese sich entfaltet, darin bekundend, dass beide, Klaviersatz und Melodik, den lyrischen Text in allen seinen semantischen und metaphorischen Dimensionen ausloten wollen.

    Denn dieses Vorspiel atmet auf bemerkenswerte Weise melodischen Geist. Aus einem Bass und Diskant übergreifenden lang gehaltenen fünfstimmigen Akkord geht erst ein ebenfalls lang erklingender Sekundfall in tiefer Diskantlage, dann ein Auf und Ab von Vierteln hervor, das über einen mit einem Legato-Vorschlag versehenden Sekundfall legato in eine dreifache Akkordfolge im Diskant mündet. Im fünften Takt des Vorspiels tritt an diese durchaus melodiös angehauchte Klanglichkeit allerdings eine Staccato-Folge von Achteln im Pianissimo, und beides, mehrstimmiger Akkord und ein Auf und Ab von Achteln bilden auch mit Sechzehntel-Ketten zusammen die Grundsubstanz des Klaviersatzes. Und ebenfalls bemerkenswert dabei ist, dass diese Akkorde zwar dissonant sind, aber zumindest im Vorspiel einen deutlich vernehmbaren konsonanten Kern in den Tonarten „Cis“, „Gis“ und „E“ aufweisen. Von Anfang an also reflektiert die Liedmusik die dem lyrischen Text innewohnende Gesanglichkeit.

    Dass dies, wie bereits hervorgehoben, auch bei der Melodik der Fall ist, lässt sich gleich in deren erster, den ersten Vers beinhaltenden und in eine Viertelpause mündenden Zeile vernehmen. Auf den Worten „Hörst du die Gründe rufen“ entfaltet sich die melodische Linie auf überaus ruhige, weil in zumeist lang gedehnten Schritten im Auf und Ab in oberer Mittellage erfolgende Weise, wobei nur einmal, nämlich bei der Dehnung auf „Gründe“ eine Sprungbewegung über ein größeres Intervall stattfindet. Aber es ist nur eine Quarte. Das Wort „rufen“ erfährt einen seinen semantischen Gehalt auf eindrückliche Weise reflektierenden verminderten Sekundfall in Gestalt einer Dehnung auf beiden Silben in oberer Mittellage, wobei die zweite mit einem Legato-Achtelvorschlag versehen ist. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile mit den erwähnten Figuren Akkord und über große Intervalle sich erstreckende Staccato-Achtel-Sprüngen. Bei der melodischen Dehnung auf „rufen“ beschreiben diese eine Aufwärtsbewegung, und das ist so ein Fall, bei dem der Klaviersatz einen Bezug zur Melodik im Sinne einer Akzentuierungsfunktion aufweist. Er verbleibt dabei aber, wie durchweg bei dieser Melodiezeile, im Pianissimo.

    Bei der zweiten, die Worte „In Träumen halb verwacht“, des zweiten Verses also beinhaltenden Melodiezeile ist das nicht mehr der Fall. Hier entfaltet der Klaviersatz größere Expressivität, und zwar dergestalt, dass auf den im Pianissimo vorzutragenden Achtel-Anstieg im Bass, mit dem das Klavier den lang gedehnten, den affektiven Gehalt reflektierenden melodischen Sekundfall in hoher Lage auf dem Wort „Träume“ begleitet, bei dem verminderten Sekundfall auf dem Wort „halb“ ein mezzoforte angeschlagener fünfstimmig dissonanter Akkord nachfolgt. Aber dem kommt, auch weil es sich dabei um einen in das expressive Nachspiel übergehenden handelt, ganz offensichtlich die Funktion zu, den in eine lange Dehnung in hoher Lage mündenden verminderten Sekundanstieg auf dem Wort „verwacht“ zu akzentuieren. Es bringt lyrisch ja den sich allerdings nur halbwegs ereignenden realweltlichen Einbruch in aus den „tiefen Gründen“ aufsteigenden „Träumen“ zum Ausdruck. Aber dass es sich dabei um ein bedeutsames Ereignis handelt, mach das Klavier dadurch vernehmlich, dass die lange Dehnung auf der zweiten Silbe von „verwacht“ mit einer den ganzen Takt einnehmenden Folge von bitonalen Staccato-Achtel-Akkorden und Einzelachteln begleitet.

  • „Hörst du die Gründe rufen“ (II)

    Im zweiten Verspaar der ersten Strophe wird das imaginäre lyrische Du aufgefordert, in die Nacht niederzusteigen. Aber es ist eigentlich keine Aufforderung, eher ein Locken, wie der anfängliche Ausruf „O“ nahelegt. Und Reimann hat das auch so aufgefasst, wie seine Liedmusik vernehmen lässt. Die melodische Linie setzt, mit nur einem aus dem am Ende der Pause „mf“ angeschlagenen sechsstimmigen Sechzehntelakkord hervorgehenden lang gehaltenen „Gis“ im Diskant begleitet, mit verminderten und einem großen Sekundfall auf der Ebene eines „Cis“ in hoher Lage ein und reflektiert darin eben diesen Ausruf, zu dem Wort „Schlosses“ beschreibt sie einen verminderten Quartsprung zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage und geht dort in einen dieses Wort mit einem Akzent versehenden gedehnten verminderten Terzfall über, den das Klavier in hoher Diskantlage mit einem quintolischen Auf und Ab in Sekundintervallen begleitet. Auf dem Wort „Stufen“ liegt dann gedehnter Sekundschritt aufwärts in oberer Mittellage, der durch den Klaviersatz eine starke Hervorhebung durch einen „mf“ angeschlagenen achtstimmig arpeggierten Akkord und eine sich anschließende Folge von partiell gegenläufigen Vierten im Diskant und Staccato-Achteln im Bass erfährt.

    Mit dieser modifizierten Figur begleitet das Klavier auch die nach einer Vierachtelpause ihre Bewegung fortsetzende melodische Linie auf den Worten „steig nieder in die Nacht“, und weil sich diese wirre Folge von Vierteln und Achteln in Bass und Diskant in der zweitaktigen Pause für die Singstimme nun aber nur im Diskant fortsetzt, dies nun sogar im Sforzato, kann man sie durchaus als klangliche Imagination dieses „Niedersteigens“ in die Nacht auffassen und verstehen. Es ist ja auch ein lyrisch bedeutsames Ereignis, weil sich darin ein Befolgen des „Rufs“ aus den „Gründen“ ereignen soll und damit eine potentielle Entgrenzung des Menschen in seiner Individuation als Ich. So jedenfalls Eichendorffs spätromantisches Denkmodell, wie es auf vielgestaltige Weise in seiner Lyrik Ausdruck findet, so zum Beispiel in der berühmten „Mondnacht“.

    Reimann verleiht diesem so bedeutsamen Vorgang des „Niedersteigens“ den ihm gebührenden und darin stark ansprechenden Ausdruck. Alle deklamatorischen Schritte ereignen sich auf gedehnte Weise und beschreiben dabei einen ruhigen Fall über verminderte Sekundintervalle von der tonalen Ebene eines „Fis“ zu der eines „Es“ in oberer Mittellage. Das ist in der Tat die melodische Imagination eines Niedersteigens, wobei dessen spezifischer Eichendorfscher Geist dadurch in die Melodik eingebracht wird, dass die Ruhe, in dem er erfolgt, klanglich in die quintolischen und sextolischen Achtelfiguren in Bass und Diskant eingebettet ist, die sich im Nach- und Zwischenspiel sogar in ein „sf marc.“ fortsetzen und steigern.

    Den deklamatorischen Gestus der gebundenen Entfaltung in ruhigen, stark gedehnten Schritten behält die melodische Line auch bei der zweiten Strophe bei. Bei deren erstem Verspaar ist er sogar noch stärker ausgeprägt und entfaltet beim zweiten Vers durch den Aufstieg in hohe Lage große Expressivität. Auf dem Wort „Nachtigallen“ liegt eine lange Dehnung, aber nicht etwa in Gestalt eines auf einer Ebene gehaltenen Tones. Das ist nur auf dem Wortteil „Nach-“ der Fall. Danach geht die melodische Linie einen verminderten Sekundsprung über, der der Nachtigall wegen mit einem melismatischen Vorschlag versehen ist, überlässt sich auf der tonalen Ebene eines „B“ in hoher Lage einer langen Dehnung, um danach wieder zur Ausgangsebene zurückzukehren. Auch das zugehörige Wort „schlagen“ ist melodisch in dieser Weise angelegt. Von derselben tonalen Ebene eines „D“ in oberer Mittelage aus vollzieht die melodische Linie erneut einen Sprung mit nachfolgender Dehnung, nur dass es dieses Mal nur einer über das Intervall einer Sekunde ist und nun der Fall am Ende mit einem melismatischen Vorschlag versehen ist und über eine kleine Sekunde erfolgt.

