Beim Durchforsten meiner alten Konzertberichte bin ich auf das Pollini-Konzert in der Kölner Philharmonie am 11.3.2009 gestoßen. Es war ein Konzertabend, der Stockhausen gewidmet war, der zwei Jahre zuvor verstarb. Die erste Hälfte des Konzertes gehörte ganz Stockhausen - Pollini teilte sich die Aufführung mit dem Wiener Klangforum, das von Peter Eötvös geleitet wurde, der fast zeitgleich mit Pollini kürzlich verstarb und an den ich damit zugleich auch erinnern möchte. Kurz zuvor gab es diese schreckliche Katastrophe in Köln, dem berühmt berüchtigten "Kölschen Klüngel" geschuldet, dass das bedeutende Kölner Stadtarchiv in Schutt und Asche versunken war (absurd, was der 2. Weltkrieg nicht vermocht hatte!) wegen Pfusch beim U-Bahn-Bau. Deswegen musste man als Konzertbesucher einige Umwege auf sich nehmen.
Pollini mit Stockhausen. Schönberg und Schumann in Köln am 11.3.2009
Programm:
Karlheinz Stockhausen: Klavierstücke VII (1954-55), VIII (1954), IX (1954/ 1961); Kreuzspiel (1951) für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger; Zeitmaße (1955-1956) für fünf Holzbläser; Kontra-Punkte (1952-1953) für zehn Instrumente.
Nach der Pause:
Arnold Schönberg: Drei Klavierstücke op. 11 (1909); Robert Schumann: Fantasie op. 17 (1836/1838).
Zugaben von Maurizio Pollini: Zweimal Chopin: Nocturne op. 27 Nr. 2 sowie die Revolutionsetüde (op. 10 Nr. 12).
Wieder einmal wurde mein Weg in Richtung Köln eine denkwürdige Konzertreise. Ich erinnere mich an eine meiner Fahrten nach Kürten damals zu Stockhausens Ferienkursen. Im Bus kam die Nachricht über das Radio, dass Lady D. in der Nacht in Paris tödlich verunglückt sei. Nun fahre ich erneut zu einem Konzertereignis mit Musik von Stockhausen und erfahre unterwegs vom tragischen Amoklauf eines verirrten 17jährigen! Das muss man erst einmal aus dem Kopf bekommen!
Den Weg zur Philharmonie hat man sich z. Zt. durch eine große Baustelle zu bahnen – die Polizei riegelt die Umwege ab und weist einen freundlich aber bestimmt auf den vorgeschriebenen Weg. Nachdem das historische Stadtarchiv in sich zusammengefallen ist, geht man wohl auf „Nummer sicher“ in der Domstadt! In den riesigen Weiten der Philharmonie, die bei solchen Konzerten eigentlich nie gefüllt sind, ist es Sitte, dass man sich den besten Platz aussucht. Entsprechend hatte ich mir auf Empfehlung die billigste Konzertkarte gekauft. Um einen wirklich guten Platz zu ergattern, sollte man allerdings rechtzeitig im Saal sein. So war ich schon vor 19 Uhr im Foyer, wo eine Einführung stattfand. Die war allerdings nun wirklich schlecht! Der Referent (Björn Woll) verzettelte sich in überflüssige biographische Banalitäten und stellte Behauptungen auf, die auch noch zum Teil unrichtig waren. Dazu kamen solche Stilblüten wie: Die Fantasie op. 17 sei Schumanns gelungenstes Klavierwerk! Gelungener als die Kreisleriana oder die Symphonischen Etüden? Angeblich sei Schumann weniger virtuos als Chopin – gesagt ausgerechnet mit Blick auf die Fantasie op. 17 mit der berüchtigten Sprungstelle Ende des 2. Satzes, wo selbst solche Klaviertitanen wie Horowitz und Richter kräftig daneben langten! Schönberg habe seine Zwölftontechnik erfunden, um das musikalische Hören zu revolutionieren. Das mag man gemeinhin so glauben, ist aber nachweislich ein Irrtum. Schönberg war von Grund auf ein erzkonservativer Musiker, der so komponieren wollte wie Beethoven und Brahms. Leider hatten ihm dafür aber Wagner, C. Franck und Co. durch die chromatische Unterwanderung der Tonalität das musikalische Handwerkszeug aus der Hand geschlagen, so dass er sich eine neue Syntax erfinden musste. Zu Stockhausens Stücken hatte der Referent schlicht gar nichts zu sagen. Wer in Köln lebt, sollte zudem wissen, dass die Ferienkurse in Kürten auch nach Stockhausens Tod im Dezember 2007 weitergeführt werden!
