Bach: Die Kunst der Fuge BWV 1080

  • Lieber moderato


    die Bearbeitungen (oder Neukompositionen) von Reinhard Febel habe ich selbst und finde sie ausgezeichnet. Ich hatte vor einiger Zeit einmal auf sie aufmerksam gemacht.


    Musik des 20./21. Jahrhunderts - gerade gehört - kurz kommentiert

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  • Liebe Forumfreunde, ich bin 'neu hier' und möchte zwei Anmerkungen machen und eine Frage stellen. Zur Struktur der KudeFu, der Position der Kanons hat Hans-Jörg RECHTSTEINER bei IMSLP eine sehr überzeugende Untersuchung vorgelegt, die m.E. die Frage der richtigen Reihenfolge der Cpti. und Canons beantwortet. Ich würde zu der Diskussion über die 'richtige' Interpretation gerne auf die CD-Einspielung des Ensembles FRETWORK als reinem Gamben-Consort hinweisen. Für mich ist diese Interpretation der Goldstandard : Klanglich intim, nicht vordergründig, hochsensibel und dem stile antico verbunden. Fretwork macht mit dieser Einspielung die KudeFu zu dem, was sie vielleicht für Bach wirklich auch sein sollte: Zur Geistlichen Musik.



    Zu meiner Frage : Es geht um die Ergänzung des Cpt. XIV/18 . Ich meine mich zu erinnern, daß vor einer Reihe von Jahren mal davon gesprochen wurde, man habe mittels KI eine Ergänzung vorgenommen. Wer weiß mehr darüber ? Veröffentlichung ? CD ? Herzlichen Dank vom 'Neuling'.

  • Ich habe da einen Artikel von Matthew Dirst und Andreas S. Weigend im Department of Music der Stanford Universität gefunden. Im Abschnitt 2 "A Physicists Perspective" wird Contrapunctus XIV auf KI-tauglichkeit untersucht. Ob Dir das etwas hilft, kann ich leider nicht beurteilen ....


    9780201626025.jpg



    Google bietet einen Link zum pdf (wahrscheinlich eine Vorversion des eigentlichen Artikels)


    https://scholar.google.de/scho…HYLPhI4qagDsA&oi=scholarr

  • Also eine "korrekte" Reihenfolge, aber historisch unhaltbare Besetzung mit Gambenconsort (~100 Jahre und einen Ärmelkanal von Bach entfernt)? Scheint mir zumindest fragwürdige Priorität...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,

    Kritik ist immer gut, danke... Die Gedanken von Hans-Jörg RECHTSTEINER zur 'richtigen' Positionierung der Canons und zur Gesamtkonzeption der KudeFu sind m.E. gut begründet. Hast Du die Arbeit gelesen ? Sie vorher hier im einzelnen zu diskutieren dürfte kaum möglich sein. Aber sie in toto abzulehnen, würde, weiter gedacht, auch bedeuten, daß auch allen anderen Einspielungen mit anderen Anordnungen entsprechend eine Berechtigung abzusprechen sei ?

    Zur Einspielung von FRETWORK : In der Literatur wird an zahlreichen Stellen darauf hingewiesen, Bach habe sich in seinen letzten Jahren zunehmend dem stile antico zugewandt. Das greift FRETWORK mit gewisser Berechtigung auf und macht daraus eine m.E. überzeugende Interpretation. Wenn man das nicht akzeptieren mag, müßte man auch alle anderen

    Besetzungsideen -- GLAESER, GÖBEL, Saxophon, JENA und so viele andere auch ins Kaminfeuer stecken.

    Wir werden wohl nie wissen, was sich Bach wirklich gedacht hat...

    Herzlich

    Heinrich :hello:

  • Im You Tube Beitrag 143 spielt Balint Karosi live auf der Orgel der Römisch-katholischen Pfarrkirche in Zamardi, Ungarn. Die Orgel ist ein modernes Instrument aus dem Jahr 2010. (rein mechanische Spiel- und Registertraktur, Schleifladenorgel)


    Es gibt eine SACD der Kunst der Fuge plus Choral Wenn wir in hoechsten Noethen, auf die ich aufmerksam machen möchte. Der Organist Samuel Kummer spielt an der Zacharias Hildebrandt-Orgel der Wenzelskirche in Naumburg. Johann Sebastian Bach hat diese Barockorgel 1746 als Orgel-Sachverständiger abgenommen.