  • „Hörst du die Gründe rufen“ (III)

    In der nachfolgenden Viertelpause lässt das Klavier erst forte einen neunstimmigen arpeggierten Akkord erklingen und danach, als Begleitung der Melodik auf den Worten „Der Garten rauschet sacht“ eine extrem lange Kette von Sechzehnteln im Diskant, die zunächst eine wellenartige Bewegung beschreibt, am Ende aber, vor den Worten „rauschet sacht“ in einen Fall zu tiefer Diskantlage übergeht. Diese beiden Worte werden dann a cappella vorgetragen. Zuvor beschreibt die melodische Linie auf den Worten „der Garten“ einen ausdrucksstarken, weil in Gestalt eines in stark gedehnten Schritten über das Intervall einer Quinte erfolgenden Anstieg in hohe Lage, von wo aus sie dann in einen wiederum gedehnten verminderten Sekundfall übergeht. Bei „rauschet sacht“ vollzieht sie anschließend einen expressiven Aufstieg über ein Quarte und eine Sekunde zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, um sich dort bei dem Wort „sacht“ einer langen Dehnung zu überlassen. Und während die ausklingt, setzt das Klavier wiederum forte seinen neunstimmig arpeggierten Akkord hinein, dem nun allerdings keine Sechzehntelkette nachfolgt, sondern ein mit Portatozeichen versehener Fall von Achteln aus extrem hoher Diskantlage.

    Mit dieser auf ruhig gebundene Weise einen Aufstieg in hohe Lage beschreibenden Melodik und dem zugehörigen klanglich expressiven Klaviersatz hat Reimann das evokative Potential dieser beiden typischen Eichendorff-Bilder in voll adäquate Liedmusik umgesetzt. Und dazu ist er, und das ist bemerkenswert, in der Melodik von dem ansonsten in diesem Zyklus vorherrschenden Gestus des deklamatorisch-rezitativischen Gestus stark abgewichen. Das ist es, was ihn unter den zeitgenössischen Liedkomponisten auszeichnet.

    Diesen Gestus der gebundenen, ihr Melos verströmenden Entfaltung behält die melodische Linie auch bei den beiden letzten Versen bei. Deren lyrische Aussage erfordert dies geradezu. Auf den Worten „Es will dir Wunder sagen“ beschreibt sie, auf der tonalen Ebene eines „H“ in hoher Lage ansetzend, im Mezzoforte einen behutsam gedehnten, weil nur in kleinen Sekunden erfolgenden triolischen Fall. Das Wort „Wunder“ erfährt die ihm gebührende Hervorhebung dadurch, dass die melodische Linie nach einem Terzsprung zur Ebene eines „E“ in hoher Lage in einen gedehnten Sekundfall übergeht. Diese Fallbewegung setzt sich nun zu dem Wort „sagen“ hin nicht einfach in Gestalt eines weiteren deklamatorischen Schrittes fort. Das wäre der Bedeutung dessen, was sich hier ereignet, unangemessen. Also legt Reimann auf die erste Silbe eine lange Dehnung auf der Ebene eines hohen „Gis“ und lässt dieser auf der zweiten eine Tonrepetition mit kleiner Dehnung eine verminderte Terz höher nachfolgen. Und wie zur Akzentuierung eben dieser Bedeutung erklingt in der sich anschließenden halbtaktigen Pause wieder im Forte der Bass und Diskant übergreifende zehnstimmig arpeggierte dissonante Akkord, dem ein Sekundsprung von zwei Vierteln in extrem hoher Diskantlage nachfolgt.

    Die Melodik auf den Schlussworten „Die wunderbare Nacht“ mutet wie ein überaus eindrückliches Zur-Ruhe-Kommen der melodischen Linie im deklamatorisch gebundenen Verströmen ihres Melos´ an. Mit einem schon in einer Dehnung auf „die“ erfolgenden Terzsprung zur Ebene eines „C“ in hoher Lage setzt die melodische Linie ein, und der sich nun ereignende Fall über Intervalle von Sekunden und Terzen verströmt deshalb so große Ruhe, weil die deklamatorischen Schritte auf den Silben, die den ersten beiden des Wortes „wunderbaren“ nachfolgen, und auch die auf dem Schlusswort „Nacht“ eine starke Dehnung aufweisen. Diese selbst ereignet sich als Schluss der Melodik auf der Ebene eines „E“ in oberer Mittellage. Das Klavier verleiht ihr in dem, was sie in ihrem ruhigen Fall zum Ausdruck bringt, Akzentuierung dadurch, dass es einen gegenläufigen Anstieg von Achteln und Vierteln in tiefer Basslage erklingen lässt.

    Und auch das viertaktige Nachspiel ist wohl in diesem Sinn zu verstehen. Denn nach dem neuerlichen Erklingen des arpeggierten Fort-Akkordes und einem Sekundfall von drei lang gehaltenen Vierteln in extrem hoher Diskantlage folgen drei wiederum lang gehaltene Piano-Akkorde nach, aus denen sich triolisch Viertel lösen, die ebenfalls einen Sekundfall beschreiben.
    Dann kann man, so denke ich, dieses Nachspiel als Nachvollzug des Falls auffassen, den zuvor die melodische Linie auf den Worten des Schlussverses vollzogen hat, und dies in der Absicht, deren musikalische Aussage zu bekräftigen und zu bestätigen.

  • Lied 5: „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“

    Hier steh ich wie auf treuer Wacht,
    Vergangen ist die dunkle Nacht.
    Wie blitzt nun auf der Länder Pracht!
    Du schöne Welt, nimm dich in Acht!

    Mit dieser Strophe hat sich gleichsam ein Rahmen für diesen Zyklus gebildet. Sie mutet in ihrer lyrischen Sprachlichkeit wie eine Wiederkehr der ersten an, nur dass nun aus dem „vor der Nacht“ ein „nach der Nacht“ geworden ist, aus dem späten Abend der Morgen. Und als beide Strophen verbindendes Element und damit als zentrale lyrische Aussage des ganzen Zyklus erweist sich der unverändert auftretende letzte Vers. „Nacht“ wird wesenhaft als Gefahr erfahren, und da es sich dabei nicht um eine beiläufig und zufällig auftretende potentielle Gefährdung menschlichen Lebens, sondern eine grundsätzlich existenzielle, wird sie in der ersten Strophe zur „ewigen Nacht“, die „der Länder Pracht“ auszulöschen vermag, so dass eine Warnung vor ihr geboten ist und der Mensch „auf die Wacht“ vor ihr ziehen muss.

    Dieser Sachverhalt bleibt, eben weil es sich dabei um einen existenziell grundsätzlichen handelt, auch bestehen, wenn am neuen Morgen „der Länder Pracht“ wieder aufblitzt. Damit erweist sich, dass Reimann in seiner Montage von Eichendorff-Lyrik, das natürliche Realphänomen „Nacht“ als „Nachtseite der menschlichen Existenz“ verstanden hat, und dies durchaus im Einklang mit Eichendorff selbst. Der erste Vers verrät es: Aus dem „Wir“ der ersten Strophe, das „treulich auf die Wacht“ zieht, ist hier ein lyrisches Ich geworden, das sich „wie auf treuer Wacht“ vorfindet. Und damit sind die am Anfang sprachlich allgemeinen gehaltenen lyrischen Aussagen nun am Ende des Zyklus zu Ich-Erfahrungen geworden. Und dies einschließlich der Warnung des Schlussverses.

    Und so nimmt es denn nicht wunder, dass sich auch in der Liedmusik der letzten Strophe eine Wiederkehr ereignet. Dies natürlich, wie könnte es anders sein bei einem Aribert Reimann, nicht in Gestalt einer einfachen Wiederholung melodischer Figuren und gar eines gleich angelegten Klaviersatzes. Aber während man in der Melodik nur so etwas wie eine vereinzelte Wiederkehr und partielle Umkehr von deklamatorischen Schritte wahrzunehmen vermeint, begegnet man im Klaviersatz tatsächlich zwei Figuren wieder, die man vom ersten Lied her kennt.

    Und das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt, manifestiert sich darin doch die bedeutende Rolle, die diesem im Reimanns Liedkomposition zukommt. Es handelt sich um die Auf und Ab-Figur in Sekundschritten, wie sie erstmals im zweiten Takt des Vorspiels des ersten Liedes erklingt und in diesem eine bedeutende Rolle spielt, und um den im tiefen Bass erklingenden Terzen-Akkord, für den das gleiche gilt. Beiden Figuren kommt auch in diesem Lied eine wichtige Funktion zu. Dem terzbetonten Akkord sogar in ganz besonderer Weise, beherrscht er doch auf geradezu überdimensionale Weise die Melodik des letzten Verses und bildet fast ganz allein das lange, ganze neun Takte einnehmende Nachspiel.