Im Saal angekommen suchten wir uns – mein Begleiter war ein befreundeter Musikwissenschaftler und Organist – einen schönen Platz in der Mitte aus. Das Ehepaar, das eigentlich Karten für die Sitze besaß, rückte zwei Plätze weiter und überließ uns „Klavierexperten“ die gute Sicht auf die Tastatur. Es gibt noch nette Menschen auf dieser Welt! Auf dem Podium standen drei (!) Flügel, links mit Schlagzeug und Notenpulten, rechts nur mit Notenpulten. In der Mitte dann ein Instrument mit weithin sichtbarer, goldglänzend kursiver Aufschrift „Pollini“ – darüber blass zu erkennen die Lilie von Steinway und der Schriftzug „Steinway & Sons“. Meister Pollini hatte also seinen eigenen Flügel mitgebracht. Von meinem Freund und ehemaligen Klavierlehrer F.-J., der in Wien regelmäßig konzertiert, weiß ich, dass sich im Wiener Konzertvereinssaal jedes Mal dieselbe Zeremonie wiederholt: Pollini bestellt 4 (!) Flügel zum Probe-Anspielen, bringt aber außerdem mit dem LKW zwei eigene mit. Und mit schöner Regelmäßigkeit geht die Probe so aus: Die vier Instrumente stellen ihn nicht zufrieden und er wählt eines seiner Instrumente vom LKW!
Direkt unter uns befand sich das Aufnahme-Mischpult. Das berührt einen doch seltsam, dass nun nicht wie zu seinen Lebzeiten immer in Köln Stockhausen selbst am Mischpult stand! Sein anwesender Geist schaffte aber doch irgendwie eine andere Atmosphäre als bei einem gewöhnlichen Konzert! Pollini stieg rüstig die Treppen aufs Podium hinunter mit einer Begleitperson fürs Notenblättern. 1989 bei den Salzburger Festspielen spielte er – zwischen Brahms am Anfang und Beethovens Hammerklaviersonate zum Schluss – Stockhausens Klavierstücke VI und IX. Das habe ich damals im Rundfunk gehört und auf Cassette mitgeschnitten. Heute wählte er die Stücke VII, VIII und IX. 1989 spielte er glasklar, mit einer fast schon explosiven Energie und extremer Dynamikspanne. Und heute? Das ist doch sehr altersgelassen! Pollini geht die Stücke sehr ruhig-meditativ an mit dem Versuch, eine gewisse impressionistische Sinnlichkeit zu entfalten. Für meinen Geschmack passt das nicht wirklich zum puritanisch „abstrakten“ Stockhausen der 1950iger Jahre. Das berühmte Klavierstück IX nahm er doch sehr, sehr langsam. Das „unendliche“ Diminuendo zu Beginn – die Musik soll quasi im Nichts verlöschen (Partituranweisung: ff f – poco a poco diminuendo - - - - pppp mit Spielanweisung: „Akkord 129 Mal in regelmäßigen Abständen ohne Rücksicht auf nicht ansprechende Tasten“) gelang Pollini 1989 in Salzburg vorzüglich, in Köln aber für meinen Geschmack weitaus weniger gut: Statt eines wirklich kontinuierlichen Diminuendo in kleinsten Schritten blieb es bei einer doch etwas statisch wirkenden Tonwiederholung im Piano-Bereich! Nein, nein! Dieser „abstrakte“ Stockhausen will nicht so recht passen in Pollinis derzeitige Lebensphase: sein heute – zweifellos sehr sympathisch – unprätentiöses Spiel, das alle Extreme – eben auch den Purismus – meidet und Musik vor allem sinnlich-erlebbar präsentieren will. Pollinis für das Umblättern der Noten zuständiger Schatten hatte wohl Schwierigkeiten, dem Notentext Stockhausens zu folgen und trat mehrmals zu früh in Aktion, was Pollini mit einem heftigen Gestikulieren quittierte.
Nach Pollinis Auftritt gehörte das Podium dem Wiener Klangforum unter der Leitung von Peter Eötvös. Ein wirklich vorzügliches Ensemble! Stockhausens Stücke beeindrucken durch ihre unglaubliche Klarheit – Stockhausen war ein Meister der Beherrschung des Tonsatzes. Das ist „abstrakte Musik“ (den Ausdruck verwendete Anton Webern in Bezug auf Bach!) in Vollendung. Ich erinnere mich an Kürten, wo neben der späteren „intuitiven“ Musik vereinzelt auch diese strenge serielle Musik aus Stockhausens früher serieller Phase aufgeführt wurde. Ein solches Stück reichte da allerdings – man war beeindruckt, aber auch relativ schnell gesättigt. Mein einziger Einwand dieses ansonsten wunderbaren Konzertabends betrifft deshalb die Programmgestaltung: Statt dreier Werke aus derselben Phase Stockhausens hätte für meinen Geschmack mindestens eines aus späterer Zeit dabei sein können, was außerdem einen Eindruck von der unglaublichen Vielfalt des kompositorischen Schaffens Stockhausens hätte vermitteln können. Er ist eben weit mehr als nur der „strenge Serialist“!
