Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne

  • Beim Durchforsten meiner alten Konzertberichte bin ich auf das Pollini-Konzert in der Kölner Philharmonie am 11.3.2009 gestoßen. Es war ein Konzertabend, der Stockhausen gewidmet war, der zwei Jahre zuvor verstarb. Die erste Hälfte des Konzertes gehörte ganz Stockhausen - Pollini teilte sich die Aufführung mit dem Wiener Klangforum, das von Peter Eötvös geleitet wurde, der fast zeitgleich mit Pollini kürzlich verstarb und an den ich damit zugleich auch erinnern möchte. Kurz zuvor gab es diese schreckliche Katastrophe in Köln, dem berühmt berüchtigten "Kölschen Klüngel" geschuldet, dass das bedeutende Kölner Stadtarchiv in Schutt und Asche versunken war (absurd, was der 2. Weltkrieg nicht vermocht hatte!) wegen Pfusch beim U-Bahn-Bau. Deswegen musste man als Konzertbesucher einige Umwege auf sich nehmen.


    Pollini mit Stockhausen. Schönberg und Schumann in Köln am 11.3.2009

    Programm:


    Karlheinz Stockhausen: Klavierstücke VII (1954-55), VIII (1954), IX (1954/ 1961); Kreuzspiel (1951) für Oboe, Bassklarinette, Klavier und drei Schlagzeuger; Zeitmaße (1955-1956) für fünf Holzbläser; Kontra-Punkte (1952-1953) für zehn Instrumente.


    Nach der Pause:


    Arnold Schönberg: Drei Klavierstücke op. 11 (1909); Robert Schumann: Fantasie op. 17 (1836/1838).

    Zugaben von Maurizio Pollini: Zweimal Chopin: Nocturne op. 27 Nr. 2 sowie die Revolutionsetüde (op. 10 Nr. 12).


    Wieder einmal wurde mein Weg in Richtung Köln eine denkwürdige Konzertreise. Ich erinnere mich an eine meiner Fahrten nach Kürten damals zu Stockhausens Ferienkursen. Im Bus kam die Nachricht über das Radio, dass Lady D. in der Nacht in Paris tödlich verunglückt sei. Nun fahre ich erneut zu einem Konzertereignis mit Musik von Stockhausen und erfahre unterwegs vom tragischen Amoklauf eines verirrten 17jährigen! Das muss man erst einmal aus dem Kopf bekommen!


    Den Weg zur Philharmonie hat man sich z. Zt. durch eine große Baustelle zu bahnen – die Polizei riegelt die Umwege ab und weist einen freundlich aber bestimmt auf den vorgeschriebenen Weg. Nachdem das historische Stadtarchiv in sich zusammengefallen ist, geht man wohl auf „Nummer sicher“ in der Domstadt! In den riesigen Weiten der Philharmonie, die bei solchen Konzerten eigentlich nie gefüllt sind, ist es Sitte, dass man sich den besten Platz aussucht. Entsprechend hatte ich mir auf Empfehlung die billigste Konzertkarte gekauft. Um einen wirklich guten Platz zu ergattern, sollte man allerdings rechtzeitig im Saal sein. So war ich schon vor 19 Uhr im Foyer, wo eine Einführung stattfand. Die war allerdings nun wirklich schlecht! Der Referent (Björn Woll) verzettelte sich in überflüssige biographische Banalitäten und stellte Behauptungen auf, die auch noch zum Teil unrichtig waren. Dazu kamen solche Stilblüten wie: Die Fantasie op. 17 sei Schumanns gelungenstes Klavierwerk! Gelungener als die Kreisleriana oder die Symphonischen Etüden? Angeblich sei Schumann weniger virtuos als Chopin – gesagt ausgerechnet mit Blick auf die Fantasie op. 17 mit der berüchtigten Sprungstelle Ende des 2. Satzes, wo selbst solche Klaviertitanen wie Horowitz und Richter kräftig daneben langten! Schönberg habe seine Zwölftontechnik erfunden, um das musikalische Hören zu revolutionieren. Das mag man gemeinhin so glauben, ist aber nachweislich ein Irrtum. Schönberg war von Grund auf ein erzkonservativer Musiker, der so komponieren wollte wie Beethoven und Brahms. Leider hatten ihm dafür aber Wagner, C. Franck und Co. durch die chromatische Unterwanderung der Tonalität das musikalische Handwerkszeug aus der Hand geschlagen, so dass er sich eine neue Syntax erfinden musste. Zu Stockhausens Stücken hatte der Referent schlicht gar nichts zu sagen. Wer in Köln lebt, sollte zudem wissen, dass die Ferienkurse in Kürten auch nach Stockhausens Tod im Dezember 2007 weitergeführt werden!