    Humor und Geduld sind die beiden Kamele, mit denen man durch jede Wüste kommt.


    arabisches Sprichwort

  • Interessante, sehr unterschiedliche Besetzungen - z.B. u.a. Contrapunctus 9 á la Swingle Singers



    Die Zwischenchoräle finde ich allerdings etwas beliebig.

  • Auch wenn Trifonov in Beitrag 144 kritisiert wird, mir gefällt, was er hier macht: C 14 spielen und vervollständigen.

    Ich finde insgesamt die Klavierversionen besser als die mit anderen (oder sogar mehreren) Instrumenten, man kann sich besser auf den Verlauf konzentrieren, die Komplexität wird nicht noch durch unterschiedliche Klangfarben erhöht, und wenn die Stimmen so schön wie bei Trifonov differenziert werden, ist es ein Genuß.


  • Die Kunst der Fuge erfreut sich einer erstaunlichen Beliebtheit, wenn man bedenkt, dass an einigen Stellen von iherer Trockenheit gesprochen wird. Ich empfinde das allerdings auch nicht so und genieße dieses kleine (große) Wunderwerk immer wieder. Mein präferiertes Instrument ist auch das moderne Klavier.


    Es gibt noch eine Aufnahme, die ich besitze und bisher noch nicht erwaänt habe. Der schweizerische Pianist Cédric Pescia hat das Werk 2013 eingespielt. Es ist noch zu haben



    Auch die Einspielung unseres Verzierungsspezialisten Grigory Sokolov verdient eine Erwähnung. Sie ist schon lange bei mir in der Sammlung



    Mein Cover sieht irgendwie noch anders aus.


    Sokolovs Einspielung aus St.Petersburg aus dem Jahre 1982 habe ich leider nicht gefunden, dafür aber eine aus Leningrad ;)aus den Jahren 1978-81 ;). Von den Zeitangaben abgesehen scheint aber Gleichheit zu herrschen ....



    Von Pescia gibt es die Contrapuncti einzeln





    und zum Schluss noch Contrapunctus XI


  • Auch wenn Trifonov in Beitrag 144 kritisiert wird, mir gefällt, was er hier macht: C 14 spielen und vervollständigen.

    Ich finde insgesamt die Klavierversionen besser als die mit anderen (oder sogar mehreren) Instrumenten, man kann sich besser auf den Verlauf konzentrieren, die Komplexität wird nicht noch durch unterschiedliche Klangfarben erhöht, und wenn die Stimmen so schön wie bei Trifonov differenziert werden, ist es ein Genuß.

    Gefällt mir auch, allerdings nur wenn ich dieses komische Video ignoriere. Immerhin bewundernswert, dass Trifonov es schafft, noch beim Spielen parallel ein Lied ohne Worte von Mendelssohn zu studieren (op. 53 Nr. 6, im Video bei ungefähr 1:30 und später noch einmal). Das nenne ich echtes Multitasking :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Auch wenn Trifonov in Beitrag 144 kritisiert wird, mir gefällt, was er hier macht: C 14 spielen und vervollständigen.

    Ich finde insgesamt die Klavierversionen besser als die mit anderen (oder sogar mehreren) Instrumenten, man kann sich besser auf den Verlauf konzentrieren, die Komplexität wird nicht noch durch unterschiedliche Klangfarben erhöht, und wenn die Stimmen so schön wie bei Trifonov differenziert werden, ist es ein Genuß.


    Über die Interpretation Trifonovs des C 14 lässt sich wie immer streiten. Meine Interpretationsvorstellungen für Bach Werke in d-moll sind anders.

    Nun zum Thema "Vervollständigung des C 14":

    - alle bisherigen Vervollständigungen gehen davon aus, dass C 14 die abschließende Quadrupelfuge der KdF ist, wobei der Einsatz des 1. Themas der KdF fehlt. Also wird es implantiert, was bei der harmonischen Einfachheit dieses Themas kein größeres Problem darstellt. Nur, woher wissen die "Vervollständiger" das? Die Quellenlage ist dafür ist alles anders als eindeutig.

