Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein kleiner Schritt - Das Phänomen Richard Wagner

  • Vieles von dem, was Giselher geschrieben hat, trifft auch auf mich zu: als junger Mensch hat mich Wagner sehr stark angesprochen - über das Werk kam ich zum dahinterstehenden Komponisten, beschäftigte mich mit dem Leben Richard Wagners und mit der Analyse seiner Opern.


    Tolle Musik, tolle Stoffe - aber der Komponist? Keiner, mit dem ich gerne Kaffee getrunken hätte. Politisch fragwürdig, in seinem Antisemitismus widerlich.


    Für mich prägend war sicher die Begegnung mit Hans-Peter Lehmann, der mir, dem 17-jährigen, Peter Wapnewskis "traurigen Gott" empfahl und mit mir u. a. über den "Parsifal" sprach. "Erlösung dem Erlöser" bedeute nichts anderes, als das Wagner den jüdischen Christus von seinem Jude-sein erlösen wolle. Eine Sicht, die sich mir tief eingegraben hat.


    Wie beruhigend war Martin Gregor-Dellin, der Wagners Antisemitismus herunterredete. Konnte der Mann, der solche Musiktheaterwerke erschaffen hat, wirklich schlecht sein?


    Und gab es nicht auch Pierre Boulez, der nicht nur Opernhäuser in die Luft sprengen wollte, sondern der Meinung war, dass die Linken sich den "Parsifal" nicht wegnehmen lassen dürften?


    Wagner geniessen, aber Zelinsky richtig finden, da passte was nicht.


    Eine lange Phase mochte ich mir keinen Wagner anhören - nach der glühenden Verehrung folgte eine grosse Distanz.


    Losgelassen hat mich das nie. Langsam fing ich wieder an, mich mit Wagner beschäftigen: Weiners "Antisemitische Phantasien" fanden den Weg in meine kleine Büchersammlung zum Thema Wagner.


    Gewiss, Wagner ist einer der grossen Komponisten, gerade auch, weil sein Werk so vieldeutig ist. Dass sich im Werk allerdings nichts von dem finden würde, was den Menschen RW so fragwürdig erscheinen lässt (Edwin argumentiert in diese Richtung)... allein, mir fehlt der Glaube.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Aber selbst, wenn es anders ist: Sind es nicht auch diese Abgründe, diese Unklarheiten, durch die diese Opern ihre Dimensionen bekommen?


    Wenn man gerne Dinge miteinander vermischt und sich in Spekulationen verlieren will...



    Zitat

    Mir geht es so: Wenn ich aus einer guten Aufführung einer italienischen Oper herausgehe, denke ich: Welch eine Aufführung!


    Genau deswegen gehe ich in die Oper!



    Zitat

    Wenn ich aus einer guten Aufführung einer Wagner-Oper herausgehe, denke ich: Welch ein Werk!


    Das habe ich aber auch schon vorher gewusst! ;)
    Und wie oft schaffst du es, aus einer guten Aufführung einer Wagner-Oper herauszukommen? Und wie oft könntest du aus einer guten Aufführung einer italienischen Oper herauskommen?



    Zitat

    Wenn ich aus einer schlechten Aufführung einer italienischen Oper herausgehe, denke ich: Schade um den Abend.
    Wenn ich aus einer schlechten Aufführung einer Wagner-Oper herausgehe, denke ich aber immer noch: Welch ein Werk!


    Entweder reine Demagogie oder du machst dir etwas vor.



    Zitat

    Ganz egal, was auch passiert: Immer interessiert mich das Werk mehr als die Aufführung.


    Dann erhebt sich langsam die Frage, wozu du überhaupt noch in die Oper gehst.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Lieber Flo,


    ich muss Dich enttäuschen, denn ich kann nur sehr rudimentär Partitur lesen. Und die Musik D. habe ich auch nicht kritisiert, sondern diese meist nichtssagenden und austauschbaren Libretti, die wenig mehr sind als dramaturgisch vernachlässigenswerte Musizieranlässe. Donizetti ist vielleicht eine Sucht. Wagner ist eine Krankheit.


    Lieber Alviano,


    politisch fragwürdig und antisemitisch, gut und schön. Aber der Hauptgrund, nicht mit ihm Kaffee zu trinken: Er hätte mich angepumpt. Und keinen Pfennig zurückgezahlt.


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)


  • wunderbar gesagt. dem bleibt nichts hinzuzufügen! :yes:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es oft nur ein Schritt, sicher, und das nicht nur bei Wagner aber bei ihm eben so auffällig.


    Mir ist klar, dass es viele gibt, die Wagner nicht mögen. Es gibt überhaupt viele Menschen, die mit Musiktheater wenig anfangen können oder eben nur mit bestimmten Formen von Unterhaltung beim Musiktheater. Es gibt auch sehr viele Menschen, denen Proust "nichts gibt" - so lange Sätze sind doch lächerlich! Shakespeare wird auch nicht gemocht, so was Altmodisches, wer braucht das. Und Joyce - den versteht man ja sowieso nicht. Diese Menschen mögen stattdessen halt was Anderes lieber, wenn sie in gewissen erhabenen Schöpfungen die Erhabenheit nicht finden, wenn sie eben keinen Zugang haben, aus welchen Gründen oder Vorurteilen auch immer. Aber ihr Diskussionsbeitrag zu einem Werk, das sich ihnen nicht erschlossen hat, wird wenig Sinn haben. Oder liege ich da ganz falsch. Ich kann auch gar nicht nachvollziehen, dass man sich die Mühe macht, Stunden lang eine Musik zu hören, die einen nicht bewegt, in der Hoffnung dass einem im Laufe der Zeit der Knopf aufgeht oder sogar um zu beweisen, dass man sich noch so angestrengt hat, doch die Musik möchte einen einfach nicht rühren. Ich stelle mir gerade vor, dass ich ein paar Stunden Rieu einschalte und darauf warte, dass sie mir im Laufe der Zeit so schön erscheint wie meine Mutter sie zu empfinden scheint. Ich bekomme schon bei dem Gedanken an die Idee Kopfschmerzen und Depressionen und sehe überhaupt nicht ein, warum ich so etwas tun soll. Gibt es doch anderes, das ich lieber höre. Vielleicht kommt ja irgendwann das Bedürfnis, eine CD mit Rieu einzulegen, dann werde ich das tun, aber vorher nicht.


    Ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussion über "vom Erhabenen zum Lächerlichen ..." anders und von anderen Leuten geführt wird. Dazu bräuchte man nämlich eher die Kenner und Liebhaber, die das "Lächerliche" und das "Erhabene" in Wagners Werk erfahren und erkannt haben und nicht die anderen Freunde, bei denen sich nichts bewegt, wenn sie Wagner über sich ergehen lassen wie Woody Allen (den ich sehr liebe) oder ein Taminoaner, der schon stundenlang Wagner auf einen Gehalt testet, der sich ihm so schnell nicht erschließen wird. Es geht hier ja gar nicht darum, ob Wagner lächerlich oder erhaben ist, sondern darum, dass man den Blickwinkel nur leicht zu verändern braucht, um von einer zur nächsten Dimension zu stolpern bei Wagner. Bin ich ganz bei der Sache, ja eigentlich in der Sache, in der Musik und lebe ich die Szene mit, dann werde ich bei den Wälse-Rufen extrem erschüttert sein wie ich es im richtigen Leben nur selten bin. Trete ich aber etwas aus der Musik heraus und betrachte sie (und die Handlung, die ja meist eine innere Handlung ist und keine Action) von außen und bin ich vielleicht auch etwas unkonzentriert, weil mir plötzlich auffällt, dass mein Sitznachbar röchelt oder mein Sitz hart ist, dann werde ich eher lächerlich finden, dass der dicke Tenor die Fermate zu dem Tremolo so lange aushalten will und naturgemäß blöd dreinschaut dabei; dann ist nichts Erhabenes mehr dran an dem melodielosen Lärm und dem Gebrüll.