    Im Saal angekommen suchten wir uns – mein Begleiter war ein befreundeter Musikwissenschaftler und Organist – einen schönen Platz in der Mitte aus. Das Ehepaar, das eigentlich Karten für die Sitze besaß, rückte zwei Plätze weiter und überließ uns „Klavierexperten“ die gute Sicht auf die Tastatur. Es gibt noch nette Menschen auf dieser Welt! Auf dem Podium standen drei (!) Flügel, links mit Schlagzeug und Notenpulten, rechts nur mit Notenpulten. In der Mitte dann ein Instrument mit weithin sichtbarer, goldglänzend kursiver Aufschrift „Pollini“ – darüber blass zu erkennen die Lilie von Steinway und der Schriftzug „Steinway & Sons“. Meister Pollini hatte also seinen eigenen Flügel mitgebracht. Von meinem Freund und ehemaligen Klavierlehrer F.-J., der in Wien regelmäßig konzertiert, weiß ich, dass sich im Wiener Konzertvereinssaal jedes Mal dieselbe Zeremonie wiederholt: Pollini bestellt 4 (!) Flügel zum Probe-Anspielen, bringt aber außerdem mit dem LKW zwei eigene mit. Und mit schöner Regelmäßigkeit geht die Probe so aus: Die vier Instrumente stellen ihn nicht zufrieden und er wählt eines seiner Instrumente vom LKW!


    Direkt unter uns befand sich das Aufnahme-Mischpult. Das berührt einen doch seltsam, dass nun nicht wie zu seinen Lebzeiten immer in Köln Stockhausen selbst am Mischpult stand! Sein anwesender Geist schaffte aber doch irgendwie eine andere Atmosphäre als bei einem gewöhnlichen Konzert! Pollini stieg rüstig die Treppen aufs Podium hinunter mit einer Begleitperson fürs Notenblättern. 1989 bei den Salzburger Festspielen spielte er – zwischen Brahms am Anfang und Beethovens Hammerklaviersonate zum Schluss – Stockhausens Klavierstücke VI und IX. Das habe ich damals im Rundfunk gehört und auf Cassette mitgeschnitten. Heute wählte er die Stücke VII, VIII und IX. 1989 spielte er glasklar, mit einer fast schon explosiven Energie und extremer Dynamikspanne. Und heute? Das ist doch sehr altersgelassen! Pollini geht die Stücke sehr ruhig-meditativ an mit dem Versuch, eine gewisse impressionistische Sinnlichkeit zu entfalten. Für meinen Geschmack passt das nicht wirklich zum puritanisch „abstrakten“ Stockhausen der 1950iger Jahre. Das berühmte Klavierstück IX nahm er doch sehr, sehr langsam. Das „unendliche“ Diminuendo zu Beginn – die Musik soll quasi im Nichts verlöschen (Partituranweisung: ff f – poco a poco diminuendo - - - - pppp mit Spielanweisung: „Akkord 129 Mal in regelmäßigen Abständen ohne Rücksicht auf nicht ansprechende Tasten“) gelang Pollini 1989 in Salzburg vorzüglich, in Köln aber für meinen Geschmack weitaus weniger gut: Statt eines wirklich kontinuierlichen Diminuendo in kleinsten Schritten blieb es bei einer doch etwas statisch wirkenden Tonwiederholung im Piano-Bereich! Nein, nein! Dieser „abstrakte“ Stockhausen will nicht so recht passen in Pollinis derzeitige Lebensphase: sein heute – zweifellos sehr sympathisch – unprätentiöses Spiel, das alle Extreme – eben auch den Purismus – meidet und Musik vor allem sinnlich-erlebbar präsentieren will. Pollinis für das Umblättern der Noten zuständiger Schatten hatte wohl Schwierigkeiten, dem Notentext Stockhausens zu folgen und trat mehrmals zu früh in Aktion, was Pollini mit einem heftigen Gestikulieren quittierte.