  • „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Im viertaktigen, ohne Pause aus dem fünfstimmigen Schlussakkord des Nachspiels von Lied vier hervorgehenden Vorspiels erklingt nichts Anderes als ein gedehntes Legato-Auf und Ab zwischen einem „C“ und einem „Cis“ in unterer Diskantlage, das erst am Ende zu einer mit einem Vorschlag versehenen Triole aus einem „C“ und einem „D“ wird. Wenn man das als eine klangliche Evokation der Situation versteht, in der das lyrische Ich die Worte des ersten Verses ausspricht, dann wäre diese eine von leicht angespannter Ruhe. Zu wirklicher innerer Ruhe kann dieses Ich nicht finden, denn es hält die „Wacht“, von der der lyrische Text des ersten Liedes spricht, eine Wacht, die sich gegen die dunklen, unergründlichen und nicht fassbaren Mächte der Nacht richtet.

    Dass das Wissen darum auch am nun angebrochenen Morgen noch da ist, das könnte diese Klaviersatz-Figur zum Ausdruck bringen. Und so abwegig scheint mir diese Interpretation auch nicht zu sein, stellt sie doch, wie schon erwähnt, eine Übernahme aus dem zweiten Takt des ersten Liedes dar und erweist sich nun als eine der beiden die Substanz des Klaviersatzes bildenden Figuren. Die andere ist der zur Vielstimmigkeit ausgewachsene Terzenakkord, der im ersten Lied nur vereinzelt in tiefer Bass-Untergründigkeit aufklingt und dort als punktuelle Evokation der Bedrohlichkeit von Nacht interpretiert wurde.

    Hier nun ist es vorbei mit dem vereinzelten, wie ein Wetterleuchten anmutenden Auftritt dieses nur maximal vierstimmigen Akkordes, der unbeschadet seiner Terzenhaftigkeit allemal ein dissonanter ist. Nun ist er sechsstimmig geworden, mit einer Sekundreibung am Kopf, und der beherrscht den Klaviersatz vom Ende der Melodik der dritten Strophe an bis einschließlich des Nachspiels ganz allein, und dies im Fortissimo. Und sehe deshalb einen Zusammenhang zwischen der ersten und der zweiten Figur, diese gleichsam als Fortsetzung von jener. Die innere Unruhe, die der ersten innewohnt, manifestiert sich in der zweiten, tritt nun unverhüllt, offen und überdies auch laut auf.

    Denn die Unruhe, die man in der ersten Figur vernehmen kann, bleibt ja eine untergründig immanente, weil sie sich nur in Gestalt von Ausbrüchen aus der durchweg erhalten bleibenden tonalen Ebene des „C“ in tiefer Lage ereignet. Sie steigert sich zwar in der Weise, dass diese Ausbrüche im Intervall über die Sekunde hinaus bis zur verminderten Quarte anwachsen, aber darüber hinaus nicht. Das ereignet sich in der zweitaktigen Pause nach der Melodik des ersten Verses, und mit dieser Version der ersten Figur begleitet das Klavier auch die Melodik auf den Worten des dritten Verses. In der viertaktigen Pause nach der des zweiten Verses erklingt diese Figur, nun durch eine Achtelpause unterbrochen, in ihrer dritten Version. Sie mutet als in ihrer Unruhe noch weiter gesteigert an, weil sich die Sprungbewegungen häufiger und zwischen der Ebene eines „C“, „Cis“ und „D“ ereignen. Aber auch hier ereignet sich kein wirklicher Ausbruch aus diesem Gestus. Der findet erst mit dem Auftritt des dissonanten Terzen-Akkords statt.

    Wenn in der einleitenden Vorbemerkung zu diesem Zyklus und in der Betrachtung der ersten vier Lieder desselben darauf hingewiesen wurde, dass dem Klaviersatz in Reimanns Liedmusik eine Schlüsselrolle zukommt, dergestalt, dass sich in ihm zu einem wesentlichen Teil die musikalische Aussage konstituiert, so liefert dieses letzte Lied auf eindrückliche Weise noch einmal einen Beleg dafür. Der Übergang der ersten Figur des Klaviersatzes in die zweite und die Dominanz derselben am Ende der Liedmusik macht, so ist das wohl zu deuten, die Berechtigung der Warnung im ersten Lied, die Bedrohlichkeit der Nacht betreffend, manifest.

    Aber es bedarf eines Zusammenspiels von Klaviersatz und Melodik, um diesen Sachverhalt auf der Grundlage des lyrischen Textes zu konkretisieren. Und wie eng dabei das fünfte Lied an das erste anbindet, das zeigt sich nicht nur in diesem, sondern auf markante Weise auch in der ihn aufgreifenden Melodik. Gleich die erste, den ersten Vers beinhaltende Melodiezeile lässt das erkennen. Die melodische Linie setzt im ersten Lied bei den Worten „wir ziehen“ mit einem Anstieg über eine Terz und eine Quinte in hohe Lage ein. Bei den Worten „Hier steh ich“ beschreibt sie nun gleichsam eine Umkehr dieser Bewegung in Gestalt eines Falls von der tonalen Ebene eines „C“ in hoher Lage über eine verminderte Sexte und eine Quarte hinab zur Ebene eines „B“ in mittlerer Lage.

  • „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“ (II)

    Aus dem Aufbruch zu Wacht ist nun eine Rückkehr aus dieser geworden. Aber auf die Worte „auf treuer Wacht“ hat Reimann, eben darin bewusst die Anbindung an das erste Lied betonend, genau die gleiche melodische Linie wie auf die dortigen „auf die Wacht“ gelegt. Anders als dort lässt er aber nun die Melodik a cappella erklingen. Das ist wohl so zu verstehen, dass dort, in der Aufbruch-Situation zur Wacht, die melodische Linie in ihrem Anstiegs-Gestus die Unterstützung durch einen entsprechend expressiven Sechzehntel-Klaviersatz benötigt, nun aber, am Ende der „Wacht“ ist das nicht mehr der Fall. Das lyrische Ich spricht auf fallender melodischer Linie frei von der Anspannung durch die Wacht monologisch vor sich hin.

    Aber die Erfahrungen der „dunklen Nacht“ klingen in ihm noch nach. Die zweite, nach der erwähnten zweitaktigen Pause einsetzende Melodiezeile lässt das auf eindrückliche Weise vernehmen. Auf den Worten „vergangen ist“ beschreibt die melodische Linie einen ruhigen Anstieg über partiell verminderte Sekundschritte in oberer Mittellage, dann aber, bei „ist die“ geht sie, eine Quarte tiefer neu ansetzend, in einen sich zu dem Wort „dunkle“ hin fortsetzenden Anstieg in hohe Lage über.
    Und nun ereignet sich auf den Worten „dunkle Nacht“ eine komplexe, die Semantik in ihrem affektiven Potential zu Ausdruck bringende expressive Bewegung. Auf „dunkle“ ist das ein ausdrucksstarker gedehnter Legato-Septfall aus hoher Lage in mittlere, dem ein mit Vorschlag versehener Quintsprung nachfolgt. Auf „Nacht“ beschreibt die melodische Linie dann einen lang gedehnten Fall über eine kleine Sekunde von der tonalen Ebene eines „E“ zu der eines „Es“ in oberer Mittellage. Und das alles ereignet sich erneut a cappella. Das Klavier beschränkt sich bei den ersten beiden Melodiezeilen darauf, deren Aussage in den nachfolgenden Pausen mit seiner ersten Figur zu kommentieren.

    Erst bei der dritten, den dritten lyrischen Vers beinhaltenden Melodiezeile, tritt es wieder begleitend auf. Aber diese Begleitung besteht aus der Variante der ersten Klavierbassfigur, wie sie bereits nach der Melodik auf den Worten des ersten Verses erklungen war. Und sie dauert auch, darin ihre Autonomie bekundend, in der Viertelpause fort, die die melodische Linie nach den Worten „Wie blitzt nun auf“ einlegt. Deren semantischen Gehalt reflektiert diese, indem sie auf „blitzt“ einen expressiven, weil mit einem eine Terz höher einsetzenden Vorschlag versehenen verminderten Quintfall beschreibt, also eigentlich über das Intervall einer Septe, und danach einen Sprung zu eben dieser tonalen Ebene vollzieht, auf der der Vorschlag ansetzt, um sich dort einer Dehnung zu überlassen. Aber diese Ebene ist um eine kleine Terz vermindert. So viel zu der hochgradigen Reflexivität, in der Reimann seine Melodik anlegt.