    1. Titel: "Fuga a 3 Soggetti" von CPEB geschrieben, also eine Tripelfuge! CPEB konnte zählen. Er war nicht doof.

    2. Alle Contrapunkte bis auf C 14 sind in Stimenpartitur geschrieben, C 14 in Klavierpartitur.

    3. Nur C 14 hat einen italienisch-sprachigen Titel, alle anderen sind Lateinisch.

    Es tritt also der Verdacht auf, dass C 14 garnicht zur KdF gehört, sondern ein eigenständiges Werk ist, welches aus verkaufstaktischen Gründen von den Herausgebern (CPEB, Agricola) der KdF beigefügt wurde, wie übrigens das Choralvorspiel "Vor Deinen Thron tret ich hiermit".

  • Gefällt mir auch, allerdings nur wenn ich dieses komische Video ignoriere.

    Finde ich auch, aber sie wollten wohl einen Pianisten mal anders zeigen als über die Tasten gebeugt. Das muß nicht immer funktionieren, aber das Video kriegt von mir doch immerhin einen Punkt für "netter Versuch".

  • Es tritt also der Verdacht auf, dass C 14 garnicht zur KdF gehört, sondern ein eigenständiges Werk ist, welches aus verkaufstaktischen Gründen von den Herausgebern (CPEB, Agricola) der KdF beigefügt wurde

    Könnte sein, ist aber wohl auch nicht mehr als Spekulatius.

  • Könnte sein, ist aber wohl auch nicht mehr als Spekulatius.

    Es gibt keinen endgültigen Beweis, aber mehr als Spekulation ist das schon. Die Idee, dass diese Tripelfuge von Bach eigentlich als Quadrupelfuge geplant sei, stammt von Martin Gustav Nottebohm, der 1888 entdeckte bzw. behauptete, dass man ab Takt 233 des Fragments (also wenige Takte vor dessen Ende) das Hauptthema der Kunst der Fuge satztechnisch korrekt hinzufügen könne. Dazu ließ Nottebohm die von Bach notierte unthematische Oberstimme aus und ersetzte sie durch dieses Thema. Da das aber im dritten Takt zu einer Quintparallele führen würde (die, wie Nottebohm selbst bemerkte, durch Synkopierung verhindert werden müsste), versetzte er die Stimme kurzerhand in den Bass. Dummerweise führt das aber zu anderen harmonischen und satztechnischen Problemen, vor allem beim letzten (Grund-)Ton des Themas. Ausgrechnet beim Haupthema ist es deshalb in der gedachten Quadrupelfuge unmöglich, es im Bass zu präsentieren, zumindest auf dem Bachschen satztechnischen Niveau. Allein dieser Mangel spricht schon sehr deutlich gegen Nottebohms These, dass Bach das so geplant habe. Hinzu kommt, dass in allen Stücken der Kunst der Fuge, in denen das Hauptthema erst in ihrem Verlauf auftritt, das spätestens etwa in der Mitte des Satzes (bei CP 8 ) oder viel früher geschieht (bei CP 9 und 10). Bei der Fuga a tre soggetti ist aber zum Zeitpunkt, an dem das vermeintliche Hauptthema dazu käme, schon 29 Mal deren erstes Thema erklungen. Die Fuge hätte also gigantische Ausmaße annehmen müssen, um auch dieses Thema noch gebührend durchzuführen. Und schließlich haben Analysen z.B. von Otfried Büsing gezeigt, dass sich, zumindest auf dem satztechnischen Niveau der Nottebohmschen Vorschläge, auch völlig andere Themen in den gegebenen Zusammenhang einfügen lassen, Büsing zeigt als Beispiele den Choral "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort", das Thema der Orgelfuge f-Moll BWV 534, der Orgelfuge h-Moll BWV 544 und der Klavierfuge cis-Moll BWV 849. Insgesamt spricht quasi alles dagegen, dass das Hauptthema der Kunst der Fuge hier als viertes Thema geplant war.