    Nach Pollinis Auftritt gehörte das Podium dem Wiener Klangforum unter der Leitung von Peter Eötvös. Ein wirklich vorzügliches Ensemble! Stockhausens Stücke beeindrucken durch ihre unglaubliche Klarheit – Stockhausen war ein Meister der Beherrschung des Tonsatzes. Das ist „abstrakte Musik“ (den Ausdruck verwendete Anton Webern in Bezug auf Bach!) in Vollendung. Ich erinnere mich an Kürten, wo neben der späteren „intuitiven“ Musik vereinzelt auch diese strenge serielle Musik aus Stockhausens früher serieller Phase aufgeführt wurde. Ein solches Stück reichte da allerdings – man war beeindruckt, aber auch relativ schnell gesättigt. Mein einziger Einwand dieses ansonsten wunderbaren Konzertabends betrifft deshalb die Programmgestaltung: Statt dreier Werke aus derselben Phase Stockhausens hätte für meinen Geschmack mindestens eines aus späterer Zeit dabei sein können, was außerdem einen Eindruck von der unglaublichen Vielfalt des kompositorischen Schaffens Stockhausens hätte vermitteln können. Er ist eben weit mehr als nur der „strenge Serialist“!


    Die erste Hälfte des Konzertes zog sich hin bis 21.30 Uhr – es wurde ein langer Konzertabend! Nach der Pause war das Podium umgebaut. Der Steinway mit der goldenen Aufschrift Pollini stand nun allein im Zentrum der Bühne. Bemerkenswert war der Einfluss der Akustik: Ich fand, dass bei vollgestelltem Podium der Ton des Flügels deutlich voller und runder klang – der Diskant war vor der Pause tragfähiger. Jetzt wirkte er ein bisschen dünn, verlor sich ein wenig in diesem riesengroßen Saal. Pollinis Sternstunde begann eindeutig nach der Pause. Der Schönberg war einfach phantastisch! Wie er da die expressionistischen Züge und spätromantischen Nachklänge dieser ersten frei atonal komponierten Stücke vorzutragen wusste, das war wahrlich beeindruckend! Und die Fortsetzung mit der Schumann-Fantasie passte dazu. Pollini trifft die innere Bewegtheit und quälende Unruhe von Schumanns Musik, setzt mit untrüglichem Instinkt für organische Zusammenhänge die dynamisch-dramatischen Höhepunkte. Man wird hier wirklich glücklich an Rubinstein und dessen immer organisch-natürliches Spiel erinnert! (Pollini hatte sich mit dem alten Rubinstein angefreundet; er war sein zweites großes Vorbild neben Benedetti Michelangeli.) Die fürchterlich heikle Sprungstelle Ende des 2. Satzes meisterte er souverän, ohne das Tempo zu bremsen, lediglich ein Ton blieb ein wenig hängen. Das wunderschöne Finale wurde ausgesungen, fließend und dynamisch bewegt.


    Pollinis Spiel heute ist ungemein farbig und kontinuierlich fließend, nicht übermäßig nuanciert und differenziert, aber mit sinnlicher Ausstrahlung. Kräftig ist es durchaus, aber eben nicht mehr so extrovertiert kraftstrotzend wie früher. Unvergessen bleibt mir immer noch sein Konzert Mitte der 70iger im inzwischen abgerissenen Düsseldorfer Schumann-Saal mit Werken von Beethoven (ich erinnere mich an Les Adieux, die Appassionata (?) und definitiv die Pastorale, sowie die Kreisleriana von Schumann). Pollinis ungeheure Dynamik überschritt da die Schmerzschwelle – wir saßen damals auf dem Podium. Vielleicht muss Pollini was seine Physis angeht mit den Jahren seinem Laster Tribut zollen: Er ist nämlich Kettenraucher! Die unbändige Kraft und Energie, die der damals mehr als 10 Jahre ältere Rubinstein bei seinem denkwürdigen Konzert in Moskau 1964 zeigte, die kann der 67jährige Pollini heute jedenfalls schon nicht mehr aufbringen.


