Seinen Namen kennen mehr Menschen als seine Musik. Speziell in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist Karlheinz Stockhausen in konservativen Kreisen der Inbegriff des schockierenden Avantgardisten, während fortschrittlich eingestellte Hörer in ihm einen Klassiker der Neuen Musik zu erkennen glauben.
Stockhausen polarisiert.
Heute hat seine Strahlkraft wesentlich nachgelassen. Zu Unrecht: Er ist mit Sicherheit einer der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er macht es einem nur sehr schwer, ihn wirklich ernst zu nehmen.
BIOGRAFISCHES
Karlheinz Stockhausen wird am 22. August 1928 in Mödrath geboren. Sein Vater ist Lehrer, die Mutter stammt aus bäuerlichen Verhältnissen. Als Kind erhält er Klavier- und später Orgelunterricht.
Stockhausen besucht das Lehrerseminar in Xanten, lernt Geige und Oboe.
1947 wird er an der Kölner Musikhochschule abgewisen, ein Jahr später aber aufgenommen. An der Universität studiert er zusätzlich Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft.
1951 trifft er Herbert Eimert, der sein wichtigster Förderer wird. Im gleichen Jahr Kontakt zu Karel Goyvaerts. Intensiver Gedankenaustausch bezüglich der seriellen Musik. Stockhausen besteht sein Examen mit Auszeichnung. Erstes wichtiges Werk: Kreuzspiel.
1952 beginnt Stockhausen sein Studium bei Olivier Messiaen. Die Klavierstücke I-IV formulieren die Möglichkeiten einer in allen Parametern konsequent präfixierten Musik.
1953 schreibt Stockhausen Kontrapunkte, sein erstes voll ausgereiftes serielles Werk.
1954-1955 macht Stockhausen unter dem Einfluß von John Cage aleatorische Experimente (Klavierstücke V-VIII). Im Klavierstück IX ist innerhalb der einzelnen Abschnitte die Organisation des Tonmaterials seriell, der Interpret kann allerdings unter Beachtung bestimmter Spielregeln die Reihenfolge der Abschnitte in begrenzter Freiheit wählen.
1955 komponiert Stockhausen das elektronische Werk Gesang der Jünglinge, das als ein Klassiker der sogenannten Elektronischen Musik gilt.
In den 60er Jahren beschäftigt sich Stockhausen immer intensiver mit der Aleatorik.
1968: In Aus den sieben Tagen definiert Stockhausen eine Extremposition der Aleatorik: Er gibt keine Noten oder Klangsymbole vor, sondern nur Texte. Die Musiker sind aufgerufen, über diese Texte musikalisch zu meditieren.
1970 führt Stockhausen einige seiner Werke bei der Weltausstellung in Osaka im Deutschen Pavillion als offiziellen Beitrag Deutschlands auf.
Im gleichen Jahr kehrt er mit Mantra zur fixierten Notierung zurück und beginnt mit jener Technik der "Formelkomposition", die er bis zum heutigen Tag anwendet.
Hauptwerke sind, neben Mantra, Inori, Trans, Jubiläum und Sirius.
Ab 1984 widmet sich Stockhausen fast ausschließlich seinem Opernprojekt Licht, das für jeden Tag der Woche ein eigenes mit dem Tagesnamen bezeichnetes Werk vorsieht (also z.B. Donnerstag aus Licht oder Samstag aus Licht ). Die meisten nicht im szenischen Rahmen aufgeführten Werke dieser Zeit (bis heute) sind Auskoppelungen aus den Licht-Opern.
Die Licht-Opern, insgesamt 29 Stunden Musik, sind alle von einer einzigen Formel abgeleitet, die die drei Hauptpersonen charakterisiert:
STILISTISCHE STELLUNG
Das Schaffen Stockhausens läßt sich in drei Phasen einteilen:
1) Bis etwa Anfang der 60er Jahre sind komponiert Stockhausen seriell, wobei er die Spielregeln mitunter großzügig genug formuliert, um in entscheidenden Bereichen Wahlmöglichkeiten zu haben. Innerhalb der selbst definierten Spielregeln geht Stockhausen allerdings konsequent vor. Möglichkeiten der elektronischen Klangmanipulation werden oft miteinbezogen.
2) In den 60er Jahren arbeitet Stockhausen zunehmend aleatorisch, wobei er selten grafisch notiert; zumeist gibt er verbale Anweisungen und Beschreibungen oder legt poetische Texte als Grundlage der musikalischen Meditation vor.
3) 1970 beginnt mit Mantra die Formelkomposition. Die Grundformel eines Werkes enthält sämtliche Informationen, die sich auch auf Rhythmus (bzw. Tondauernfolgen), Dynamik und Dynamik-Folgen und melodische Impulse erstrecken. Die einzelnen Elemente werden dann frei angewendet, wobei die Folgen durch Prinzipien wie Vergrößerung, Verkleinerung, Transposition etc. verändert werden, nicht aber Veränderungen vorgenommen werden, die nicht in der Ausgangsformel enthalten sind. Somit ist jeder Ton, jede Dynamik, jede Dauernfolge auf die Ausgangsformel rückführbar.
Während Stockhausen in seiner ersten Phase stark zur Abstraktion neigt und in der zweiten Phase die herkömmliche Kompositionsarbeit aufgibt, komponiert er in der dritten Phase eine intensiv färbige Musik mit klaren melodischen Formulierungen. Es ist eine Musik, die sinnlich wirkt und durchaus schön ist - sogar in einem Ausmaß, daß sie mitunter nicht einmal den herkömmlichen Schönheitsidealen einer mit der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts halbwegs vertrauten Hörerschaft widerspricht.
DIE STOCKHAUSEN-PROBLEMATIK
Obwohl Stockhausen zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart zählt, wird er seit geraumer Zeit nur peripher wahrgenommen. Das hängt freilich weniger mit der Musik Stockhausens zusammen als mit seiner Person. Mit durchaus ernst gemeinten Aussprüche wie, er sei auf Sirius geboren und daß die Anschläge vom 11. September "das größte Kunstwerk" wären, "was es je gegeben hat", weil dadurch "5000 Leute in die Auferstehung gejagt" würden, verstellen den Blick auf Stockhausens Musik ebenso wie seine Selbstinszenierung als Mystiker und Patriarch einer Großfamilie.
Leider schlägt sich diese Nabelschau auch in den Werken nieder: Nicht nur basieren sämtliche Vokalwerke auf Stockhausens eigenen, leider nicht ansatzweise dichterischen sondern oft geradezu dilettantischen Texten, sondern es geht im zentralen Werk "Licht" auch ausschließlich um Stockhausen und seine in den Rang von Engeln erobene Familie. Dazu passend werden Stockhausens Werke nur im eigenen Verlag verlegt und die Musik wird nahezu ausschließlich auf eigenen CDs veröffentlicht, als wolle Stockhausen bis in die Details Kontrolle darüber haben, wer sich mit seiner Musik befaßt.
Erst in letzter Zeit sind Konzertveranstalter wieder bereit, über Stockhausens Selbstinszenierung hinwegzusehen und seine Werke wieder öfter ins Programm zu nehmen. Daß die aufmerksamkeitfördernde Polarisierung mittlerweile stärker von der Person Stockhausen als von seinem Werk ausgeht, ist derzeit freilich immer noch ein unumstößliches Faktum.