Die erste Hälfte des Konzertes zog sich hin bis 21.30 Uhr – es wurde ein langer Konzertabend! Nach der Pause war das Podium umgebaut. Der Steinway mit der goldenen Aufschrift Pollini stand nun allein im Zentrum der Bühne. Bemerkenswert war der Einfluss der Akustik: Ich fand, dass bei vollgestelltem Podium der Ton des Flügels deutlich voller und runder klang – der Diskant war vor der Pause tragfähiger. Jetzt wirkte er ein bisschen dünn, verlor sich ein wenig in diesem riesengroßen Saal. Pollinis Sternstunde begann eindeutig nach der Pause. Der Schönberg war einfach phantastisch! Wie er da die expressionistischen Züge und spätromantischen Nachklänge dieser ersten frei atonal komponierten Stücke vorzutragen wusste, das war wahrlich beeindruckend! Und die Fortsetzung mit der Schumann-Fantasie passte dazu. Pollini trifft die innere Bewegtheit und quälende Unruhe von Schumanns Musik, setzt mit untrüglichem Instinkt für organische Zusammenhänge die dynamisch-dramatischen Höhepunkte. Man wird hier wirklich glücklich an Rubinstein und dessen immer organisch-natürliches Spiel erinnert! (Pollini hatte sich mit dem alten Rubinstein angefreundet; er war sein zweites großes Vorbild neben Benedetti Michelangeli.) Die fürchterlich heikle Sprungstelle Ende des 2. Satzes meisterte er souverän, ohne das Tempo zu bremsen, lediglich ein Ton blieb ein wenig hängen. Das wunderschöne Finale wurde ausgesungen, fließend und dynamisch bewegt.
Pollinis Spiel heute ist ungemein farbig und kontinuierlich fließend, nicht übermäßig nuanciert und differenziert, aber mit sinnlicher Ausstrahlung. Kräftig ist es durchaus, aber eben nicht mehr so extrovertiert kraftstrotzend wie früher. Unvergessen bleibt mir immer noch sein Konzert Mitte der 70iger im inzwischen abgerissenen Düsseldorfer Schumann-Saal mit Werken von Beethoven (ich erinnere mich an Les Adieux, die Appassionata (?) und definitiv die Pastorale, sowie die Kreisleriana von Schumann). Pollinis ungeheure Dynamik überschritt da die Schmerzschwelle – wir saßen damals auf dem Podium. Vielleicht muss Pollini was seine Physis angeht mit den Jahren seinem Laster Tribut zollen: Er ist nämlich Kettenraucher! Die unbändige Kraft und Energie, die der damals mehr als 10 Jahre ältere Rubinstein bei seinem denkwürdigen Konzert in Moskau 1964 zeigte, die kann der 67jährige Pollini heute jedenfalls schon nicht mehr aufbringen.
Das Nocturne op. 27 Nr. 2 – die erste Zugabe – war schlicht zauberhaft! Pollinis Interpretation von Chopins Nocturnes finde ich eine Offenbarung. Das Nocturne Chopins wird nicht auf ein impressionistisches Postkarten-Abziehbildchen reduziert wie etwa bei Lang Lang, verliert jede biedermeierliche (Welt-)Verlorenheit in den schönen Augenblick, bekommt endlich seine über den Moment hinausdrängende pulsierende Bewegung – seine innere Dramaturgie – gleichsam zurück erstattet. Zugleich behält es seinen unbeschreiblichen Zauber, seine betörende Sinnlichkeit in einem klangfarblichen Kontinuum, in das Pollini das musikalische Geschehen einzubetten vermag. Die wiederum sehr organisch-souverän vorgetragene Revolutionsetüde bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Mehr war Pollini trotz drängendem Beifall wirklich nicht abzuverlangen – die Uhr war inzwischen auf halb 11 davon gelaufen und der arme Meister musste sich immer wieder – das Konzert hatte ihm offenbar viel Kraft gekostet – die vielen Stufen vom Podium zum Künstlerzimmer sichtlich herauf- und herunterquälen!
Zu hören war ein Konzertabend mit extremen musikalischen Gegensätzen, die sich allerdings sehr gut vertragen haben! Das bestätigt schließlich meine These, dass es im Prinzip falsch ist, Neue Musik in esoterische Zirkel spezieller Veranstaltungen nur mit ihr gleichsam einzusperren. Pollini zeigt, dass es auch anders geht: sie nämlich mit den Klassikern zu konfrontieren und damit spannende Bezüge zwischen Altem und Neuem für den Hörer herzustellen.