    Allerdings ist unklar, was daraus folgt: Nottebohm ging ja interessanterweise genau wie Philipp Spitta von der Feststellung aus, die Fuga a tre soggetti enthalte keine Spur des Hauptthemas der Kunst der Fuge, zog aber daraus den entgegengesetzten Schluss. Während Spitta meinte, sie gehöre deshalb auch nicht dazu, versuchte Nottebohm wie beschrieben mit der nachträglichen Hinzufügung des Themas das Gegenteil zu beweisen. Dabei haben aber beide übersehen, dass das erste Thema der Fuga a tre soggetti sehr wohl eng mit dem Hauptthema der Kunst der Fuge verwandt ist, was bereits vor über 50 Jahren von Jacques Chailley erkannt und seither von anderen bestätigt wurde. Diese Themenverwandtschaft spricht zwar gegen die Nottebohmsche These von der Quadrupelfuge (weil sonst zwei der vier Themen nicht wirklich unabhängig voneinander wären), könnte aber umgekehrt doch wieder für die Zugehörigkeit zur Kunst der Fuge sprechen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Es gibt keinen endgültigen Beweis, aber mehr als Spekulation ist das schon. Die Idee, dass diese Tripelfuge von Bach eigentlich als Quadrupelfuge geplant sei, stammt von Martin Gustav Nottebohm, der 1888 entdeckte bzw. behauptete, dass man ab Takt 233 des Fragments (also wenige Takte vor dessen Ende) das Hauptthema der Kunst der Fuge satztechnisch korrekt hinzufügen könne. Dazu ließ Nottebohm die von Bach notierte unthematische Oberstimme aus und ersetzte sie durch dieses Thema. Da das aber im dritten Takt zu einer Quintparallele führen würde (die, wie Nottebohm selbst bemerkte, durch Synkopierung verhindert werden müsste), versetzte er die Stimme kurzerhand in den Bass. Dummerweise führt das aber zu anderen harmonischen und satztechnischen Problemen, vor allem beim letzten (Grund-)Ton des Themas. Ausgrechnet beim Haupthema ist es deshalb in der gedachten Quadrupelfuge unmöglich, es im Bass zu präsentieren, zumindest auf dem Bachschen satztechnischen Niveau. Allein dieser Mangel spricht schon sehr deutlich gegen Nottebohms These, dass Bach das so geplant habe. Hinzu kommt, dass in allen Stücken der Kunst der Fuge, in denen das Hauptthema erst in ihrem Verlauf auftritt, das spätestens etwa in der Mitte des Satzes (bei CP 8 ) oder viel früher geschieht (bei CP 9 und 10). Bei der Fuga a tre soggetti ist aber zum Zeitpunkt, an dem das vermeintliche Hauptthema dazu käme, schon 29 Mal deren erstes Thema erklungen. Die Fuge hätte also gigantische Ausmaße annehmen müssen, um auch dieses Thema noch gebührend durchzuführen. Und schließlich haben Analysen z.B. von Ottfried Büsing gezeigt, dass sich, zumindest auf dem satztechnischen Niveau der Nottebohmschen Vorschläge, auch völlig andere Themen in den gegebenen Zusammenhang einfügen lassen, Büsing zeigt als Beispiele den Choral "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort", das Thema der Orgelfuge f-Moll BWV 534, der Orgelfuge h-Moll BWV 544 und der Klavierfuge cis-Moll BWV 849. Insgesamt spricht quasi alles dagegen, dass das Hauptthema der Kunst der Fuge hier als viertes Thema geplant war.

    Allerdings ist unklar, was daraus folgt: Nottebohm ging ja interessanterweise genau wie Philipp Spitta von der Feststellung aus, die Fuga a tre soggetti enthalte keine Spur des Hauptthemas der Kunst der Fuge, zog aber daraus den entgegengesetzten Schluss. Während Spitta meinte, sie gehöre deshalb auch nicht dazu, versuchte Nottebohm wie beschrieben mit der nachträglichen Hinzufügung des Themas das Gegenteil zu beweisen. Dabei haben aber beide übersehen, dass das erste Thema der Fuga a tre soggetti sehr wohl eng mit dem Hauptthema der Kunst der Fuge verwandt ist, was bereits vor über 50 Jahren von Jacques Chailley erkannt und seither von anderen bestätigt wurde. Diese Themenverwandtschaft spricht zwar gegen die Nottebohmsche These von der Quadrupelfuge (weil sonst zwei der vier Themen nicht wirklich unabhängig voneinander wären), könnte aber umgekehrt doch wieder für die Zugehörigkeit zur Kunst der Fuge sprechen.


    Vielen Dank für die Ausführungen.