    Das Nocturne op. 27 Nr. 2 – die erste Zugabe – war schlicht zauberhaft! Pollinis Interpretation von Chopins Nocturnes finde ich eine Offenbarung. Das Nocturne Chopins wird nicht auf ein impressionistisches Postkarten-Abziehbildchen reduziert wie etwa bei Lang Lang, verliert jede biedermeierliche (Welt-)Verlorenheit in den schönen Augenblick, bekommt endlich seine über den Moment hinausdrängende pulsierende Bewegung – seine innere Dramaturgie – gleichsam zurück erstattet. Zugleich behält es seinen unbeschreiblichen Zauber, seine betörende Sinnlichkeit in einem klangfarblichen Kontinuum, in das Pollini das musikalische Geschehen einzubetten vermag. Die wiederum sehr organisch-souverän vorgetragene Revolutionsetüde bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Mehr war Pollini trotz drängendem Beifall wirklich nicht abzuverlangen – die Uhr war inzwischen auf halb 11 davon gelaufen und der arme Meister musste sich immer wieder – das Konzert hatte ihm offenbar viel Kraft gekostet – die vielen Stufen vom Podium zum Künstlerzimmer sichtlich herauf- und herunterquälen!

    Zu hören war ein Konzertabend mit extremen musikalischen Gegensätzen, die sich allerdings sehr gut vertragen haben! Das bestätigt schließlich meine These, dass es im Prinzip falsch ist, Neue Musik in esoterische Zirkel spezieller Veranstaltungen nur mit ihr gleichsam einzusperren. Pollini zeigt, dass es auch anders geht: sie nämlich mit den Klassikern zu konfrontieren und damit spannende Bezüge zwischen Altem und Neuem für den Hörer herzustellen.

  • Verstehen ist natürlich immer auch eine Frage der Erwartung. Wenn ich so einen Text lese (ähnlich Formuliertes wie das von Brachmann kann man ja auch nun öfters lesen, insofern hat mich das nicht besonders überrascht), erwarte ich auch keine "Präzision". Wichtiger bei solchen Texten ist für mich, ob sie zum Denken anregen. Das finde ich in diesem Fall wichtiger, als was sie tatsächlich sagen, wo man dann auch anderer Meinung oder geteilter Meinung sein kann. Also eben die Frage zu stellen, wie sich der Sinn des Rubato-Spiels geändert hat durch Interpreten wie Pollini, die zur "modernen Schule" gehören.

    Das ist natürlich ein berechtigter Gesichtspunkt, Man würde darüber hinweglesen. Auf der anderen Seite scheint es mir aber auch berechtigt zu sein, den Artikel auf Substanz abzuklopfen ...



    Wirklich? Ich möchte mal die musikwissenschaftliche Analyse sehen, die anhand der ausgiebigen Dehnungen und Stauchungen der Zeit, die in Rachmaninows Interpretation des Kopfsatzes von Chopins Trauermarschsonate passieren, es wirklich schafft, diese im Einzelnen alle wirklich eindeutig (!) im Sinne des "Entweder-Oder" einer "Temposchwankung" oder einem "Rubato" zuzuordnen. :D Das, so glaube ich, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

    Das kann ich ehrlich gesagt nicht beurteilen. Aber, selbst wenn es vielleicht Grenzbereiche gäbe, wo die Unterscheidung schwer fiele, würde ja nicht gleich folgen, dass man beide Begriffe ohne Erklärung gleichsetzen könne.

    Und ich finde, dass man auch berücksichtigen sollte, wer einen solchen Text eigentlich lesen soll. Wie eindeutig man schreibt und schreiben kann, ist letztlich vom Adressaten abhängig, an den man sich als Autor mit einem Text, den man schreibt, tatsächlich richtet.