    Dass Wagner was taugt - wenn auch nicht für jeden - steht nämlich fest, das braucht man schwerlich zu beweisen oder zu widerlegen.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

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  • Des weiteren bin ich der Meinung, daß man


    a) Wagneropern zuerst auf jeden Fall live sehen muß, dann erst auf DVD. CDs halte ich für den Anfang für ungeeignet.


    Und


    b) daß man seine Biographie gelesen haben sollte, was ja nicht bei jedem Komponisten notwendig ist. Ich empfehle:



    Und


    c) daß man vorurteilsfrei an seine Werke rangeht.


    Sicher ist es auch von Bedeutung, von welcher Seite man kommt: ich bin von Beethoven/Schubert direkt auf Wagner gestoßen und es hat sich mir eine neue Klangwelt aufgetan.


    Menschliche Sympathie verweigere ich ihm ;-) Dennoch ist es faszinierend, wie er, auch auf krummen Wegen, sein Lebenswerk vollendete.


    LG
    Austria


    und wenn das alles nichts nützt, dann "mag" man Wagner eben nicht - so what

    Wir lieben Menschen, die frisch heraus sagen, was sie denken - vorausgesetzt, sie denken dasselbe wie wir (Mark Twain)

  • Zitat

    Original von Theophilus


    Dann erhebt sich langsam die Frage, wozu du überhaupt noch in die Oper gehst.


    bei mir hat das werk auch den höheren stellenwert als die aufführung. deshalb
    sehe ich mir manche aufführungen erst gar nicht an. darunter sind auch einige
    wagner opern, weil mir das werk nichts sagt.


    trotzdem bevorzuge ich den besuch der oper bzw. des konzerts vor der
    elektro-mechanischen wiedergabe durch DVD und CD. die qualität einer live
    aufführung ist durch nichts zu ersetzen.


    ---


    ich kann wagner opern geniessen (ring, parsifal, tannhäuser, lohengrin, holländer),
    ohne seine biografie gelesen zu haben. einige biografie details sind mir auch so zu
    ohren und augen gekommen. auch erklärende sekundärliteratur mit oder ohne
    notenbeispiele sind für mich nicht notwendig. ich habe auch noch nie eine partitur
    gesehen.


    ist man der meinung, dass wagner nur mittels dieser zusatzinformationen
    erklärt, genossen, verstanden werden kann, dann folgere ich daraus, dass
    ein werk der architektur ohne kenntnis der baupläne nicht gefallen kann.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • Zitat

    Original von GiselherHH
    Lieber Flo,


    ich muss Dich enttäuschen (...)


    Lieber GiselherHH,


    wie heißt es so schön: das Missverständnis ist der Regelfall der Kommunikation.


    Verzeihung.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hallo zusammen,


    na, da ist ja nun doch noch eine interessante und sehr lesenswerte Diskussion zustande gekommen (anders als bei meinem 1. Versuch im August 2005), das hatte ich erhofft und freue mich darüber! :hello:


    @Melot1967:


    Zitat

    Du schreibst u. a.:
    Diese Menschen mögen stattdessen halt was Anderes lieber, wenn sie in gewissen erhabenen Schöpfungen die Erhabenheit nicht finden, wenn sie eben keinen Zugang haben, aus welchen Gründen oder Vorurteilen auch immer. Aber ihr Diskussionsbeitrag zu einem Werk, das sich ihnen nicht erschlossen hat, wird wenig Sinn haben. Oder liege ich da ganz falsch. Ich kann auch gar nicht nachvollziehen, dass man sich die Mühe macht, Stunden lang eine Musik zu hören, die einen nicht bewegt, in der Hoffnung dass einem im Laufe der Zeit der Knopf aufgeht oder sogar um zu beweisen, dass man sich noch so angestrengt hat, doch die Musik möchte einen einfach nicht rühren.


    mea culpa...


    Ich hatte seinerzeit diesen Thread hier ausgegraben, der zum Zeitpunkt meines ersten Wiederbelebungsversuchs bereits mehr als ein dreiviertel Jahr lang "brach" lag - in meiner Naivität ging ich damals davon aus, dass damit dann wohl alles zu dem Thema gesagt worden wäre und kein weiteres Interesse an der Fortführung der Diskussion in dieser Richtung mehr bestünde.
    Daher entschloss ich mich, mit meinem Anliegen "Warum finde ich irgendwie keinen rechten Zugang zu Wagners Musik" diesem Thread hier eine neue Richtung zu geben. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade 4 Wochen hier im Forum und scheute ehrlich gesagt wegen einer solchen "Lappalie" die Eröffnung eines neuen Threads (heute liegt diese Hemmschwelle da bei den meisten um einiges niedriger, das stimmt wohl :wacky: ), da auch schon damals beklagt wurde, dass neue Threads inflationär vorhanden wären und die Übersichtlichkeit des Forums darunter leiden würde...


    Ich habe mich ja auch schon gefragt, warum ich mich partout mit etwas beschäftigen sollte, was mich eigentlich nicht anspricht - in diesem Fall also das meiste aus dem Wagner-Oeuvre - aber wenn ich dann so etwas lese, wie das wirklich wundervolle Credo von GiselherHH, das von aufrichtiger Leidenschaft und Begeisterung zeugt (allein deswegen hat sich die Wiederaufnahme der Diskussion schon gelohnt, ganz ehrlich):


    Zitat

    Im Ernst: der Weg zu Wagner führt sicher nicht über das Bedürfnis nach äußerlicher Kulinarik. Wer sich bloß "einen schönen Opernabend" machen will, der bleibe gemütlich vor heimischem Herd bei Rossini, Donizetti und ähnlichen Melodienfabrikanten vorwiegend italienischer Prägung. Wer aber einen Blick in die Abgründe menschlicher Seelen wagen will, in höchste Höhen und tiefste Niederungen, wer sich mal subtil umschmeicheln und dann brutal am Kragen packen lassen will, wer sich traut, von einem akustischen Giftmischer nicht bis zum Tod, aber bis zur Abhängigkeit infiziert zu werden, wer gefährlich hören will, der rüste sich zur Reise. Aber: der Weg ist steinig und Wanderkarten mit vorgezeichneten Pfaden werden nicht verteilt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Viele scheitern, verlaufen sich, geben auf. Aber manche schaffen es, allen Widrigkeiten zum Trotz. Sie wollen immer mehr wissen über Werk und Schöpfer. Also holen sie sich alle erreichbare Literatur, steigen ein, leben im Gelesenen. Sie sind zugleich fasziniert und abgestossen, merken aber, dass sie eine Schwelle überschritten haben, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Gelesenes vertieft Gehörtes, Gehörtes das Gelesene. Das Gift beginnt zu wirken, meist bis zum Lebensende. Es können auch Zeiten des Rückzuges auftauchen, Zeiten der scheinbaren Genesung. Doch dann tönt es von irgendwo her und das Fieber bricht wieder aus...


    .... dann kann ich mich nur Blackadders Stoßseufzer anschließen:


    Zitat

    alleine dieses Posting verrät mir, dass MEIN der Verlust ist...


    weil ich eben nicht zum erstenmal ein bissel neidisch diese Begeisterung der Wagner-Fans erleben muss (die kein anderer Opernkomponist bei so vielen Opernfreunden auszulösen vermag), ohne das auch nur annährend nachvollziehen zu können, obwohl ich seit über 20 Jahren von Opern an sich total infiziert bin. Gut, dass es da noch einige andere Werke und Komponisten neben Wagner gibt :yes::hello:


    Nur es bleibt halt das Gefühl: "Irgendwie verpasse ich was..." - können so viele andere Opernfreunde (die mir mit ihrem Musikgeschmack ja eigentlich wesentlich näher stehen müssten als bspw. Fans der volkstümlichen Musik) irren?? Was entgeht mir da? Und genau das treibt mich halt um...