    Es gibt ja einen sehr berühmten Versuch, diese Fuge zu "komplettieren". Meines Wissens (und Hörens) schreibt Busoni eine Quadrupelfuge mit dem gegebenen Material. Das Werk ist natürlich sehr frei, wenn man von dem kurzen Beginn absieht. Es ist sicher auch nichts, was sich Bach vorgestellt haben könnte. Ich habe diese Fuge immer als kreatives Weiterdenken verstanden, natürlich im Rahmen der damaligen Zeit mit ihren Vorstellungen von virtuosem Klaviersatz. Das Werk hat eine gewaltige Stretta, die von Bach wahrscheinlich nie so gedacht wurde.


    Kann man dieses Werk als Auseinandersetzung mit Bach heute noch ernst nehmen und wenn ja in welcher Hinsicht? Ich hatte das Werk eine zeitlang mal so verinnerlicht, dass ich bei der Fuga a tre soggetti beim Hören Probleme bekam ... :(. Irgendwie scheint meine Frage blöde zu sein. Ich höre dieses Werk durchaus sehr gerne, auch, wenn es mich nicht wenig anstrengt. Ich nehme also das Werk sehr ernst. Während nun die Kunst der Fuge für mich eine eher meditative Kraft beim Hören entfaltet, bemerke ich hier eine vielleicht etwas "unbachsche" Anstrengung, eine Art übermusikalisches Ziel, das sich im Fortschreiten der Musik entfaltet. Ich weiß nicht, ob das einen verstehbaren Sinn ergibt, aber irgendwie beschäftigt mich das immer beim Hören des Werkes.



    Beim Original empfinde ich den abrupten Abbruch der Fuge immer noch als etwas Schwieriges bei der Rezeption. Deswegen kann ich die Versuche zu komplettieren gut verstehen.

  • Es gibt ja einen sehr berühmten Versuch, diese Fuge zu "komplettieren". Meines Wissens (und Hörens) schreibt Busoni eine Quadrupelfuge mit dem gegebenen Material. Das Werk ist natürlich sehr frei, wenn man von dem kurzen Beginn absieht. Es ist sicher auch nichts, was sich Bach vorgestellt haben könnte. Ich habe diese Fuge immer als kreatives Weiterdenken verstanden, natürlich im Rahmen der damaligen Zeit mit ihren Vorstellungen von virtuosem Klaviersatz. Das Werk hat eine gewaltige Stretta, die von Bach wahrscheinlich nie so gedacht wurde.


    Kann man dieses Werk als Auseinandersetzung mit Bach heute noch ernst nehmen und wenn ja in welcher Hinsicht? Ich hatte das Werk eine zeitlang mal so verinnerlicht, dass ich bei der Fuga a tre soggetti beim Hören Probleme bekam ... :( .

    Ich bin zwar nicht "man", aber ich kann so etwas sehr ernst nehmen. Mir ist diese Art kreativer Aneignung, frei gestalteter Neuschöpfung jedenfalls lieber als diese immer noch weit verbreitete Keuschheit, die Bachs Partituren wie eine Art Bibeltext behandelt, den man mit gewissermaßen gesenktem Kopf gläubig zu empfangen hat. Ich habe vor drei Jahren in Dortmund Igor Levit u.a. mit der Fantasia Contrappuntistica gehört und war extrem beeindruckt von Busonis gestalterischer Kraft, der Kühnheit der Konzeption und dem entschlossenen Erkunden neuer Räume. Ich käme nie auf die Idee, für respektlos zu halten, dass Busoni hier Bach nicht demütig "interpretiert" sondern als Material für seine eigenen, ganz in die Zukunft gerichteten Ideen verwendet (ich kenne aber jemanden, der ganz sicher weiß, dass man so etwas nicht tun darf :)). Aus demselben Grund finde ich auch Busonis opulente Klavierbearbeitung der Ciaconna viel besser als die norddeutsch-strenge von Brahms, der aus lauter Ehrfurcht nicht einmal beide Hände einsetzen wollte. Busoni reißt hingegen das Werk gewissermaßen auf und zeigt dadurch erst recht, was in ihm steckt. Als vor zehn Jahren hier in Detmold das Bach-Fest der Neuen Bachgesellschaft e.V. stattfand, hatte ich freie Hand, eines der Konzerte inhaltlich zu gestalten und habe mich für ein Programm mit Bearbeitungen, Arrangements, Ergänzungen und Uminstrumentierungen Bachscher Werke aus dem 19. und frühen 20.Jahrhundert entschieden, der Titel hieß "Verehrung oder Verirrung?" Vielleicht war da zugegebenermaßen auch ein bisschen Provokation im Spiel (die Kollegen vom Freiburger Barockorchester sind wahrscheinlich fast vom Stuhl gefallen), aber mich interessieren solche Sachen sehr, und ich finde, dass es überhaupt keinen Grund zu der hochmütigen Annahme gibt, im Gegensatz zu den Musikern jener Zeit hätten "wir es doch zuletzt so herrlich weit gebracht".