    Das ist richtig, wenn es darum ginge, den Text von Brachmann in seinen möglichen Rezeptionskontext einzuordnen. Ich finde es aber immer noch berechtigt, die Frage zu stellen, ob Brachmann hier nicht einfach Begriffe klittert und damit für eine tiefergehende Diskussionebene keinen Beitrag liefert.


    Unser Mitglied Accuphan drückte das auf unnachahmliche Weise so aus


    Nachtrag zu Brachmann: ich habe den Nachruf gelesen und finde den prima. Von vorne bis hinten.

    Ich schätze Brachmann als Rezensenten.

    Ich bei bei ChKöhn und halte Brachmanns Formulierung für Kappes, kalten Kaffee, also Quatsch.


    Obwohl der Artikel in seiner Funktion als Nachruf vielleicht sinnvoll und effektiv sein könnte, heißt das nicht, dass man an Stellen, wo Kritikbedarf ist, nicht kritisieren dürfe.


    Ganz allgemein finde ich, dass wir alle mehr oder weniger, durch die Bank, von Empfindlichkeiten abgesehen, dasselbe denken. Es ist umso erstaunlicher, welche Debatte daraus erwachsen kann.... :)


    Selbstverständlich sind die Diskussionen über das Rubato, was mich angeht, bereichernd.

  • Selbstverständlich sind die Diskussionen über das Rubato, was mich angeht, bereichernd.

    Und da sind wir auch schon beim Thema. Wir haben eine Einspielung von Chopins dritten Impromptu einmal von Rubinstein und einmal von Pollini. Es scheint so zu sein, dass wir alle denken, dass die Einspielung Pollini "verblüffend" modern ist. Trotz allem verwendet er gerade am gelungenen Anfang mehr Rubato als Rubinstein.


    Es bleibt die Frage, was das eigentliche "Geheimnis" von Pollinis Spiel ist.

  • Es bleibt die Frage, was das eigentliche "Geheimnis" von Pollinis Spiel ist.

    Und so sehen wir betroffen, den Flügel zu und alle Fragen offen. - Sein Geheimnis nimmt Pollini mit ins Grab...

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Auf Grund der regen Diskussion zum Thema "Temposchwankungen oder Rubato" wird in der Tontechnik nunmehr die revolutionäre "Hawk-Ear" Technik verwendet.


    Wer sich damit noch nicht beschäftigt hat, ergänze sein Wissen mit dem Stichwort "Hawk-Eye".

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  • Und da sind wir auch schon beim Thema. Wir haben eine Einspielung von Chopins dritten Impromptu einmal von Rubinstein und einmal von Pollini. Es scheint so zu sein, dass wir alle denken, dass die Einspielung Pollini "verblüffend" modern ist. Trotz allem verwendet er gerade am gelungenen Anfang mehr Rubato als Rubinstein.


    Es bleibt die Frage, was das eigentliche "Geheimnis" von Pollinis Spiel ist.