    Ach so: Den weiter oben als Empfehlung genannten ersten Akt der Walküre habe ich mir tatsächlich zwischenzeitlich mal angehört, aber auch hier war die Wirkung desselben auf mich nicht sonderlich überschwänglich, da hat mich beispielsweise Salomé nach nur einmaligem Anhören direkt deutlich mehr gepackt, fasziniert und mitgerissen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Meine erste Begegnung mit Wagner war eine Live-Übertragung der Walküre aus London im Radio. Ich fand die Musik fremdartig, aber ich fand das Ganze spannend genug, um dabei sitzen zu bleiben. In den Pausen gab es Gespräche mit den Sängerinnen und Sängern (Kollo, Schnaut, Jones) und mit dem Regisseur (Götz Friedrich), und was die von sich gaben über Wagner, die Musik und den Ring bzw. die Walküre hörte sich für mich Naivling so wichtig an, dass mir alles gleich noch besser gefiel und ich später das Bedürfnis hatte, mehr zu erfahren, mehr zu hören, mehr zu lesen und mich auch mehr mit Philosophie zu beschäftigen.


    Es wäre aber auch möglich zu beschließen, dass das nicht so meine Welt ist und ich bei meinem Verdi bleibe, der viel schönere Arien hat. In Wirklichkeit war ich auch nicht sofort Feuer und Flamme, es war anfangs nur so eine Faszination über das Erlebte, und so richtig neugierig auf Wagner bin ich dann später geworden.


    Lächerlich finde ich vieles von dem, was Wagner selber so schreibt, sowohl in seinen "gescheiten" Schriften als auch in schwärmerischen Briefen oder wenn er auf Kränkungen reagiert. Vieles lässt sich aber auch aus dem Kontext der damaligen Zeit nachvollziehen. Im Werk gibt es viele einzelne Ungereimtheiten und Lächerlichkeiten, was weiß denn ich, der Schwan, "nie sollst du mich befragen" (so ein Trottel!), "mein Heil mein Heil hab ich verloren, nun sei der Hölle Lust erkoren", und auch viele weniger pathetische Stellen im Text oder als musikalische Phrase (die Motive!), aber im großen Zusammenhang machen sie Sinn und haben ihren berechtigten Platz im Werk. Bei Wagner kann ich auch schwer die einzelnen Komponenten auseinander dividieren. Sicher, von einer bestimmten einzelnen Stelle, wenn sie sehr gut aufgeführt ist (oder man sie sich perfekt vorstellt) kann man auch schwärmen, und eine Bekannte, die beim Radio arbeitete, hatte angeblich eine Kollektion der längsten Wälserufe, aber im Grunde ist bei Wagner alles im Zusammenhang zu erleben, und da liegt es jetzt am Zuhörer, wie tief er sich auf alles einlassen möchte und wie weit er sich bilden will. Es ist wie mit jedem Hobby oder mit jeder Wissenschaft: je intensiver man sich damit beschäftigt, desto fundierter und tiefer das Verständnis oder die "Erfahrung".


    Ich nehme an, jeder, der sich viel mit einem bestimmten Komponisten seiner Wahl beschäftigt, "versteht" ihn immer besser. Ich kann auch jedes Befremden und jede Abneigung Wagner und seinem Werk gegenüber nachvollziehen, und ich finde den Ausspruch Woody Allens zwar nicht besonders gut aber so typisch Woody Allen und daher auch lustig. In einer Szene (ist es im selben Film?) muss er mit seiner Frau in den Fliegenden Holländer gehen, was ihm zutiefst widerstrebt - im Film sieht man ihn dann im Publikum sitzen, aber als Sound hört man einen Ausschnitt vom Holländer-Monolog von einer zerkratzten Schallplatte, was ich seltsam finde. Aber ich musste auch lachen, denn diesen Ausschnitt so aus dem Zusammenhang gerissen zu hören in der kreischenden Tonqualität (und noch dazu wo ich den Holländer gar nicht mag, abgesehen von Ouvertüre, Seemannschor und Ballade der Senta), da habe ich in dem Moment gedacht: "Das ist eigentlich genau das, was ich an Wagner immer gehasst habe."

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

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  • Zitat

    Originale von Theophilus
    Wenn man gerne Dinge miteinander vermischt und sich in Spekulationen verlieren will...


    Jede Interpretation ist eine subjektive Spekulation. Jedes bedeutende Kunstwerk regt das eigene Denken an und damit zwangsläufig die Interpretation bzw. Spekulation.
    Kunstwerke, die so eindimensional sind, daß sie das nicht machen, sind meiner Meinung nach Kunstwerke zweiten Ranges.


    Zitat

    Genau deswegen (der Aufführung wegen, Anm.) gehe ich in die Oper!


    Du gehst also in Werke, die Dich nicht interessieren und die Du nicht magst, nur weil Dich interessiert, ob die Sopranistin endlich die Töne trifft undder Baß sein tiefes E makellos erwischt?
    Interessante Form des Masochismus....


    Zitat

    Das habe ich aber auch schon vorher gewusst! (Welch faszinierendes Werk die jeweilige Oper Wagners ist, Anm.)


    Bedeutende Kunstwerke haben es an sich, daß man immer wieder neue Facetten entdeckt. Sie sind unerschöpflich. In diesem Sinne wachsen Wagners Opern für mich bei jedem neuerlichen Hören.


    Zitat

    Und wie oft schaffst du es, aus einer guten Aufführung einer Wagner-Oper herauszukommen?
    Und wie oft könntest du aus einer guten Aufführung einer italienischen Oper herauskommen?


    Ooooooch, weißt Du, in Wien haben wir die Staatsoper... ;)


    Zitat

    Entweder reine Demagogie oder du machst dir etwas vor.


    Kann es sein, daß Dein subjektives Empfinden mit meinem nicht übereinstimmt? Andernfalls würde ich glatt glauben, Du machst Dir etwas vor - oder gar, es könnte Demagogie im Spiel sein....


    Zitat

    Dann erhebt sich langsam die Frage, wozu du überhaupt noch in die Oper gehst.


    Aus demselben Grund, aus dem ich ins Kino gehe, statt mir die Filme nur vor der heimatlichen Glotze anzusehen.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Ach so: Den weiter oben als Empfehlung genannten ersten Akt der Walküre habe ich mir tatsächlich zwischenzeitlich mal angehört, aber auch war die Wirkung desselben auf mich nicht sonderlich überschwänglich, da hat mich beispielsweise Salomé nach nur einmaligem Anhören direkt deutlich mehr gepackt, fasziniert und mitgerissen.


    Mein Kompliment! Das nenne ich Zivilcourage! Warte nur, wie Edwin seine Finger spitzt, wenn er das liest! ;)




    Giselhers Plädoyer ist natürlich wunderbar. Und es ist auffallend, dass es eben in erster Linie die Wagnerianer sind, die sich derart eloquent für ihren Liebling einsetzen. Es wird einem kaum eine vergleichbare Liebeserklärung zur Norma über den Weg laufen.


    Zitat

    Wer aber einen Blick in die Abgründe menschlicher Seelen wagen will, in höchste Höhen und tiefste Niederungen, wer sich mal subtil umschmeicheln und dann brutal am Kragen packen lassen will, wer sich traut, von einem akustischen Giftmischer nicht bis zum Tod, aber bis zur Abhängigkeit infiziert zu werden, wer gefährlich hören will, der rüste sich zur Reise.


    Ich sehe nicht ein, warum man derartige Empfindungen nicht auch bei Rigoletto erleben kann (vielleicht mit Ausnahme der Abhängigkeit, was eigentlich ohnehin positiv wäre).