    Die nach einer Viertelpause auf den Worten „der Länder Pracht“ einsetzende melodische Linie beschreibt einen mit einem zweischrrittigen Sekundfall eingeleiteten verminderten Quintsprung zur tonalen Ebene eines hohen „C“, um dort auf „Pracht“ in eine lange, dieses Wort mit einem starken Akzent versehende Dehnung überzugehen. Diesem Sprung wird dadurch besonderer Schwung verliehen, dass er mit einem Achtelvorschlag einsetzt.
    Und nun ereignet sich in der nachfolgenden eineinhalbtaktigen Pause für die Singstimme das, was man, weil es sich unerwartet, im Fortissimo und in Gestalt einer fremden klanglichen Figur ereignet, als geradezu erschreckenden klanglichen Einbruch in die Liedmusik empfindet: Zweimal wird im Diskant der sechsstimmig dissonante Terzenakkord angeschlagen. Seine Funktion ist wohl, den positiven affektiven Gehalt des Wortes „Pracht“, das gerade mittels einer langen Dehnung eine Hervorhebung erfuhr, auf massive Weise zu verfremden und zugleich vorbereitend überzuleiten zu dem, was die letzte Melodiezeile zu sagen hat.

  • „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“ (III)

    Es sind die für die musikalische Aussage dieses Zyklus´ konstitutiven Worte „Du schöne Welt, nimm dich in Acht!“. Und weil ihnen infolge ihrer Stellung am Anfang und am Ende eine so bedeutsame Schlüsselfunktion in diesem zukommt und sie durch die musikalischen Aussagen der dazwischenliegenden Lieder eine Bereicherung und Akzentuierung ihres semantischen Gehalts erfahren haben, kann Reimann am Schluss des Zyklus nicht einfach die Melodik vom ersten Lied noch einmal aufklingen lassen. Er muss sie variieren. Aber vielsagend ist, wie er das tut.

    Er legt keine in ihrer Grundstruktur ganz und gar neue Melodik auf sie, vielmehr behält er den ihr im ersten Lied innewohnenden und am Ende in einen Sekundanstieg übergehenden Fall-Gestus bei, steigert aber in der Art und Weise, wie er diese Struktur nun anlegt, den Warnruf-Appell ins Hochexpressive.
    Nun setzt die Fallbewegung der melodischen Linie mittels eines Sekundsprungs viel höher an, auf der Ebene eines zweigestrichenen „Fis“ nämlich. Danach senkt sie sich in gewichtigen, weil allemal gedehnten, vor „Welt“ sogar mit einem Vorschlag versehenen Sekundschritten ruhig ab, legt danach vor dem Wort „nimm“ eine die nachfolgende Aussage mit Bedeutung versehende Achtelpause ein und vollzieht anschließend bei den Worten „nimm dich in“ einen regelrechten triolischen Sturz über eine jeweils verminderte Quinte und eine Terz hin zur tonalen Ebene eines „Cis“ in mittlerer Lage.

    Und am Ende, bei dem lyrisch so hoch gewichtigen Wort „Acht“ wird nun aus dem melodischen Sekundstieg in mittlerer Lage ein hochexpressiver Sprung von der tonalen Ebene eines „Cis“ in mittlerer zu einem „Es“ in hoher Lage, über das große Intervall einer Dezime also. Und die kleine melodische Dehnung in Gestalt eines punktierten deklamatorischen Viertels im ersten Lied wird nun zu einer ebenfalls riesigen. Sie erstreckt sich über zwei Takte.

    Immerzu begleitet wird die ihrerseits ebenfalls nun forte vorzutragende melodische Linie vom Klavier in dieser ihrer letzten Zeile mit den partiell lang gehaltenen Fortissimo-Terzenakkorden. Und diese dominieren als Repetition auch ganz und gar das neuntaktige Nachspiel und klingen in ihm aus. Reimann lässt aber in ihrer Abfolge zwei Mal einen Fortissimo-Sekundfall in Gestalt eines „Cis“ und „C“ in hoher Diskantlage erklingen und drei Mal ebenfalls fortissimo ein zwei gestrichenes „A“ im tiefen Bass.

    Die Terzenakkorde wirken durch Sekundreibung mittels eines oben beigefügten „Gis“ dissonant, und die in der Repetition von ihnen ausgehende Anmutung von Bedrohlichkeit erfährt durch den zweimaligen Sekundfall in hoher Lage und den dumpfen A-Bass noch eine Intensivierung.
    Unüberhörbar ist: „Nacht“, wie sie in diesem Zyklus thematisiert und in ihrem Wesen dargestellt und ausgelotet ist, kann zu einer existenziellen Bedrohung für den Menschen werden.

  • Nachtstück II
    für Bariton und Klavier
    (Eichendorff)


    Diese fünf Lieder, die in ihrem Titel an den Zyklus „Nachtstück“ anbinden und wie dieser Eichendorff-Lyrik zur Grundlage haben, entstanden im Spätsommer 1978 auf Naxos, zwölf Jahre später also als der erste Zyklus. Reimann widmete dieses Werk Barry McDaniel.
    Unüberhörbar ist: In dieser Zeit hat Reimanns Liedsprache einen tiefgreifenden, geradezu radikalen Wandlungsprozess in Richtung maximaler Expressivität durchlaufen. Reste traditioneller Liedsprache, wie sie sich im ersten Zyklus etwa noch in Gestalt von Akkorden im Klaviersatz finden, gibt es nicht mehr. Nun arbeitet Reimann dort ausschließlich mit linearen taktübergreifenden Eintonklängen, punktuellen, über Bass und Diskant sich erstreckenden Sprungfiguren und Tonclustern.

    Geblieben aber ist sein kompositorischer Ansatz an der Zwielichtigkeit von Eichendorffs Nacht-Metaphorik und dem in „irres Singen“ verfallenden lyrischen Ich darin. Hinzu treten aber in diesem Zyklus noch die Aspekte „Tod“, „Klage“ und „Trauer“. Die ausgewählten Eichendorff-Texte sind umfangreicher, zwei davon sind sogar zweistrophig, und sie unterscheiden sich deutlich in ihrer Prosodie. Reimann verfuhr hier aber, wie man den vorliegenden Skizzen und Entwürfen entnehmen kann, genauso wie im ersten Zyklus: Erst wurden die Texte zusammengestellt, dann erst ging es an die Vertonung.


    Lied I: „Nachts“

    Ich wandre durch die stille Nacht,
    Da schleicht der Mond so heimlich sacht
    Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
    Und hin und her im Tal
    Erwacht die Nachtigall
    Dann wieder alles grau und stille.

    O wunderbarer Nachtgesang:
    Von fern im Land der Ströme Gang,
    Leis Schauern in den dunklen Bäumen --
    Wirr'st die Gedanken mir,
    Mein irres Singen hier
    Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

    Eine in ihrer Prosodie kunstvoll angelegte Lyrik. Der Jambus herrscht als Metrum vor. Die ersten drei Verse sind vierhebig, bei dritten wird die anfangs stumpfe Kadenz zu einer klingenden, die Verse vier und fünf verengen sich gleichsam im Metrum, da sie, bei stumpfer Kadenz, nur drei Hebungen aufweisen, und der letzte Vers ist wieder wie der dritte angelegt, vierhebig also und mit klingender Kadenz. Diese Anlage hat ihren guten Sinn: Die ersten drei Verse führen zum lyrisch bedeutsamen Geschehen hin, das sich in den metrisch verdichteten Versen vier und fünf ereignet, und der letzte Vers fungiert als die vorangehenden lyrischen Aussagen beschließender Rahmen.

    In typisch Eichendorffscher Metaphorik wird wesenhaft stiller und weiter nächtlicher Raum evoziert, in dem der Mond „heimlich sacht“ aus der Wolkenhülle schleicht und fern im Tal da und dort die Nachtigall erwacht. Aber ihr Schlagen stört die Stille nur einen Augenblick lang, die Nacht kann wieder in ihre graue Stille zurückkehren.
    Das lyrische Ich fühlt sich in den wunderbaren Nachtgesang einbezogen. In den von fern im Land kommenden Gang der Ströme und in das leise Schauern der dunklen Bäume. Aber er wirrt ihm die Gedanken, und sein eigenes Singen wird zu einem „Irren“, das ihm wie ein Rufen aus Träumen anmutet.
    Dem „wunderbaren Nachtgesang“ wohnt also ein irrationales, das Denken verstörendes und wirre Emotionalität auslösendes Potential inne, das wie ein Rufen wahrgenommen wird, in die abgründige Welt der Träume einzutauchen.

    Die wesenhafte Zwielichtigkeit der Nacht wird hier von Eichendorff thematisiert, allerdings auf nur behutsame Weise lyrisch abgehandelt. Nur als „Rufen aus Träumen“ meldet sich die die Individuation des Ichs gefährdende Irrationalität, aber immerhin so stark, dass sie ein innerliches Singen zu einem „irren“ werden zu lassen vermag.
    Und damit sind alle Gründe dafür gegeben, dass Reimann diese Eichendorff-Verse für seinen zweiten Zyklus zum Thema „Nacht“, so wie er sie sieht, herangezogen hat.


  • „Nachts“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Vorgaben, Ausführung und Vortrag der Liedmusik betreffend, gibt es wie üblich nicht. Nur ein Notenzeichen im Wert eines Viertels, versehen mit den Worten „ca. 60“, findet sich am Anfang des Notentextes. Das ist von Bedeutung, weil später, bei der Liedmusik auf den Worten „Leis Schauern in den dunklen Bäumen“ daraus ein „ca. 66“ wird, das ruhige Tempo des Vortrags also eine vorübergehende Beschleunigung erfahren soll.

    Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme voraus. Der Begriff „Vorspiel“ ist aber unangebracht, denn es handelt sich hierbei, wie üblich bei Reimann, um den Anfang des völlig eigenständig sich entfaltenden Klaviersatzes. Die Grundstruktur, die er hier aufweist, bleibt in Diskant und Bass bis zum Lied-Ende erhalten, bis zum dritten Vers der ersten Strophe einschließlich tritt aber noch eine Komponente hinzu: Eine Art Cantus firmus in Gestalt einer im Bereich der Kontraoktave sich entfaltende Bewegung von lang gehaltenen Einzeltönen, die eine abgrundtiefe wellenartige Linie beschreibt. Im Diskant und Bass ereignen sich piano, bzw. pianissimo hingetupfte Einzeltöne im Wert eines Viertels, die sich als Sprungbewegungen über wechselnde, zumeist aber sehr große, weil vom tiefen Bass bis zum hohen Diskant sich erstreckende Intervalle darstellen.

    In dieser Grundstruktur durchläuft der Klaviersatz eine Vielfalt von Variationen, die darauf ausgerichtet sind, das Klangbild durch ein Zusammen- oder Auseinanderrücken dieser Sprungfiguren und eine Verkleinerung der Intervalle mehr oder weniger stark zu verdichten oder auszudünnen. Der Wechsel in der Dynamik, der sich vom Pianissimo bis zum Mezzoforte erstreckt, dient in diesem Zusammenhang einer Steigerung oder Minderung der Expressivität. Der im ersten Teil des Liedes zum Einsatz kommende „Cantus firmus“ bewirkt eine Einbettung dieser Sprungfiguren in eine Art klangliche Tiefen- Grundierung der Liedmusik.

    Es wird auf diese Weise, so empfindet man das, ein gleichsam hingetupfter Klangraum geschaffen, der sich weiten und verengen kann, und dies so stark, dass die Aussage der sich in ihm entfaltenden Melodik eine Akzentuierung erfährt, wenn diese Wandlung des Klangraums nicht gar, und das meint man häufig wahrzunehmen, ihrerseits die Aussage des lyrischen Textes reflektiert.
    Das aber ist in hohem Grad Sache der subjektiven Rezeption der Liedmusik, so dass, wenn nun versucht werden soll, Melodik und Klaviersatz in ihrer jeweiligen Aussage und ihrer potentiellen Interaktion zu beschreiben und zu interpretieren, die diesbezüglichen Feststellungen mit allem Vorbehalt aufgenommen werden müssen.
    Das gilt nicht nur für dieses Lied, sondern für alle weiteren dieses Zyklus, und es ergibt sich aus der ihm eigenen, sich in ihrer Modernität von der des vorangehenden so markant abhebenden Liedsprache.

    Bemerkenswert ist, dass Reimann bei all seinem Bestreben, seine Liedsprache dem Geist der siebziger Jahre entsprechend weiter zu entwickeln, sein kompositorisches Grundkonzept einer die lyrische Aussage reflektierenden und darin gebunden sich entfaltenden Melodik nicht aufgeben wollte. Die Musik dieses Liedes, wie auch die des ganzen Zyklus, erfährt dadurch ihre ganz eigene klangliche Prägung und Aussage. Auf den Worten „Ich wandre durch die stille Nacht“ beschreibt die melodische Linie in syllabisch exakter Deklamation einen langsamen Anstieg in verminderten Sekundschritten von der Ebene eines „Cis“ in mittlerer Lage zu der eines „B“ in hoher. Die Anmutung von großer Ruhe geht auf diese Weise von ihr aus, und sie lässt so die Wanderschaft dieses lyrischen Ichs zu einer werden, die der Stille der Nacht gemäß und von ihr erfüllt ist. Dementsprechend erklingen die in Diskant und Bass hingetupften Viertel nur vereinzelt im Pianissimo, und von den lang gehaltenen, nur in Sekunden sich auf und ab bewegenden Tönen in extrem tiefer Basslage geht eine ganz eigene Suggestion von Ruhe und Stille aus.

    Hierin manifestiert sich Reimanns grundlegende liedkompositorische Intention. Sie richtet sich nicht primär auf die mit musikalischen Mitteln erfolgende interpretatorische Ausdeutung der Semantik des lyrischen Textes, als vielmehr auf das Einfangen der lyrisch evozierten Aura und Atmosphäre der Metaphorik. Gleichwohl reflektiert sie auch in der jeweils angezeigten Weise den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage, wie gleich die Melodik auf den Worten des zweiten Verses erkennen lässt. Bei den Worten „Da schleicht der Mond so heimlich sacht“ bewegt sich die melodische Linie im gleichbleibend ruhigen Gestus der deklamatorischen Entfaltung nur auf der hohen tonalen Ebene, die sie mit der Anstiegsbewegung beim ersten Vers eingenommen hat, und sie reflektiert darin dieses Bild vom „Schleichen“ des Mondes, das ja in überaus ruhiger Weise auf der hohen Himmelsebene stattfindet. Das Wort „Mond“ erfährt dabei eine Akzentuierung in Gestalt eines verminderten Quintsprungs zur tonalen Ebene eines „H“ in hoher Lage und eines nachfolgenden lang gedehnten Sekundfalls.

  • „Nachts“ (II)

    Bei den Worten „so heimlich sacht“ geht die melodische Linie dann zwar in eine Abwärtsbewegung über, aber es ist eine bemerkenswert ruhige und zögerliche und ruhige, und damit eine, die im lyrischen Bild bleibt. Sie setzt mit einem verminderten Sekund- und Terzfall ein, geht auf „heimlich“ in ein Innehalten in Gestalt eines gedehnten Sekundanstiegs über und setzt danach die Abwärtsbewegung nur über einen großen und einen kleinen Sekundschritt weiter fort. Aber das ist eine ausdrucksstarke Fallbewegung, denn sie ereignet sich in Gestalt eines lang gedehnten verminderten Sekundfalls, der diesem Wort eine markante Hervorhebung verleiht. Und auch der Klaviersatz beteiligt sich daran dergestalt, dass die Sprungfiguren aus dem vorangehenden Auf und Ab zu einer vom Bass in den Diskant sich erstreckenden Anstiegsbewegung übergehen.

    Es gibt also sehr wohl, hier in Gestalt der melodischen Akzentuierung eines Wortes, eine liedmusikalische Interpretation von lyrischem Text. Und dieser begegnet man, neben dem Einfangen der Gestimmtheit des lyrischen Ichs und des affektiv-atmosphärischen Gehalts der Metaphorik, nachfolgend immer wieder. Bei den Worten „Oft aus der dunklen Wolkenhülle“ verharrt die melodische Linie, weiterhin im Gestus der silbengetreuen Deklamation verbleibend, zunächst in drei Schritten auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage, beschreibt dann aber, die Semantik des Worte „dunklen“ reflektierend, einen ausdrucksstarken Quintfall in untere Mittellage, um von dort dann aber, wiederum das in der Höhe angesiedelte Bild von der „Wolkenhülle“ aufgreifend, einen Sprung über das relativ große Intervall einer Sexte hoch zur Ebene eines „G“ in hoher Lage zu vollziehen und dort erst ein einen verminderten Sekundfall, dann aber in einen weiter in die Höhe führenden Sekundanstieg überzugehen. Hier, bei diesem lyrischen Bild, beschränkt sich das Klavier auf eine Folge von abwechselnd in Diskant und Bass hingetupften Vierteln, und es fängt darin, so wie ich das empfinde, die luftig-zarte Aura desselben ein.

    Auf die beiden Verse „Und hin und her im Tal, / Erwacht die Nachtigall“ legt Reimann eine auf gebundene, ohne Pause sich entfaltende Melodiezeile, setzt sich also darin über sie prosodischen Gegebenheiten hinweg. Auch hier behält er die silbengebundene Deklamation bei, und das hat zur Folge, dass die melodische Linie in der weit nach oben ausgreifenden Bogenbewegung, die sie auf diesen Worten beschreibt, eine starke innere Unruhe aufweist. Auf den Worten „und hin und her“ beschreibt sie ein aus eine Dehnung hervorgehendes Auf und Ab, bei „der Mond“ steigt sie mit einem Quintsprung in hohe Lage auf und geht dort in einen verminderten Sekundfall über. In diesem silbengebundenen Fallgestus setzt sie auch ihre weitere Bewegung fort, wobei sie auf den Worten „heimlich sacht“ eine besondere, den semantischen Gehalt derselben reflektierende Subtilität entfaltet: Auf „heimlich“ liegt ein verminderter Terzfall mit nachfolgendem Wiederanstieg um eine kleine Sekunde.