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich bin zwar nicht "man", aber ich kann so etwas sehr ernst nehmen. Mir ist diese Art kreativer Aneignung, frei gestalteter Neuschöpfung jedenfalls lieber als diese immer noch weit verbreitete Keuschheit, die Bachs Partituren wie eine Art Bibeltext behandelt, den man mit gewissermaßen gesenktem Kopf gläubig zu empfangen hat. Ich habe vor drei Jahren in Dortmund Igor Levit u.a. mit der Fantasia Contrappuntistica gehört und war extrem beeindruckt von Busonis gestalterischer Kraft, der Kühnheit der Konzeption und dem entschlossenen Erkunden neuer Räume. Ich käme nie auf die Idee, für respektlos zu halten, dass Busoni hier Bach nicht demütig "interpretiert" sondern als Material für seine eigenen, ganz in die Zukunft gerichteten Ideen verwendet (ich kenne aber jemanden, der ganz sicher weiß, dass man so etwas nicht tun darf :)). Aus demselben Grund finde ich auch Busonis opulente Klavierbearbeitung der Ciaconna viel besser als die norddeutsch-strenge von Brahms, der aus lauter Ehrfurcht nicht einmal beide Hände einsetzen wollte. Busoni reißt hingegen das Werk gewissermaßen auf und zeigt dadurch erst recht, was in ihm steckt. Als vor zehn Jahren hier in Detmold das Bach-Fest der Neuen Bachgesellschaft e.V. stattfand, hatte ich freie Hand, eines der Konzerte inhaltlich zu gestalten und habe mich für ein Programm mit Bearbeitungen, Arrangements, Ergänzungen und Uminstrumentierungen Bachscher Werke aus dem 19. und frühen 20.Jahrhundert entschieden, der Titel hieß "Verehrung oder Verirrung?" Vielleicht war da zugegebenermaßen auch ein bisschen Provokation im Spiel (die Kollegen vom Freiburger Barockorchester sind wahrscheinlich fast vom Stuhl gefallen), aber mich interessieren solche Sachen sehr, und ich finde, dass es überhaupt keinen Grund zu der hochmütigen Annahme gibt, im Gegensatz zu den Musikern jener Zeit hätten "wir es doch zuletzt so herrlich weit gebracht".

    Danke für den Beitrag. Es entspricht auch meiner Vorstellung von Musik, dass diese Form der Verarbeitung nichts mit Missachtung zu tun hat, was ja ein regelmäßiger Vorwurf bei solchen Bearbeitungen zu sein scheint.

  • Das ist ja interessant und mir völlig neu! Vielen Dank für den Hinweis.


    In der LP-Ausgabe der Kunst der Fuge von Zoltan Kocsis gab es einst einen sehr differenzierten Aufsatz (viel mehr als ein üblicher Booklet-Text) auf Höhe der (damaligen) Forschung und da wurde die Zugehörigkeit meiner Erinnerung nach nicht in Frage gestellt. Leider habe ich alle LPs verkauft und die Aufnahme nur noch als Download. Das überaus anspruchsvolle Booklet (so zumindest meine Erinnerung) habe ich blöderweise nicht photografiert.


    Du schreibst, dass das 1 Thema - von den jeweiligen Interpreten? - eingefügt wird. Macht das jeder wie er will oder gibt es dafür inzwischen eine Ausgabe oder Aufführungstradition?


    Deine Argumente sind sehr fundiert, dagegen spricht meines Erachtens nur, dass das verwendete musikalische Material dem harmonischen und melodischen Kosmos der KUNST DER FUGE entstammt.