    Man nehme nur einmal das erste Zusammentreffen Rigolettos mit Sparafucile. Rigoletto, der gerade an Monterones Fluch knabbert, wird mit einer Bedrohung ganz anderer Art konfrontiert. Die Szene dauert keine zehn Minuten, kommt mit sparsamsten Orchestereinsatz aus und dennoch schafft Verdi mit äußerster Ökonomie im Einsatz der Mittel eine beklemmende und grandiose Wirkung.
    Es geht also auch ohne gigantischen Orchesterapparat, der mich eine halbe Stunde massiert und die Sänger müssen sich auch nicht durch diesen hindurch Gehör verschaffen. Schon gar nicht zu reden von der geschickten Dramaturgie, denn mit dieser kurzen Szene gelingt auch die saubere Trennung zwischen den beiden Sphären des Rigoletto.


    "subtil umschmeicheln"? In seinem gesamten Werk kommt Wagner nicht einmal in Sichtweite von Verdis Meisterschaft, die Sehnsüchte und Träume eines jungen Menschen in derart zarter, ja zerbrechlicher Form auszudrücken, wie es in "Caro nome" der Fall ist.


    "brutal am Kragen packen" Kann man noch brutaler gepackt werden als im Finale des Rigoletto? Lauter schon, aber stärker und zugleich so schön wohl nicht.


    Bleibt also der "dramatische Mehrwert" Wagners. Gut, soll sein, aber man kann gelegentlich daran denken, dass dieser dramatische Mehrwert hin und wieder durchaus einige Mängel an klassischen Operntugenden ausgleichen muss. Und ich für meinen Teil kann mich sehr gut an einer brillant gebrachten dramatischen Handlung mit schöner Musik erfreuen, ohne hinterher irgendeinen Mehrwert zu fordern. Habe ich z.B. nach einer Beethoven-Symphonie auch noch nie gemacht.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Und es ist auffallend, dass es eben in erster Linie die Wagnerianer sind, die sich derart eloquent für ihren Liebling einsetzen.... Es wird einem kaum eine vergleichbare Liebeserklärung zur Norma über den Weg laufen.


    Ja, das glaube ich gerne, daß man sich für einen Bellini nicht gar so einsetzen mag.


    Pardon, ich demagogisiere schon wieder... :D


    :hello:

    ...

  • Bevor ich Wagner das erste Mal bewusst hörte, hatte ich so einiges über den Komponisten Wagner gelesen und gehört. Man sagt ja oft, dass Wagner polarisiere. Entweder hasse man ihn oder man verehre ihn. Mein Verhältnis zu Wagner passt ihn keine der beiden Kategorien. Den Menschen und Musikschriftsteller Richard Wagner finde ich gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig- aber das sind viele Genies gewesen. Ob Beethoven ein überaus sympatischer Zeitgenosse gewesen ist? Wagners Schriften spiegeln ein Denken wieder, dass zu Wagners Zeit alles andere als ungewöhnlich war. Antisemitismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein ein seltenes Phänomen. Natürlich sollte man diese Fakten nicht vergessen, wenn man sich mit Wagner auseinandersetzt, aber wenn ich seine Musik höre stehen sie für mich nicht im Vordergrund.


    Mein "Aha-Erlebnis" in Sachen Wagner hatte ich im Jahr 2000 in Hamburg, als ich zum ersten Mal eine Wagner-Oper (Es war der Tristan mit Ingo Metzmacher am Pult) live im Konzertsaal erlebte. Über die Inszenierung kann man streiten, über die Besetzung der Rollen auch- aber eines ist mir dabei klar geworden: Man muss die Opern Wagners hören und sehen- live. Nur aus der Konserve verliert Wagner für mich viel von seiner Wirkung. Was eigentlich logisch ist: Wenn man sich Wagners Ansatz des "Gesamtkunstwerks" vor Augen führt: Bühne, Orchester, Opernhaus- das gehört für mich bei Wagner einfach zusammen- und nur dann entfaltet sich für mich die Faszination der Musik Wagners ganz. Kurz nach der Hamburger Aufführung habe ich mir den Karl Böhms Bayreuther Tristan mit Windgassen und Nilson gekauft- und irgendwie wollte sich da nicht die gleiche Wirkung einstellen wie im Konzert. Und das hat sich eigentlich bis heute nicht wesentlich geändert. Dei Aufnahme hat mir gefallen, keine Frage aber die emotionale Wirkung war eine andere- beileibe nicht so intensiv wie in der Oper.


    Bei anderen Komponisten empfinde ich diese Diskrepanz zwischen Konzertsaal und CD bei weitem nicht so deutlich wie bei Wagner. Was für mich den Reiz von Wagners Opern ausmacht? Wagner hat alle Höhen und Tiefen der menschlichen Natur auf die Bühne gebracht- keine eindimensionalen Abziehbilder. Und das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, warum Wagner´s Musik auch die abenteuerlichste Inszenierung unbeschadet übersteht. Aber ist deswegen Wagner "besser" als Verdi, Donizetti, Bellini etc.? Eher nicht.


    Herzliche Grüße,:hello::hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Zitat

    Mein Kompliment! Das nenne ich Zivilcourage! Warte nur, wie Edwin seine Finger spitzt, wenn er das liest!


    Nein, nein, keineswegs, ich hab mir, ehrlich gestanden, ja auch erst gestern eine Sachertorte mit Schlag gegönnt.


    Zitat

    In seinem gesamten Werk kommt Wagner nicht einmal in Sichtweite von Verdis Meisterschaft, die Sehnsüchte und Träume eines jungen Menschen in derart zarter, ja zerbrechlicher Form auszudrücken, wie es in "Caro nome" der Fall ist.


    Darf ich eine intensive Bekanntschaft mit Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" empfehlen, in der eine ähnliche Thematik unter einigen Aspekten beleuchtet wird und die nebenbei ein paar kontrapunktische Meisterleistungen enthält, derer der von Dir genannte italienische Komponist nur dann - wenn überhaupt - fähig war, wenn er die Harmonik auf ein Grundgerüst reduzierte...?


    :hello:

    ...

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Wagner hat alle Höhen und Tiefen der menschlichen Natur auf die Bühne gebracht-


    Ja, punktgenau! Auf der Bühne stehen germanische Helden, britische Ritter, Götter, Riesen, Zwerge - und wir leiden mit ihnen mit als wären es Menschen von heute mit allen Nöten, Zwängen und Leidenschaften, die wir selbst empfinden.
    Ich sage dazu: Wagner hat den Mythos erlebbar gemacht.


    :hello:

    ...

  • Lieber Marc,


    wie heißt es bei Euch in Kölle so schön: jeder Jeck ist amders! Vielleicht unterscheiden wir uns einfach in dem, was wir in den Opern suchen. Wagner ist wie ein nicht leicht zu bändigender Sportwagen, der in den Kurven gern ausbricht und seinem Fahrer höchte Konzentration abverlangt. Da ist etwas Unbedingtes und Ununterdrückbares. das sich da Bahn brechen will. Wagner geht immer aufs Ganze, halbe Sachen gibt es nicht. Wenn er jemanden erlösen will. dann die ganze Menschheit, wenn etwas auf dem Spiel steht, dann immer die höchsten Dinge. Das kann für ein scharf beobachtendes Auge auch den Keim der Lächerlichkeit in sich tragen. Es gibt immer irgendwelche Details, die man vergrößen und damit der Lächerlichkeit preisgeben kann. Deshalb muss man bei Wagner immer das ganze Werk sehen, er eignet sich grundsätzlich nicht für jemanden, der auf "schöne Stellen" abonniert ist. Und wenn es um Schönes, Angenehmes, Unterhaltsames geht, dann ist Wagner auch nicht die richtige Adresse. Er führt das Zwielichtige, das Undurchsichtige, die Lüge in die Musik ein, seine Charaktere snd geplagte und beladene Wesen. nicht einfach nur "gut" oder "böse". Es gibt wenig moralisch Eindeutiges bei Wagner und niemanden der ganz recht hat. Eben so wie im Leben auch.