    Danach schwingt sich melodische Linie in hohe Lage auf, und ihre Bewegungen dort erfolgen auf den Worten „Tal“. „erwacht“ und „Nachtigall“ allesamt in Gestalt von lang gedehnten Abwärtsschritten über das Intervall einer kleinen Sekunde, wobei sich dies auf einer Silbe ereignet. Bei „Nachtigall“ ist dieser Gestus besonders ausgeprägt. Drei derartige Fallbewegungen über jeweils eine kleine Sekunde liegen auf diesem Wort, am Ende erfolgt aber ein verminderter Sekundanstieg, und dieser, wie auch der dritte Fall, erfolgt sogar mit einem Achtelvorschlag.
    Vielleicht, so kann man vermuten, will Reimann mit dieser so komplexen Melodik die innere Erregung des lyrischen Ichs angesichts dieses ein besonders hohes affektives Potential aufweisenden Ereignisses zum Ausdruck bringen. Für diese Deutung spräche auch, dass er das Klavier hier eine dichte Folge von Viertel-Sprungbewegungen über geradezu riesige, vom extrem hohen Diskant bis in den tiefen Bass beschreiben lässt und sie mi der Vortragsanweisung „poco cresc.“ versehen hat.

  • „Nachts“ (III)

    Ganz anders ist dann die Melodik auf den Worten „Dann wieder alles grau und stille“ angelegt. Sie mutet wie eine musikalische Verkörperung dieses lyrischen Bildes an. Erst verharrt sie bei den drei Silben von „dann wieder“ auf der Ebene eines „F“ in oberer Mittellage, bei „alles“ beschreibt sie dann einen verminderter Quartfall in mittlerer Lage, vollzieht zu „grau“ hin einen dieses Wort akzentuierenden ausdrucksstarken Sprung über das große Intervall einer Sexte, und in diesem Gestus setzt sie auf den Worten „und stille“ ihre Bewegung fort: Wieder ein, nun aber eine Sekunde tiefer ansetzender Sextsprung, danach aber ein den semantischen Gehalt von „stille“ reflektierender verminderter Quartfall. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile nun, ganz ihrer Aussage entsprechend, mit nur noch hingetupften, über deutlich kleinere Intervalle sich erstreckenden Vierteln.

    Aber ein geradezu klanglich schrill anmutender Einbruch in das Pianissimo dieser Liedmusik ereignet sich danach. Dies in Gestalt einer zweimal vom Mezzoforte ins Forte sich steigernden Figur aus vier, vom tiefen Bass zum hohen Diskant erfolgenden Sprüngen von Vierteln. Und prompt setzt die Melodik auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe auch im Mezzoforte ein, - nicht aber, ohne dass zuvor das Klavier noch eine schlichte Oktave hat erklingen lassen. Man staunt immer wieder einmal über die - sich allerdings nur aus dem Blick auf den Notentext erschließende - kompositorische Subtilität von Reimanns Liedmusik.

    Das Mezzoforte ist wohl dem emphatischen Ausruf-Gestus, in dem das lyrische Ich hier mit den Worten „O wunderbarer Nachtgesang“ einsetzt, geschuldet. Und die Melodik, die Reimann auf sie legt, reflektiert diesen voll und ganz. Und nicht nur bei ihr ist das der Fall, vielmehr auch beim Klaviersatz. Denn dieser entfaltet nun zunächst in der vom Mezzo ins Forte sich steigernden Figur, mit der das Klavier im kurzen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe aufgetreten ist. Und das geschieht bis hin zur Melodik auf dem zweiten Vers auf gleichsam sporadische, weil von Pausen unterbrochene Art und Weise. Bei den Worten „O wunderbarer“ verharrt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation auf der Ebene eines „B“ in hoher Lage, um sich dann bei „Nachtgesang“ nach einem Quartfall über das große Intervall einer verminderten Septe zur Ebene eines „Es“ in Leis Schauern in den dunklen Bäumen hoher Diskantlage aufzuschwingen. Zweimal erklingt danach die Sprungfigur mit der zwischengelagerten Oktave, und die sich anschließende melodische Linie auf den Worten „Von fern im Land der Ströme Gang“ mutet wie eine Wiederkehr derjenigen auf dem ersten Vers an: Wieder das lange Verharren, nun allerdings einen Halbton tiefer und am Ende der Septsprung bei „Gang“ nur noch zur Ebene eines hohen „H“.

    Reimann verleiht diesem lyrischen Bild ein eigenes Gewicht, denn er löst den zweiten Vers aus dem Kontext, in dem er bei Eichendorff steht, indem er anschließend vier Takte lang vier Mal die Sprungfigur erklingen, sie dann aber beim fünften Mal in am Ende in einen Anstieg von Vierteln aus dem Bass in den hohen Diskant übergehen lässt. Man kann das als eine klangliche Evokation der Weite verstehen, die diesem lyrischen Bild des zweiten Verses innewohnt. Das nachfolgende Bild „Leis Schauern in den dunklen Bäumen“ wird dann als ein im Hier und Jetzt stattfindendes Ereignis auf überaus markante Weise davon abgesetzt, weil, Reimann es, darin von den Gegebenheiten im lyrischen Text abweichend, in unmittelbarem kausalem Zusammenhang mit den Worten „Wirrst die Gedanken mir“ stehen sieht.

    So legt er denn auf die Worte „Leis Schauern in den dunklen Bäumen / Wirrst die Gedanken mir“ eine in sich geschlossene Melodiezeile, in der sich die melodische Linie bei dem Wort „wirrst“ auf der gleichen tonalen Ebene fortsetzt, auf der bei „Bäumen“ endet. Sie hebt sich in ihrer deklamatorischen Struktur auf höchst bedeutsame Weise von der der vorangehenden Melodik ab. Das „Wirren“ der „Gedanken“, von dem das lyrische Ich hier bekenntnishaft spricht, stellt für Reimann ganz offensichtlich die zentrale Aussage des Gedichts dar, weil sie das Wesen der Nacht, so wie er es in Eichendorffs Lyrik wahrnimmt, gleichsam schlaglichtartig zum Ausdruck bringt.

    Seine Melodik lässt er das dergestalt reflektieren, dass sie geradezu wirre Bewegungen vollzieht: Erst einen mit Vorschlägen versehenen verminderten Sekundanstieg in hoher Lage, dort dann zunächst dann ein kurzes Auf und Ab mit eingelagertem Vorschlag-Fall über eine Quarte, ein wellenartiger, erneut mit Vorschlag versehener Legato-Aufstieg zur Ebene eines “H“ in hoher Lage (bei „Bäumen“), nachfolgend eine mit Portato-Zeichen (!) versehene Tonrepetition auf „wirrst die“, und schließlich auf dem Wort „Gedanken“ ein geradezu irrwitzig anmutender Legato-Fall in sechs partiell verminderten Sekundschritten, der sich in einem über eine jeweils mit Vorschlag versehene Terz und eine Quarte fortsetzt, um schließlich bei „mir“ in einem verminderten Sekundanstieg zu enden.

    Das Klavier begleitet diese Zeile mit seinen punktuell angelegten Sprüngen aus tiefer Basslage in den extrem hohen Diskant, und diese Figuren behält es auch, bei langsam immer kleiner werdenden Intervallen und mit einem Decrescendo ins Pianissimo übergehend, zwei Takte lang bei, bevor es wieder in dieses Pianissimo seine viermalige Auf und Ab-Sprungfigur regelrecht hineinplatzen lässt, dieses Mal sogar vom Forte ins Fortissimo sich steigernd. Das führt zur Melodik auf den Worten der beiden Schlussverse hin, und diese tritt so auf, wie sich in diesem Vorspiel andeutet.

  • „Nachts“ (IV)

    Bei den Worten „Mein irres Singen hier“ beschreibt die melodische Linie im Forte auf „irres“ eine ähnlich wirre Bewegung wie zuvor auf „Gedanken“, in Gestalt eines sechsmaligen und wieder einmal mit Vorschlag versehenen deklamatorischen Auf und Abs in Sekundintervallen auf hoher Lage und geht dann bei „Singen hier“ auf der tonalen Ebene eines „H“ in hoher Lage mit einem verminderten Sekundschritt in eine extrem lange und darin hochexpressive Dehnung in Gestalt eines verminderten Sekundfalls über. Und diese ins Extrem getriebene, den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage geradezu verkörpernde Expressivität behält sie auch, nun vom Klavier mit der Sprungfigur im Fortissimo begleitet, bei den Schlussworten „Ist wie ein Rufen nur aus Träumen“ bei.

    Nach einem Sekundanstieg und einem verminderten Quartfall auf „ist wie ein“ springt die melodische Linie über das riesige Intervall einer Dezime zur extrem hohen tonalen Ebene eines zweigestrichenen „F“ und verfällt dort auf dem Vokal „u“ in eine wiederum extrem lange Dehnung in Gestalt einer dreimaligen Repetition, die, weil sie jeweils mit einem Vorschlag vorgetragen wird, wellenartig anmutet und, weil auch noch im Fortissimo erklingt und am Ende in einen Quintfall übergeht, ein tatsächliches „Rufen“ darstellt.