    Das Adjektiv "modern" würde ich persönlich vermeiden, weil es mir zu wenig konkret ist. Was ich deutlich hörbar finde: Rubinstein spielt dieses Impromptu mit mehr Pedal und stellenweise mehr oberstimmenbetont. Sowohl die Linke als auch die Unterstimme der Rechten bei den Doppelgriffpassagen laufen bei ihm mehr oder weniger einfach mit, während Pollini sie von vornherein auch als Bass- bzw. Begleitfiguren für sich gestaltet. Sein (Pollinis) Pedal ist dabei sehr sparsam (anders als oft bei seinem späteren Klavierspiel), die Stimmführung extrem transparent. Wenn z.B. in Takt 7 sich zum ersten Mal eine Unterstimme zur Melodie in der Rechten gesellt und auch die Linke zweistimmig wird, zeigt er ganz dezent aber deutlich das Auseinandergehen der beiden Stimmen, die aufsteigenden Dreiton-Motive links usw.. Rubinstein spielt über all das zwar nicht einfach hinweg, spielt es aber wie nebenbei und bleibt ganz auf die Oberstimme fokussiert. Ähnlich ist es in der Sequenz ab T. 19: Rubinstein spielt mit mehr Pedal, Pollini transparenter und mit einer Spur mehr Bedeutung für die Figuren der Linken (vor allem in T. 20 und 22). Ganz deutlich ist der Unterschied im "Sostenuto"-Teil, wo Rubinstein beim zweiten Mal (also im fünften Takt dieses Abschnitts) zwar insgesamt etwas steigert, aber fast ausschließlich im Thema links, während Pollini gerade die ausdrucksvoll gesteigerten Begleitfiguren rechts hervorhebt. Das macht diese gesteigerte Variante bei ihm deutlich stimmiger, interessanter und ausdrucksvoller als bei Rubinstein, dessen Spiel bei diesem Stück insgesamt bei aller Feinheit eine gewisse Glätte hat. Das spiegelt sich auch in der größeren Dynamik-Skala: Pollini geht mehr und häufiger aus der leisen Grunddynamik raus und spielt auch die notierten dynamischen Höhepunkte stärker aus. Insgesamt klingt das Stück bei Pollini durch die extreme Transparenz und die Gestaltung auch der scheinbaren "Nebenstimmen" wie ein mehrstimmiges Kammermusikstück. Rubinstein spielt diese Nebenstimmen zwar nicht völlig nebensächlich, nimmt sie aber fast immer ganz in den Hintergrund und wählt insgesamt durch sein Pedalspiel einen weicheren, eingetteten Klang. Wenn das z.B. ein Streichtrio (bzw. in manchen Passagen ein Quartett) wäre, dann eines, bei der in alter Art alles dem Primarius untergeordnet ist. Bleibt man bei diesem Bild, könnte man also doch wieder von einer "moderneren" Spielweise bei Pollini reden. Und zum Schluss: Mit dem Rubato hat das alles so gut wie gar nichts zu tun; da sind abgesehen von der Einleitung (siehe oben) beide erstaunlich nah beieinander.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • ... Wenn das z.B. ein Streichtrio (bzw. in manchen Passagen ein Quartett) wäre, dann eines, bei der in alter Art alles dem Primarius untergeordnet ist. Bleibt man bei diesem Bild, könnte man also doch wieder von einer "moderneren" Spielweise bei Pollini reden. Und zum Schluss: Mit dem Rubato hat das alles so gut wie gar nichts zu tun; da sind abgesehen von der Einleitung (siehe oben) beide erstaunlich nah beieinander.

    Vielen Dank für die ausführliche Analyse.


    Ich empfinde die Gegenüberstellung der Melodie zum nur scheinbar konfigurativen Beiwerk als moderner, weil diese Form der Komplexität mich am Ende auch im Alltag umgibt.

  • Ich empfinde die Gegenüberstellung der Melodie zum nur scheinbar konfigurativen Beiwerk als moderner, weil diese Form der Komplexität mich am Ende auch im Alltag umgibt.

    Ja, das leuchtet mir ein. Mir persönlich klingt das Adjektiv "modern" im Zusammenhang mit Interpretationen trotzdem (vor allem im Komparativ) zu sehr nach Wertung. Rubinsteins Ruf als "der" Chopin-Spieler seiner Zeit war zweifellos berechtigt.
    Übrigens hatte ich bei meiner "Analyse" (ein etwas großes Wort für die paar Stichworte) noch einen Punkt vergessen: Pollini spielt auch einen stärkeren Tempo-Kontrast zwischen Hauptteil und Sostenuto-Teil, und er setzt vor dem Beginn des letzteren ganz kurz ab. Rubinstein spielt statt dessen einen weichen, verbindenden Übergang und geht im Tempo kaum zurück. Auch das trägt, neben der transparenteren Stimmführung und der größeren Dynamikpalette, zum plastischeren Gesamteindruck des Stückes bei Pollini bei.

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  • Von Rubinstein gibt es - ich habe im Begleitbuch der großen Rubinstein-Box mit den kompletten Aufnahmen geschaut - 3 Aufnahmen des Chopin Impromptu op. 51: 1946, 1953 und die letzte 1964. Man kann da sehr schön die Entwicklung erkennen, die es bei Rubinstein gibt.