    Vielleicht könnte Dir Thomas Mann, ein kritischer Wagner-Liebhaber par excellence, ein wenig weiterhelfen. Er sah die Gefahren, die in Wagners Werk stecken, sehr wohl und auch, dass manch Ungesundes darin steckt. Aber dennoch ist er nie von ihm losgekommen, er hat sich lebenslang von ihm faszinieren und künstlerisch inspirieren lassen. In diesem Band sind seine Wagner-Texte versammelt, eine sehr anregende Lektüre:



    :hello:


    GiselherHH


    P.S.: Im Zusammenhang von Wagner und anderen Opernkomponisten fällt mir eine Stelle aus dem Prolog desTierbändigers ein, der am Anfang von Bergs "Lulu" steht:


    "Was seht Ihr in den Lust- und Trauerspielen?!-
    Haustiere, die so wohl gesittet fühlen,
    An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen
    Und schwelgen in behaglichem Geplärr (...)
    Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier,
    Das - meine Damen! - sehn Sie nur bei mir."

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Ja, die Mann-Schrift ist unbedingt lesenswert.
    Aber jetzt würde mich einmal eines interessieren. Tun wir einmal so, als wüßten wir nicht, was Wagner in seinen Schriften von sich gegeben hat (welche gesellschaftspolitische Schriften haben wir doch gleich von Monteverdi...?). Tun wir auch so, als wüßten wir nicht um die politische Einstellung Wagners (von der noch lange nicht gesagt ist, daß Wagner, hätte er um 50 Jahre länger gelebt, Hitler verehrt hätte).
    Wo sind die "ethisch gefährlichen" Stellen in den Opern? Stellen, die gefährlicher sind, als etwa die antisemitische Judenszene in der "Salome" von Strauss, meine ich.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Punktgenau!


    :hello:


    Na klar doch, und die anderen Opernkomponisten hatten keine Ahnung von der menschlichen Natur! Dieses Scheuklappendenken der Wagnerianer kann einem schon gelegentlich auf den Geist gehen.



    Zitat

    Ich sage dazu: Wagner hat den Mythos erlebbar gemacht.


    Da ist etwas dran. Das war eine große Leistung an sich. Nur - war es nötig? Warum brauche ich Ersatzgestalten, die so lebendig sind sind, dass ich mit ihnen leide "als wären es Menschen"?


    Damit will ich nicht gegen Wagner sprechen, mit stört nur die Argumentationsweise der Wagnerianer, die Dinge als wunderbare und einzigartige Errungenschaften hinstellen, die es in Wirklichkeit so nicht sind. Die letale Auseinandersetzung der beiden Riesen ist großartige Oper, kommt aber dennoch nicht an die menschliche Unmittelbarkeit und dramatische Wucht der finalen Auseinandersetzung zwischen Carmen und Don José heran. Bizet packt einen direkt an der Gurgel, bei Wagner hat man immer eine gewisse Distanz der Abstraktion.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Aber jetzt würde mich einmal eines interessieren. Tun wir einmal so, als wüßten wir nicht, was Wagner in seinen Schriften von sich gegeben hat (welche Schriften haben wir doch gleich von Monteverdi...?). Tun wir auch so, als wüßten wir nicht um die politische Einstellung Wagners (von der noch lange nicht gesagt ist, daß Wagner, hätte er um 50 Jahre länger gelebt, Hitler verehrt hätte).


    Hier liegt der Hund begraben- wenn wir uns mit Wagner befassen: Wir können in der Regel eben nicht vergessen, was Wagner geschrieben hat und was mit seiner Musik für Schindluder getrieben worden ist. Und hätte Wagner sich nicht als Musikschriftsteller betätigt, würde der Komponist Wagner bei weitem nicht so sehr polarisieren. Im besten Sinne "unvoreingenommen" Wagner zu hören, ohne diese Dinge im Hinterkopf zu haben funktioniert nicht.


    Aber bei der Bewertung des Phänomens Wagner muss man eben zwischen dem Komponisten und dem Musikschriftsteller differenzieren, so schwer das auch fallen mag. Die Kernfrage ist doch die: Was macht das Besondere an Wagners Musik aus? Und nicht: Was hat der Mann sonst noch alles gesagt, getan und geschriebnen- was er besser gelassen hätte.


    Auch andere Komponisten haben einzigartige Charaktere auf die Bühne gebracht. Insofern kann ich nicht sehen, was Wagner über andere große Opernkomponisten hinaushebt.


    Herzliche Grüße,:hello::hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Wo sind die "ethisch gefährlichen" Stellen in den Opern? Stellen, die gefährlicher sind, als etwa die antisemitische Judenszene in der "Salome" von Strauss, meine ich.
    :hello:


    Hallo Edwin,


    tatsächlich hat Wagner wohlweislich seine Musikdramen und seine ideologischen Schriften bis zu einem hohen Grad auseinandergehalten. Trotzdem gibt es "gefährliche" Ingredienzen auch in den Opern und über diese ist hier im Forum auch schon diskutiert worden. Ich zitiere hier aus reiner Faulheit nochmals meine Postings zu den camouflierten Judenfiguren Mime und Beckmesser:






    Und noch kurz zur Geschichte meiner persönlichen Wagner-Rezeption:


    Zitat

    Original von Zwielicht
    Gerade Wagners Musikdramen sind "offene Kunstwerke", die viele Lesarten zulassen. Das macht auch ihre Qualität aus. Viele wählen den Ausweg, Wagners Texte zu verdammen und allein die Musik zu schätzen. Das ist m.E. falsch. Der Germanist Borchmeyer hat nicht zu Unrecht behauptet, dass Wagner als Dichter der wichtigste Beitrag der deutschen Literatur zur Weltliteratur zwischen Heinrich Heine und Thomas Mann gewesen ist - nachweisbar an der regen Rezeption in anderen Nationalliteraturen (Baudelaire, Joyce, Eliot...).



    Ich verstehe jeden, der Wagner ablehnt und mit seinen Werken nichts zu tun haben will. Ich selbst habe mich nach einer Phase jugendlicher Wagner-Schwärmerei zwischen meinem 15. und 17. Lebensjahr für diese Leidenschaft plötzlich geschämt, als ich von Wagners Antisemitismus erfahren habe. Damals habe ich meine drei LP-Alben mit Wagner-Aufnahmen (Solti-Walküre und -Siegfried, Sawallisch-Holländer) so hingestellt, dass man die Aufschriften nicht gesehen hat... :no: Weggeschmissen habe ich sie zum Glück nicht, vielleicht weil ich zu feige war, oder zu geizig, oder vielleicht doch schon zu einsichtig... :D Mit 24 Jahren habe ich Wagner aber über den "Tristan" neu entdeckt (zuviele große Persönlichkeiten, auch Linke, auch Juden waren Wagnerfans) und seitdem hat mich nichts mehr davon abbringen können...


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Zitat Theophilus
    Na klar doch, und die anderen Opernkomponisten hatten keine Ahnung von der menschlichen Natur!


    Andersrum wird auch kein Pantoffel draus...
    Ich glaube schon, daß Wagner die Extrempositionen menschlicher Befindlichkeiten umfassender vertritt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wer wen dramatischer an der Gurgel packt, sondern auch um innere Vorgänge. Ich denke etwa an Wotans Abschied. Oder an die für mich wirklich erschütternde Figur des Hagen, der sich "durch Abstammung" sozusagen der Nachtseite zugehörig fühlt. Man könnte jetzt auch noch mit "Tristan", "Meistersingern" (hat jemals ein Komponist einen derartigen selbstüberwindenden Verzicht komponiert, wie er in der Gestalt des Sachs angelegt ist?), "Parsifal" etc. argumentieren.
    Andere Komponisten schreiben sicherlich grandiose Opernszenen (und ich bin der letzte, der es dem von mir weit über Verdi gestellten Bizet nicht zugesteht) - aber bei Wagner erfahre ich nicht nur dramaturgisch, sondern auch psychologisch, wie es zu diesen Szenen kommt.