    Und ähnlich ins Extrem getrieben mutet auch der Fall an, den sie auf dem Wort „Träumen“ beschreibt. Wieder ein aus einem verminderten Quintfall in mittlerer Lage hervorgehender Riesensprung, dieses Mal sogar über eine Undezime hoch zur Ebene eines zweigestrichenen „Fis“, und anschließend eine geradezu endlos anmutende Abwärtsbewegung in sechs (!) deklamatorischen Sekundschritten auf dem Diphthong „äu“, die auf der Silbe „-men“ in einen Sekundanstieg zur Ebene eines „A“ in hoher Lage übergeht.

    Weil dieser Ton „A“ auf der Schlusssilbe seinerseits keine Dehnung trägt, reißt die Melodik einfach ab. Das Klavier lässt noch drei Mal seine Sprungfigur erklingen, sie wird dabei aber immer magerer, weil Zahl der Sprünge abnimmt und die Dynamik ins Pianissimo übergeht. Beim dritten Mal ist es nur noch ein zweimaliges Auf und Ab, und das Lied ist zu Ende. Aber typisch für Reimann: Er lässt das Klavier ganz zum Schluss noch ein einsames „Gis“ im Bass anschlagen, und dies im Piano.

    Mit dieser in ihrer Expressivität ins Extrem getriebenen, den semantischen und affektiven Gehalt geradezu sinnlich verkörpernden Melodik auf den Worten „Rufen“ und „Träumen“ bringt Reimann sein spezifisches Verständnis der lyrischen Aussage dieses Gedichts zum Ausdruck. Die sich in dem „irren Singen“ ausdrückenden Gedanken und Gefühle, wie sie sich in der Begegnung mit „Nacht“ einstellen können, sind keine eines Zur-Ruhe-Kommens und Zu-sich-selbst-Findens, vielmehr die einer tiefgreifenden existenziellen Erschütterung und Gefährdung.

  • Lied 2: „Der Umkehrende (III)“

    Was ich wollte, liegt zerschlagen,
    Herr, ich lasse ja das Klagen,
    Und das Herz ist still.
    Nun aber gib auch Kraft, zu tragen,
    Was ich nicht will!

    Bei diesen fünf Versen handelt es sich um die dritte Strophe (deshalb das römische III) im Titel des insgesamt fünfstrophischen Gedicht „Der Umkehrende“, das in den Jahren 1819 bis 1837 entstand, diese dritte Strophe 1837.
    Formal betrachtet geht es um einen in der Haltung des Gebets erfolgenden inneren Monolog, der sich in Gestalt von Versen aus vierhebigen Trochäen mit klingender Kadenz und gemeinsamem Reim ereignet. Die prosodische Besonderheit besteht dabei darin, dass der dritte und der letzte Vers aus dieser formalen Grundstruktur ausbrechen, der dritte Vers behält dabei noch das Metrum bei, weist aber nur noch drei Hebungen und eine stumpfe Kadenz auf, der letzte aber entzieht sich in seiner sprachlichen Rhythmik jeglichem metrischen Reglement.

    Eichendorff nutzt diese prosodischen Mittel auf durchaus kunstvolle Weise, um die innere Haltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Im Ausbruch aus dem metrischen Reglement erweist sie sich als eine des zornigen Trotzes. Alles, was dieses lyrische Ich im Entwurf seiner personalen Lebenswelt erschaffen wollte und auch tatsächlich erschuf, ist „zerschlagen“. Seinem „Herrn“ bekennt es im Gebet, dass es nicht klagen wolle und von allen Aktivitäten ablasse, wie wohl die Worte „das Herz ist still“ zu interpretieren sind. Zugleich aber bittet es um die „Kraft, zu tragen“.
    Und an dieser Stelle tritt die poetische Raffinesse in das Gedicht. Man erwartet, dass es lyrisch-sprachlich weitergeht im Sinn von „ … zu tragen, was nun einmal an schicksalhaften Gegebenheiten zu tragen ist“. Stattdessen lässt dieses Ich seinen Herrn wissen, dass es das, was ihm da widerfahren ist, gar nicht tragen will, - und dies in lyrischen Worten, die allesamt eine Hebung tragen, sich also, wie es selbst auch, keinem Reglement unterwerfen wollen. Bei ihm wäre es das der Demut. Stattdessen liegt das Gegenteil vor: Zorniger Trotz.

    So betrachtet und interpretiert heben sich diese fünf Verse deutlich von den übrigen diesem Zyklus zugrundeliegenden Gedichten ab. In allen, selbst in dem, bei dem man es angesichts seines Titels „Auf meines Kindes Tod“ nicht erwarten würde, findet sich in unterschiedlicher lyrischer Gestaltung nächtliche Lebenswelt. Nur hier ist das nicht der Fall.
    Dass Reimann diese fünf Verse dennoch in seinen Zyklus aufgenommen hat, lässt erkennen, wie er das Thema „Nacht“ in diesem Zyklus verstanden und zum Gegenstand einer kompositorisch-reflexiven Auseinandersetzung gemacht hat: Nicht als real-tageszeitliches Phänomen, sondern als existenzielle Grunderfahrung.

    Und so hat er denn diese fünf Verse als lyrischen Ausdruck eines Aufbegehrens gegen schicksalhafte Geworfenheit in existenzielle „Nacht“ gelesen, sich einstellend in der Erfahrung des Scheiterns im Entwurf und in der Realisierung von personaler Lebenswelt. So lässt das - jedenfalls für mich - seine Musik auf diese Eichendorff-Verse vernehmen. Sie strotzt geradezu vom Ausdruck zorniger, trotziger, ja geradezu wütender Expressivität: In der sich vom Forte ins Fortissimo steigernden Folge von dissonanten Clustern als ausschließlicher Inhalt des Klaviersatzes, und in einer Melodik, die, ebenfalls nur forte und fortissimo, wie trotzig auf der tonalen Ebene verharrt, um schließlich einen Ausbruch zu langer Dehnung auf tonal hoher Ebene zu vollziehen.


  • „Der Umkehrende“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit klanglich schroffen, hastig aufeinanderfolgenden, in Diskant und Bass im Wechsel forte angeschlagenen vier- bis fünfstimmigen Clustern setzt das Lied ein. Reimann gibt genaue Anweisungen dazu, lautend „sempre staccato“, „senza Ped.“, „nur den Nachhall mit Ped. halten. Das ist die Struktur des Klaviersatzes bis zum Ende der Liedmusik, er durchläuft darin einige Variationen, die durchaus vielsagend sind. Vom zweiten Vers an werden die Cluster fünfstimmig, vom vierten an sechsstimmig, und sie sind nun im Fortissimo vorzutragen. Dieses steigert sich im Nachspiel sogar ins Forte-Fortissimo, und schließlich verringern sich die Cluster am Ende wieder zu sechsstimmigen, werden aber „con. Ped“ und in Bass und Diskant gegenläufig ausgeführt.

    Wenn man sie als klanglich-musikalischen Ausdruck der emotionalen Grundhaltung des lyrischen Ichs auffasst und versteht, so vernimmt man darin große seelische Erregtheit, einhergehend mit Zorn und Empörung, wobei sich der Grad derselben mit den Worten des vierten Verses steigert und bei den letzten seinen Höhepunkt erreicht, um sich schließlich am Ende des Nachspiels, Ausdruck einer inneren Beruhigung des lyrischen Ichs, wieder abzusenken. Infolge dieser Grundfunktion als klangliche Manifestation der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs leistet der Klaviersatz in seinen Varianten dann auch noch eine Akzentuierung der Aussage der Melodik.

    Wie der Klaviersatz weist auch diese eine durchgehende, nur in Gestalt von Variationen sich wandelnde Grundstruktur auf. Von Zeile zu Zeile verharrt die melodische Linie mit nur geringen Abweichungen in Sekundintervallen auf einer tonalen Ebene in oberer Mittellage, um am Ende mit einem Sprung über unterschiedlich große Intervalle zu einer langen Dehnung in hoher Lage überzugehen. Die Musik dieses Liedes weist also eine eigenartige strukturelle Einfachheit auf, aber sie steigert sich gleichsam in sie hinein, indem sie das ihr inhärente Ausdruckspotential benutzt, um ein Höchstmaß an Expressivität zu entfalten. In dieser kompositorischen Anlage, diesem exzessiven, geradezu starr anmutenden Verharren in der anfänglichen Faktur reflektiert sie die in diesen fünf Versen gleichbleibende, darin aber in der Intensität und Expressivität sich steigernde Grundhaltung des lyrischen Ichs.
    Und das macht sie so eindrücklich.

