Hallo zusammen,
tituliert man nach Analogien ringend oft Bachs wohltemperiertes Klavier als altes, Beethovens Sonatenkosmos hingegen als neues Testament der Klaviermusik, so stellen die Etüden Chopins einen zweifelsohne nicht minder gewichtigen Einflussfaktor in der Geschichtes des Instruments dar. Insofern wären wohl zumindest einige Paulusbriefe als vergleichende Wertschätzung heranzuziehen.
Mit den Etüden op. 10 tat der im Jahre 1829 nicht mal 20 Jahre alte Chopin einen Geniestreich: War die Klavier-Etüde in jener Zeit eine sehr beliebte Gattung, deren Zweck es war, anhand eines ausgewählten technischen Problems die pianistische Fingerfertigkeit auszubilden, reformierte Chopin diesen Formtypus grundlegend. Handelte es sich bisher zumeist um Stücke geringen Nivaus und niedriger künstlerischer Expressivität, wurden sie von Chopin nun gleichsam geadelt und zu vollwertigen Kunstwerken erhoben.
Auch wenn diese Stücke dem praktischen Zweck scheinbar treu bleiben, so könnte der unterschied zur "typischen" Etüde der damigen Zeit nicht größer sein. Ist jede Etüde durchaus einer technischen Schwierigkeit, einer "pianistischen Figur" gewidmet, um sowohl als Übung dienen zu können, wie auch die technischen Fähigkeiten des Pianisten anhand des Grades der Ausführung zu dokumentieren, so steckt doch viel mehr in Ihnen. Chopin erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten des Instruments mit diesen Werken beträchtlich und verleiht ihnen künstlerischen Tiefgang, indem die Virtuosität nicht auf Kosten traditioneller Werte eingebracht , nicht zum effektvollen Überbau degradiert wird, sondern vielmehr selbst zum natürlichen Baumaterial der Komposition erwächst.
Vor allem die 12 Etüden op. 10 bilden einen beeindruckend geschlossenen Zyklus, jede ein kleines Gedicht für sich. Einige Stücke, wie die Etüde Op. 10 Nr. 12 ("Revolutionsetüde") oder Op. 25 Nr. 11 ("Wintersturm" ) erlangten allgemeine Popularität, Op. 10 Nr. 3 wurde sogar unsäglich als Schlagertitel verwurstet, ohne dass sich ein Richter gefunden hätte, die Schuldigen zu bestrafen.
Die Etüden dokumentieren durchaus auch die Entwicklung des pianistischen Niveaus durch die Zeitgeschichte: Empfahl ein Kritiker zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung noch, man solle einen fähigen Chirurgen in Bereitschaft halten, wenn man sich Ihnen widme, sind sie heute Pflichtprogramm für jeden Hochschulabsolventen, freilich in mehr oder minder perfekter Manier bewältigt.
Eine der ersten aufsehenerregenden Einspielungen stammt von dem Mann, gegen den Bela Bartok bei einem Klavierwettbewerb nicht den Hauch einer Chance hatte (wie er seinem Vater schrieb), dem heute eher als Könner der Wiener Klassik geschätzten Wilhelm Backhaus, der in seiner Jugend durchaus ein beeindruckender Virtuose war und allgemein auch hohe Ansprüche an die technischen Fertigkeiten der Zunft stellte (Liszts "Campanella" müsse jederzeit abrufbar sein, schrieb er einmal). Ich kenne leider nur einige Ausschnitte der Aufnahme aus dem Radio, die waren aber sehr überzeugend, wenn auch Qualitativ haarsträubend.
Von Pollini über Ashkenazy bis hin zu Perahia haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Pianisten um diese Werke verdient gemacht.
Wie steht ihr generell zu diesem "Stoff", habt Ihr Aufnahmen, wenn ja welche und wie gefallen sie Euch ?
Meine Favoriten reiche ich später nach.
Gruß
Anti