    Viele Grüße

    Christian


    PS: Sehe dazu erst jetzt, dass dazu ChKöhn schon ausführlich geantwortet hat. Das hat sich überschnitten. Bin überrascht, dass "die Fuga a tre soggetti ... keine Spur des Hauptthemas der Kunst der Fuge" enthalten soll - ich erkenne in der Schlussfuge durchaus Themen und Motive aus dem vorausgehenden Werk wieder!?

  • Bin überrascht, dass "die Fuga a tre soggetti ... keine Spur des Hauptthemas der Kunst der Fuge" enthalten soll - ich erkenne in der Schlussfuge durchaus Themen und Motive aus dem vorausgehenden Werk wieder!?

    Wie gesagt haben Spitta und Nottebohm das behauptet, und es wurde lange Zeit einfach übernommen. Wahr ist: Das Haupttehma der Kunst der Fuge kommt in der Fuga a tre soggetti nicht vor. Allerdings ist deren Hauptthema doch enger mit dem der "Kunst" verwandt, als Spitta und Nottebohm bemerkt haben: Beide Themen beginnen mit dem charakteristischen Quintsprung, gefolgt von einer Abwärts-Terz, bei der "Fuga" mit Durchgangsnote. Beide Themen enden auch wieder auf dem Grundton. Die Umkehrungsform des Themas der "Fuga" enthält die melodische Floskel d-e-f-e-d, die eng mit der Schlussfloskel des Themas der Kunst der Fuge verwandt ist. Das alles sind Ähnlichkeiten, die beim Hören der Fuga den Eindruck erwecken können, eine variierte Form des Hauptthemas der Kunst der Fuge wahrzunehmen. Allerdings fehlt deren charakteristischer Leitton "cis" in der Themenmitte. Es ist also anhand des thematischen Materials nicht zweifelsfrei festzustellen, ob die "Fuga a tre soggetti" zur Kunst der Fuge gehört oder nicht. Sehr wahrscheinlich ist nur, dass deren Hauptthema nicht als viertes Thema geplant war.


    In der LP-Ausgabe der Kunst der Fuge von Zoltan Kocsis gab es einst einen sehr differenzierten Aufsatz (viel mehr als ein üblicher Booklet-Text) auf Höhe der (damaligen) Forschung und da wurde die Zugehörigkeit meiner Erinnerung nach nicht in Frage gestellt.

    Ich meine mich zu erinnern, dass in meinem Elternhaus eine LP-Einspielung von Gustav Leonhardt war, der genau die gegenteilige These vertreten hat, dass also die Fuga nicht dazugehöre, bin mir aber nicht mehr sicher.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich meine mich zu erinnern, dass in meinem Elternhaus eine LP-Einspielung von Gustav Leonhardt war, der genau die gegenteilige These vertreten hat, dass also die Fuga nicht dazugehöre, bin mir aber nicht mehr sicher.

    Die Leonhardt-Einspielung gab es auch auf CD:

    Deutsche Harmonia Mundi (GD77013)

    CP 14, oder richtiger "Fuga a 3 soggetti" wird nicht gespielt. Zitat aus dem von Leonhardt verfassten booklet:

    "Wenn Bach die 19. Fuge (im Druck wird sie Fuga a 3 soggetti, nicht Contrapunctus genannt) nicht vollenden konnte, - auch die Notierung auf zwei Systemen deutet auf einen ersten Entwurf,- so heißt das, daß er unmittelbar vor und bis zu seiner Erblindung damit beschäftigt war. Fügen wir dieser Erwägung hinzu, daß das KdF-Thema nicht in dem Stück vorkommt (alle 3 im Titel genannten Soggetti sind neuerfundene Themen. Die im 19. Jahrhundert entdeckte Tatsache, daß das KdF-Hauptthema zu den drei anderen Themen paßt, kann ohne weiteres Zufall sein), und daß sich die Form einer etwaigen Quadrupelfuge nach den vorausgegangenen drei Expositionen (jede um 38 Takte kürzer als die vorige) und nach dem Stretto der drei Themen überhaupt nicht vorstellen läßt,- Tovey, Martin und anderen zum Trotz,- so wird man zumindest zweifeln müssen an der Zugehörigkeit dieser 19. Fuge zu der KdF."

    Dem ist nicht viel hinzuzufügen.