    Daß die z.B. die Auseinandersetzung der beiden Riesen anders läuft als die Auseinandersetzung zwischen Carmen und Don José ist doch bitte klar. Oder siehst Du die Riesen als homosexuell inzestuöses Paar - das müßten sie nämlich sein, wenn Dein Vergleich adäquat sein soll.


    :hello:



    ----------------------------------------


    Hallo Bernd,
    offenbar ein Mißverständnis: Alles weglassen, was wir über Wagners Hintergründe wissen.
    Kämen wir auf die Idee, Mime könne eine Karikatur eines Juden sein, wenn wir keine Ahnung haben, wie ambivalent Wagner zu Juden gestanden ist?


    Wenn wir beispielsweise das unsägliche Gekreische des Judenquintetts in der "Salome" hören, brauche ich keine Hintergründe über Strauss zu wissen, damit mir klar wird, daß hier eine antisemitische Karikatur vorliegt.


    Aber wie komme ich, ohne die Kenntnis von Wagners unsäglichen Auslassungen, auf die Idee, daß der in der geramnischen Mythologie beheimatete Mime ein Vorbote des Antisemitismus der Nationalsozialisten sein könne - es sei denn, ich beginne auf der Grundlage eines vorhandenen Hintergrundwissens zu interpretieren.


    (Wobei ich nur anmerken möchte, daß diese Interpretationen alle an ihre Grenzen stoßen, weil sie sich letzten Endes vielleicht punktuell, nicht aber im Zusammenhang mit dem Gesamtwerk ausgehen.)


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Darf ich eine intensive Bekanntschaft mit Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" empfehlen, in der eine ähnliche Thematik unter einigen Aspekten beleuchtet wird und die nebenbei ein paar kontrapunktische Meisterleistungen enthält, derer der von Dir genannte italienische Komponist nur dann - wenn überhaupt - fähig war, wenn er die Harmonik auf ein Grundgerüst reduzierte...?


    :hello:


    Du gießt Wasser auf meine Mühle. Alles, was du pro Wagner ins Treffen führst, kannst du eigentlich zu Hause besser erleben als in der Oper. Natürlich gibt es in den Meistersingern viele schöne Momente, aber die einzige Stelle, die für Wagnersche Verhältnisse einen ähnlichen Punkt der Stille darstellt wie die Arie der Gilda, kommt gleich in fünffacher Ausführung daher. Und wie oft hast du das Quintett schon live in beglückender Form gehört? Bei der Gilda-Arie ist das sogar in Graz eher die Regel als die Ausnahme.
    Wenn ich in der Oper sitze, möchte ich eine Geschichte miterleben. Wenn ich dabei über kontrapunktische Meisterleistungen nachzudenken beginne, liegt mit der Geschichte etwas im Argen. Ich rede von erlebter und erlittener Oper und nicht davon, wie kompliziert dies auch realisierbar ist. Wenn das Wie zuviel Bedeutung gegenüber dem Was gewinnt, dann gerät Oper mehr zu einer Betrachtung eines Kunstwerks hinter Glas als zu einem unmittelbaren Erlebnis.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Kämen wir auf die Idee, Mime könne eine Karikatur eines Juden sein, wenn wir keine Ahnung haben, wie ambivalent Wagner zu Juden gestanden ist?


    Wenn wir beispielsweise das unsägliche Gekreische des Judenquintetts in der "Salome" hören, brauche ich keine Hintergründe über Strauss zu wissen, damit mir klar wird, daß hier eine antisemitische Karikatur vorliegt.


    Bist du sicher, dass du hier mit gleichem Maß misst?


    Keine Frage, in der Salome hören wir eine Karikatur streitender Gelehrter. Aber muss man aus der Tatsache, dass es sich um jüdische Gelehrte handelt (bei denen wiederum Diskussionen zum gelebten Glauben dazugehören), automatisch schließen, dass es sich um eine antisemitische Karikatur handelt? Kann es nicht einfach eine Karikatur jüdischer Gelehrter sein?

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • ... was sich aufgrund des Sujets (immerhin spielt Salomé in Jerusalem und nicht in Walhall oder Nibelheim) zumindest als eine mögliche (und daher gar nicht mal so weit hergeholte) Deutung dieser kurzen Szene sicher anböte....


    Aber wir gleiten in das Thema des "Antisemitismus in der Musik" ab - und das möchte ich eigentlich vermeiden.
    Alfred hat ja mal einen Thread, der diesem Thema gewidmet war, aus mir durchaus nachvollziehbaren Gründen geschlossen - daher würde ich dafür plädieren, diesen Aspekt hier auf sich beruhen zu lassen.


    Bisher ist hierzu sachliches und informatives (anhand interessanter Zitate) vorgetragen worden, das sollte genügen, finde ich...


    Zurück zum Thema "Zugang zu Wagner":


    Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich mit Wagners Biographie bisher viel zu wenig beschäftigt habe (die groben Züge kenne ich allerdings), um beurteilen zu können, ob und wie weit seine Person eine unangenehme, bzw. seine nichtmusikalischen Publikationen verachtenswert waren. Bevor ich mir bei sowas eine Meinung bilde (weil gerade bei solchen Themen immer viel Polemik und Übertreibung beider Seiten im Spiel ist), beschäftige ich mich erstmal selber mit der Materie oder ich lasse sie zunächst außen vor.


    Daher kann ich also "guten Gewissens" sagen: Meine bisherigen Zugangsversuche zu Wagners Werken beschränkten sich wirklich rein auf das musikalische, bzw. die von ihm verfassten Libretti.
    Da gibt es schon so viel, mit dem man sich dann zu beschäftigen hat, dass ich "als Einsteiger" da ganz ehrlich keinen weiteren Gedanken frei hatte, um mir immer wieder etwaige politische Hintergründe (die mir en détail nicht bekannt sind) und Ansichten Wagners ins Gedächtnis zu rufen.


    Aber die zahlreichen Literaturtipps von Euch finde ich schon mal klasse: Besonders die von Austria empfohlene Biographie, sowie die Texte von Nietzsche und Thomas Mann (den ich sehr bewundere) haben meine Neugier geweckt!


    Ansonsten mal ein großes Kompliment an alle bisher an dieser Diskussion Beteiligten:
    Obwohl die Meinungen hier teilweise sehr voneinander abweichen, geht es konsequent sachlich, unterhaltsam und nie beleidigend zu.
    Niemand fühlt sich angegriffen oder wird polemisch - find ich klasse! :yes:


    Es macht Spaß, in diesem Thread hier zu lesen, zumal auch der Humor nicht zu kurz kommt - warum nicht immer so :hello:

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

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  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Bernd,
    offenbar ein Mißverständnis: Alles weglassen, was wir über Wagners Hintergründe wissen.
    Kämen wir auf die Idee, Mime könne eine Karikatur eines Juden sein, wenn wir keine Ahnung haben, wie ambivalent Wagner zu Juden gestanden ist?


    Wenn wir beispielsweise das unsägliche Gekreische des Judenquintetts in der "Salome" hören, brauche ich keine Hintergründe über Strauss zu wissen, damit mir klar wird, daß hier eine antisemitische Karikatur vorliegt.


    Hallo Edwin,


    wenn man diese Voraussetzung ("Alles weglassen, was wir über Wagners Hintergründe wissen") für einen Augenblick akzeptiert, dann hast Du recht.