    Der erste Vers tritt im sprachlichen Gestus des sachlichen-nüchternen Konstatierens auf, weist darin aber gleichwohl ein hohes, nicht explizit gemachtes affektives Potential auf, das von Niedergeschlagenheit, über Resignation bis zu Verzweiflung reichen kann. Wie Reimann ihn rezipiert hat, lässt die Melodik erkennen. Auf den Worten „Was ich wollte, liegt zerschlagen“ verharrt die melodische Linie, forte vorgetragen, bis zu dem Wort „liegt“ zunächst in silbengetreuer Deklamation auf der Ebene eines „H“ in hoher Lage, bei dem Wort „zerschlagen“ vollzieht sie anschließend erst einen kleinen, dann einen großen Sekundanstieg, fällt dann auf die Ebene des „H“ zurück, um erneut in einen nun verminderten Sekundanstieg überzugehen. Das mutet, wegen dieser Anstiege über kleine Intervalle und des Rückfalls dazwischen eher wie schmerzliche Resignation an. Und diese Deutung des affektiven Potentials ist ja auch naheliegend angesichts der Aussage, die das lyrische Ich im zweiten Vers tätigt.

  • „Der Umkehrende“ (II)

    Auf dem Wort „Herr“ liegt die erste von den extrem langen Dehnungen, in die die Melodik in diesem Lied immer wieder ausbricht. Sie ereignet sich auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage, erstreckt sich über vier Takte und wird vom Klavier mit insgesamt fünfzehn Clustern in Diskant und Bass begleitet, bevor die melodische ihre Bewegungen auf den Worten „, ich lasse ja das Klagen“ fortsetzen kann. Der Anstieg, den sie hierbei in hoher Lage beschreibt, erfolgt ebenfalls in kleinen Intervallen. Das größte ist der Quartsprung, mit dem sie einsetzt. Auf „lasse ja“, geht sie erst einmal in einen Sekundfall mit Tonrepetition über, danach beschreibt sie einen zweischrittigen verminderten Sekundanstieg, um sich bei „Klagen“ erneut einer langen Dehnung in Gestalt eines kleinen Sekundfalls zu überlassen, der den schmerzlichen Gehalt dieses Wortes reflektiert. Sie erstreckt sich dieses Mal nur über zwei Takte mit sieben Clustern im Klaviersatz, die nun aber in Bass und Diskant fünftönig sind.

    Diese Fünftönigkeit behalten die Cluster auch in der Begleitung der melodischen Linie auf den Worten des dritten Verses bei, wobei sie, und das ist auch zuvor schon mehrmals der Fall gewesen, in ihrem Wechsel zwischen Diskant und Bass in unterschiedlichen Gruppen von zwei bis vier am Ende des langen achttaktigen Nachspiels sogar fünf Clustern erklingen. Auf den Worten „Und das Herz ist still“ behält die Melodik ihren Gestus des Anstiegs in kleinen Intervallen auf der gleichen tonalen Ebene, in der sie sich bislang entfaltete, bei. Eine deklamatorische Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ in hoher Lage, auf „Herz“ ein eine Terz höher ansetzender verminderter Legato-Sekundfall mit nachfolgender Dehnung, die von vier Clustern begleitet wird, und auf den Worten „ist still“ schließlich ein dieses Mal sogar großer Sekundanstieg, der wiederum in eine, dieses Mal aber nur kleine, einen Takt einnehmende Dehnung mündet. Immerhin aber wird sie mit sechs Clustern akzentuiert. Und diese klingen danach in ihrem so eigenartigen, klanglich schroffen Auftritt weiter fort, insgesamt siebzehn Mal, bevor sich mit der Melodik auf den Worten des vierten Verses ein kleiner Umschlag in der Liedmusik ereignet.

    Tiefgreifend ist dieser nicht, aber immerhin doch deutlich vernehmlich. Das Tempo ändert sich leicht, von der Vorgabe „ca. 84“ für ein Achtel zu nun „ca.76“, und die Dynamik steigert sich vom Forte zum Fortissimo. Und dass gesteigerte Expressivität angesagt ist, lässt schon nach dem Ausklingen des Cluster-Nachspiels am Ende der Melodik des vierten Verses vernehmen. Es ist in der Tat ein Vorspiel in Gestalt einer fortissimo erklingenden Folge von sechs sechstönigen Clustern, denn die danach im Fortissimo einsetzende Melodik bleibt auf den Worten „Nun aber“ ohne Klavierbegleitung.
    Das ist ganz sinnig, denn diesen beiden Worten kommt ja eine auf einen Wandel in der lyrischen Aussage verweisende Einleitungsfunktion zu, und dementsprechend beschreibt die melodische Linie auf ihnen erstmals einen Fall. Er setzt allerdings, eben diesen Einleitungs- und Eröffnungsgestus zum Ausdruck bringend, mit einem ausdrucksstarken Fortissimo-Septsprung zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ein, und die nachfolgende Dehnung auf dem Wort „nun“ verleiht diesem ungewöhnlich großes melodisches Gewicht. Der sich eine Quarte tiefer ereignende verminderte, nur aus einfachen, deklamatorisch ungedehnten Viertelschritten bestehende Sekundfall auf dem Wort „aber“ wirkt daneben beiläufig. Erst danach setzen die Cluster wieder ein.

    Bei dem Wort „Kraft“ beschreibt die melodische Linie einen stärkeren und schwungvoller anmutenden Anstieg in hohe Lage, dies weil er im Legato erst über eine kleine Sekunde, dann über eine Quarte erfolgt, um dort wieder, wie üblich, in eine lange Dehnung überzugehen. Erst hier setzen die Cluster wieder ein. Das Wort „Kraft“ wird a cappella deklamiert. So ist das auch bei den Worten „zu tragen“. Auf ihnen liegt anfänglich ein Dehnung, der auf „tragen“ dann, und dies a cappella, eine einen ganzen Takt einnehmende Dehnung in Gestalt eines siebenmaligen und um eine Sekunde ansteigenden Auf und Abs in Sekundschritten nachfolgt. Bei dem Terzsprung, den die melodische Linie dann auf der Silbe „-gen“ vollzieht, setzen die Cluster wieder ein und begleiten die melodische Linie auf den Worten „was ich nicht will“ mit einer nur kurzen Unterbrechung. Das Wort „tragen“ erfährt durch dieses lang gedehnte - mir allerdings als schierer Effekt vorkommende - Hin und Her der melodischen Linie eine starke Akzentuierung.

  • „Der Umkehrende“ (III)

    Auch bei der Melodik auf den Schlussworten „Was ich nicht will“ stellt sich bei mir, wie das ja auch schon beim ersten Lied dieses Zyklus der Fall war, der Eindruck einer übersteigerten Expressivität durch Nutzung klanglicher Effekte ein. Gewiss, diese lyrischen Worte bringen Trotz zum Ausdruck, eine Auflehnung des lyrischen Ichs gegen das, was ihm schicksalhaft auferlegt wurde. Aber muss eine diesen Sachverhalt aufgreifende Melodik deshalb so angelegt sein, wie das hier der Fall ist?

    Bei den Worten „was ich“ beschreibt sie einen Sextfall in mittlere Lage, zu dem Wort „nicht“ vollzieht sie dann von dort aus einen geradezu gigantischen Sprung über das Intervall einer Oktave hoch zur tonalen Ebene eines „Es“, der aber über einen vorgelagerten Quartschritt auf eben diesem Wort „nicht“ liegt. Danach ereignet sich auf diesem eine endlos anmutende, über vier Takte sich erstreckende Dehnung in Gestalt eines zweimal darin sich ereignenden Achtel-Vorschlags. Und schließlich folgt das Wort „will“, und die Dehnung, die nun auf der tonalen Ebene eines Quinte tiefer auf der tonalen Ebene eines „A“ erklingt, erstreckt sich wieder über drei Takte, begleitet von insgesamt sechzehn teils sechs-, teils fünftönigen Clustern.

    Weitere sechzehn Mal erklingen sie, dabei sich ins Forte-Fortissimo steigernd dann im Nachspiel. Nun aber wandeln sie sich in ihrer Gestalt. Lagen sie bislang in oberer und unterer Diskantlage weit auseinander und erklangen im Wechsel, so rücken sie jetzt in mittlerer Lage nicht nur zusammen, sie laufen, weil oben fallend, unten aber ansteigend angelegt, aufeinander zu und werden überdies nun mit Pedal ausgeführt. Klanglich schroff muten sie aber weiterhin an, wenn auch darin ein klein wenig gemindert.
    Man kann das so deuten, dass das lyrische Ich von seiner Haltung der trotzigen Auflehnung abgerückt ist.

    Diese gegenäufigen sechsstimmigen Cluster klingen beim Einsatz der Liedmusik des dritten Lieds zunächst zwar einmal aus, dies aber nur kurz. Sie bilden die Substanz von dessen Klaviersatz zwar nicht mehr wie hier ganz und gar, aber doch zu einem wesentlichen Teil.