    Aber wie schon Caesar73 oben schrieb: die Isolierung eines Werks aus seinem unmittelbaren und weiteren Kontext ist eine künstliche Konstruktion, die nicht funktioniert - bei Wagner schon gar nicht. Man kann und soll sein Wissen nicht ausblenden. Den "Parsifal" (eines der größten Werke der Operngeschichte) versteht man leider besser, wenn man ihn im Kontext der späten Regenerationsschriften begreift (wie Zelinsky das getan hat, allerdings mit unzulässigen Folgerungen). Und die Wiener Juden, die 1870 die "Meistersinger" gehört haben, konnten auch nicht ausblenden, dass das "Judentum in der Musik" gerade unter Wagners richtigen Namen neu ediert worden war.


    Bezüglich des Judenquintetts in der (von mir sonst sehr geschätzten "Salome") gebe ich Dir recht; hier bekomme ich auch immer Bauchschmerzen: typische Antisemitismen (die schon bei Oscar Wilde vorhanden sind) werden hier von Strauss in dem kreischenden Tonfall vertont, der von einem besonders widerwärtigen physiologischen Antisemitismus den Juden zugeschrieben wurde (und zwar seit Wagners "Judentum in der Musik" - die Salome-Juden sind übrigens vom Tonfall her auch Wiedergänger von Mime).


    Viele Grüße


    Bernd


    PS: Im übrigen schließe ich mich durchaus MarcCologne an, dass wir das Thema "Antisemitismus bei Wagner" zumindest in diesem Thread auf sich beruhen lassen sollten.

  • Zitat

    Zitat Theophilus
    Bist du sicher, dass du hier mit gleichem Maß misst?


    Ich bin mir sogar völlig sicher.
    Ich brauche dazu nur ein Personenregister der "Salome". Da steht nicht etwa "fünf jüdische Gelehrte", sondern "Fünf Juden".
    Im "Ring" vermisse ich im Personenregister allerdings "Mime, ein jüdischer Zwerg", ich vermisse im "Parsifal" den Hinweis "Klingsor, ein jüdischer Zauberer", ich vermisse in den "Meistersingern" die Bezeichnung "Beckmesser, ein jüdischer Stadtschreiber" (was übrigens ziemlich absurd wäre, da man in einer antisemitischen Gesellschaft wohl kaum den Juden zum Chronisten dieser Gesellschaft machen würde - aber diese Diskrepanz hat auch Zelinsky nicht wirklich erklären können.)


    Nun, ich bin der erste, der gerne auf Bernds Vorschlag eingeht und Wagners Antisemitismus aus der Diskussion wegläßt.
    An mir soll es nicht scheitern.
    Nur leider bricht dann das ganze Argumentationsgebäude der Wagner-Gegner zusammen, daß Wagner "unethisch" gewesen wäre und seine Opern "historisch belastet" wären.
    Miese Figuren hat es in der ganzen Musikgeschichte gegeben. Gesualdo etwa war gar ein Mörder, Verdi ein Lügner, Strauss ein Egomane, Britten ein Intrigant, Orff ein Feigling, Henze die lebendig gewordene Doppelmoral. Und Wagner war, wenn man alles das wegläßt, was mit seinem Antisemitismus zu tun gehabt hat, ein Egomane und Ausnützer anderer Menschen.
    Ja - und?


    Ich bin auch nicht mit Austria einverstanden (obwohl ich weiß, wie sie es meint): Ich würde mich mit Wagner sehr gerne treffen. Ich würde ihn dann fragen, wie man etwas wie den "Tristan" schreiben kann - oder, ob er die symphonische Durcharbeitung der "Götterdämmerung" konzeptuell angestrebt hat. Eventuell würde ich ihn auch bezüglich Tempi und Balancen befragen und ob er wirklich einen heldentenoralen Brüllaffen als Tristan einem Sänger mit tragender, aber weicher, nuancierter Stimme vorzieht. Vielleicht würde ich ihn auch fragen, was eigentlich mit Alberich passiert, der in der "Götterdämmerung" abtritt, dessen Schicksal aber ungeklärt ist. Ich glaube, ich hätte Wagner einiges zu fragen - und vielleicht wäre es auch ein Randthema, weshalb Cosima in den Tagebüchern schreibt, im "Parsifal" würde an einer bestimmten Stelle die G-Pauke zur Judenvernichtung schlagen, wo doch an dieser Stelle gar keine G-Pauke vorkommt.


    Nun ein anderer Punkt: Theophilus hat in einer Sache recht:

    Zitat

    Natürlich gibt es in den Meistersingern viele schöne Momente, aber die einzige Stelle, die für Wagnersche Verhältnisse einen ähnlichen Punkt der Stille darstellt wie die Arie der Gilda, kommt gleich in fünffacher Ausführung daher.


    Aber: Für mich haben diese stillen Momente, die es bei Wagner sogar sehr oft gibt, jedesmal eine andere Qualität. Es ist niemals die identische Stille. "Kehrte der Vater nur heim" ist eine andere Stille als Kurwenals Tod, die wunderbare Stille am Ende des zweiten Aktes der "Meistersinger" (hat jemals ein anderer Komponist ein derartiges Notturno geschrieben, das so nach Nachtluft duftet und in dem man gleichzeitig die innige Zuneigung zweier Menschen so intensiv spürt?) ist eine andere nächtliche Stille als diese ungeheure Frageszene, mir der der zweite Akt der "Götterdämmerung" beginnt oder dieser einzigartige Moment in Brünnhildes Schlußgesang bei "Ruhe, du Gott".
    Meiner Meinung nach hat von den Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts einzig und allein Mussorgskij Werke komponiert, die ebenbürtig mit der Ausdrucksgewalt Wagners sind.
    Bizet, Verdi, Gounod etc. - das sind sicher alles erstklassige Komponisten, vielleicht sogar Genies. Wenn es keinen Wagner und keinen Mussorgskij gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich auch für mich der Inbegriff der Oper des 19. Jahrhunderts.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Theophilus


    Mein Kompliment! Das nenne ich Zivilcourage! Warte nur, wie Edwin seine Finger spitzt, wenn er das liest! ;)


    Sowas spielt m.E. nun wirklich auf der Ebene des persönlichen Geschmacks. Salome ist halt nochmal dicker aufgetragener "Überwagner". Wenn einem das gefällt, sollte einem eigentlich auch Walküre gefallen. Jedenfalls sehe ich nicht, was ein Jünger Donizettis oder des mittlerer Verdi an Salome eingängiger finden sollte als an Tristan oder Walküre.



    Zitat


    Ich sehe nicht ein, warum man derartige Empfindungen nicht auch bei Rigoletto erleben kann (vielleicht mit Ausnahme der Abhängigkeit, was eigentlich ohnehin positiv wäre).


    ...


    "subtil umschmeicheln"? In seinem gesamten Werk kommt Wagner nicht einmal in Sichtweite von Verdis Meisterschaft, die Sehnsüchte und Träume eines jungen Menschen in derart zarter, ja zerbrechlicher Form auszudrücken, wie es in "Caro nome" der Fall ist.


    Ich sehe das ähnlich, da es mir ein sehr verkürztes Verständnis von psychologischer oder emotionaler Charakterisierung von Opernfiguren zu sein scheint, wenn die Art, wie Wagner das macht automatisch besser sein sollte, als bei z.B. Händel, Gluck, Mozart, Weber, Verdi (oder auch Donizetti, von dem kenne ich praktisch nichts, daher kann ich das nicht beurteilen).
    Selbstverständlich verwenden diese Komponisten nicht alle dieselben künstlerlichen Mittel zur Charakterisierung, aber ohne genauere Darlegung und Argumentation sehe ich nicht ein, warum Wagners Musiksprache hier per se überlegen sein sollte.
    Mir kommt das so ähnlich vor, als würde man Fontane mangelnde Charakterisierung seiner Figuren vorwerfen, nur weil diese Typen nicht alle so hysterisch sind wie bei Dostojewskij.
    Klar, im Ring kann irgendein Motiv in der Begleitung erklingen, dann weiß der Eingeweihte, Wotan denkt jetzt an die Wälsungen oder an die Verträge oder was immer, obwohl er von etwas anderem singt. Aber ist das subtil?


    Man könnte umgekehrt ebensogut argumentieren, dass es eine künstlerische Schwäche sei, wenn so dick aufgetragen werden muß ;) (z.B. dass es diesen idiotischen Trank braucht, um klar zu machen, dass Tristan & Isolde einander verfallen sind)
    Das wäre natürlich ebenso einseitig.
    Den "Klangrausch" (den ich ebenfalls ambivalent sehe) gibt es meiner Erfahrung nach übrigens auch bei Strauss und sogar (ansatzweise) Puccini.


    Zitat


    Bleibt also der "dramatische Mehrwert" Wagners. Gut, soll sein, aber man kann gelegentlich daran denken, dass dieser dramatische Mehrwert hin und wieder durchaus einige Mängel an klassischen Operntugenden ausgleichen muss. Und ich für meinen Teil kann mich sehr gut an einer brillant gebrachten dramatischen Handlung mit schöner Musik erfreuen, ohne hinterher irgendeinen Mehrwert zu fordern. Habe ich z.B. nach einer Beethoven-Symphonie auch noch nie gemacht.


    Hier verstehe ich ehrlich gesagt weder pro noch contra... :rolleyes:
    Ich verstehe (und bewundere dies selbst) die Neuheit der sinfonischen Faktur, der weiten Spannungsbögen bei Wagner. Dieses konsequente Durchkomponieren als musikhistorische Errungenschaft bestreitet wohl auch kaum jemand. Aber warum ist das (automatisch?) "dramatischer" (oder psychologischer) als Mozart oder Verdi?
    Das hängt offenbar davon ab, was man mit "dramatisch" meint...
    Oder umgekehrt, was sind die "klassischen Operntugenden", die zu kurz kommen? Wenn diese Tugenden davon abgeleitet sind, dass Verdi sie "klassisch" erfüllt, warum sollten sie dann von Wagners Opern erfüllt werden?
    Oder welche allgemeineren dramatischen Schwächen sollen Wagners Opern?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Zitate Johannes Roehl
    Ich sehe das ähnlich, da es mir ein sehr verkürztes Verständnis von psychologischer oder emotionaler Charakterisierung von Opernfiguren zu sein scheint, wenn die Art, wie Wagner das macht automatisch besser sein sollte, als bei z.B. Händel, Gluck, Mozart, Weber, Verdi (oder auch Donizetti, von dem kenne ich praktisch nichts, daher kann ich das nicht beurteilen).


    Es geht nicht um automatisch besser.
    Eswird indessen sehr oft übersehen, daß ja auch bei Wagner die Emotionen bzw. psychologischen Charakterisierungen in einem Monolog kulminieren. Nur ist dieser Monolog Teil eines Gesamtkonzeptes.


    Zitat

    Mir kommt das so ähnlich vor, als würde man Fontane mangelnde Charakterisierung seiner Figuren vorwerfen, nur weil diese Typen nicht alle so hysterisch sind wie bei Dostojewskij.


    Nein, es ist nicht Fontane, den man Dostojewskij nachstellen würde; eher ginge es darum, Walter Scott und Dostojewskij zu vergleichen - und da glaube ich schon, daß Dostojewskij, bei all seiner "Hysterie", der etwas bedeutendere Autor ist.


    Zitat

    Klar, im Ring kann irgendein Motiv in der Begleitung erklingen, dann weiß der Eingeweihte, Wotan denkt jetzt an die Wälsungen oder an die Verträge oder was immer, obwohl er von etwas anderem singt. Aber ist das subtil?


    Das ist nur derAusgangspunkt der Leitmotivtechnik. Es geht nicht nur um Querverweise, sondern um eine auf ein bestimmtes Material beschränkte Verarbeitungstechnik, wodurch das Orchester zum symphonischen Kommentar des Gesanges wird.


    :hello:

    ...



  • Hallo Edwin,


    mein Vorschlag, Wagners Antisemitismus aus der Diskussion wegzulassen, bezog sich allerdings nur auf diesen Thread (bzw. auf dieses Forum, weil hier nun mal besondere Regeln gelten) - nicht auf die Diskussion um Wagner überhaupt. Außerdem ist die Befürchtung MarcColognes sehr verständlich, dass sich dieser Thread ansonsten unausweichlich nur um dieses Thema drehen würde.


    Moralische Verurteilungen Wagners, weil er "ein Egomane und Ausnützer anderer Menschen gewesen ist", halte ich auch nicht für besonders sinnvoll - Wagner als "Pumpgenie" ist doch eher eine erheiternde Erscheinung, die ich in keiner Weise abstoßend finde. Allerdings kann auch abseits des Antisemitismus der politische Opportunismus Wagners sprachlos machen: schlimmstes Beispiel ist die chauvinistische Besoffenheit des frischverheirateten Ehepaars Wagner anlässlich des deutsch-französischen Kriegs 1870/71. Wagner verfasste seinerzeit das unsägliche Lustspiel "Eine Kapitulation", in dem er seinem pathologischen Frankreichhass freie Bahn ließ und die unter der deutschen Belagerung hungernde Einwohnerschaft von Paris verspottete. Die nationalistische Phase Wagners findet ja bereits in dem chauvinistischen Ausfall am Ende der "Meistersinger" ihren Niederschlag, der sich m.E. eben nicht auf die ästhetische Dimension reduzieren lässt. Dass Wagner das Bismarckreich dann sehr schnell wieder satt hatte, lag 1. an der durchaus gut entwickelten politischen Sensibilität des ehemaligen Revolutionärs und 2. an der seiner Meinung nach ungenügenden Wertschätzung, die seiner Person und seinem Werk von höchster Seite entgegengebracht wurde. Was ihn nicht daran hinderte, sich oft genug bei Bismarck und Wilhelm I. einzuschleimen, worauf letzterer ja dann tatsächlich die Eröffnung der Festspiele 1876 besuchte. Wobei Wagner nach dem Ende der Festspiele das ganze Honoratiorengewese dann doch wieder ekelerregend fand... Usw. usw.


    Als Lektüre, die am unmittelbarsten den Zugang zum Menschen Wagner öffnet, kann ich die Tagebücher Cosima Wagners empfehlen, die den Zeitraum von 1869 bis zu Wagners Tod umfassen. Auch wenn man sich immer klarmachen muss, dass wir Wagner hier nur durch die Brille Cosimas sehen, hat man doch über weite Strecken einen manchmal erheiternden, oft erschreckenden Blick auf Person und Ansichten des Herrn Richard Wagner.


    Die Gesamtausgabe der Tagebücher ist z.Zt. offenbar nicht zu erwerben, es gibt aber eine preiswerte Auswahl:




    Nur zwei Zitate, davon eines für Edwin :D:


    12.2.1871: "Abends bringt [Hans Richter] das Gespräch auf Gounod, welches uns denn eine fürchterliche Musikliteratur durchwandern lässt, "Faust", "Prophet", "Hugenotten", Bellini, Donizetti, Verdi, alles hintereinander, mir wird physisch übel, ich nehme einen Band Goethe und suche Rettung. Doch nichts hilft, ich leide und leide. Richard wird es auch zu arg und bittet Richter aufzuhören, nachdem dieser ihm zu beweisen gesucht, daß Verdi nicht schlechter als Donizetti war." (Respekt vor Hans Richter übrigens!)


    Und dann - typisch Wagner (er war etwas undogmatischer als Edwin :D) - am 3.8.1872: "Richard singt eine Kantilene aus den "Puritanern", dabei bemerkend, daß Bellini solche Melodien gehabt, wie sie schöner nicht geträumt werden können. Dabei gedenkt er Rubinis, wie wundervoll er dies gesungen, und meint: 'Auf ganz andre Wege müssen unsre deutschen Sänger sich begeben, diese Begabung haben sie nicht'...."


    Viele Grüße


    Bernd

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