    Impromptu No. 3, Op. 51 in G-Flat - YouTube


    Impromptu No. 3 in G-Flat Major, Op. 51 - YouTube


    Arthur Rubinstein - Chopin Impromptu No. 3 in G flat, Op. 51 (youtube.com)


    In den Aufnahmen 1946 und 1953 erfährt man noch etwas von der unglaublichen Lebendigkeit und "Lebenslust" von Rubinstein, gerade im Konzert - 1946 wirkt der Auftakt fast burschikos. Das ist ein sehr irdisches, völlig unsentimentales und "unverklärtes" Chopin-Spiel. Wirklich wunderbar ist die Aufnahme von 1953, da phrasiert er noch deutlicher und atmend-lebhafter, gerade auch den Auftakt. 1964 kommt Rubinsteins Altersstil und ein gewisser doch ein wenig abgeklärter "Reduktionismus" und eine ästhetische Sublimierung. Die Phrase zum Auftakt ist die am wenigsten "plastische" von allen drei Aufnahmen, wirkt ein bisschen nach Understatement, nach dem Motto: Konzentriert Euch Hörer nicht zu sehr auf diese durchlaufenden Noten und wartet, was danach Unerhörtes kommt! Was dann im Kontrast dazu an Feinheiten passiert, wirkt dann auch um so stärker. Was für ein unglaublicher Musiker er doch war! Ich bin und bleibe ein großer Rubinstein-Liebhaber!


    Rubinstein spielt über all das zwar nicht einfach hinweg, spielt es aber wie nebenbei und bleibt ganz auf die Oberstimme fokussiert. Ähnlich ist es in der Sequenz ab T. 19: Rubinstein spielt mit mehr Pedal, Pollini transparenter und mit einer Spur mehr Bedeutung für die Figuren der Linken (vor allem in T. 20 und 22).

    Ja, genau so höre ich das auch. Deswegen empfinde ich auch Claudio Arrau als "Gegenentwurf" zu Rubinstein bei den Nocturnes. Arrau weigert sich komplett, sich an den Kantilenen entlang zu hangeln und betont die Widerhaken und Gegenläufigkeiten der Stimmen. Beide Aufnahmen möchte ich nicht missen! Rubinstein wiederum unterschlägt nichts, spielt aber immer die melodische "Linie" (das kann er meisterhaft wie kein Anderer).

    Pollini spielt auch einen stärkeren Tempo-Kontrast zwischen Hauptteil und Sostenuto-Teil, und er setzt vor dem Beginn des letzteren ganz kurz ab. Rubinstein spielt statt dessen einen weichen, verbindenden Übergang und geht im Tempo kaum zurück. Auch das trägt, neben der transparenteren Stimmführung und der größeren Dynamikpalette, zum plastischeren Gesamteindruck des Stückes bei Pollini bei.

    Das ist in der Tat interessant. Pollini macht nämlich in seinen späten Jahren genau das auch, wenn man etwa die frühe Aufnahme der Preludes mit der späten vergleicht - er betont weniger "klassisch" die Gliederung und formale Einteilung sondern den Fluss, den durchgängigen Bewegungszug der Musik. Das wirkt weniger "analytisch", ist aber einfach eine andere Ästhetik. Schade, dass er das Impromptu op. 51 nicht zusammen mit den Nocturnes aufgenommen hat. Da wäre es spannend, Pollini mit Pollini zu vergleichen. Ernst Kurth sprach von "ineinanderspielenden Einteilungen", wenn die Gliederung in einen Bewegungszug eingebettet wird. Das trifft Rubinsteins Ansatz und den des späten Pollini sehr gut. Das ist einfach ein grundverschiedener ästhetischer Ansatz - geschlossene Form versus offene Form (darüber gibt es ein Kapitel in meinem Buch ;) ) Pollinis Spiel 1960 ist sehr "klassisch" formbetont und Struktur betont, was damals genau so "modern" war und als modern empfunden wurde. Das Geheimnis, warum Rubinstein die Melodie immer etwas betont ist letztlich, dass Chopin eben doch (noch) nicht Wagner oder Bruckner ist, wo die Nebenstimmen und nicht die Hauptstimme den Bewegungszug trägt (Kurth spricht da von "umgebender Formstrebung"). Wenn man bei Chopin dagegen die durchlaufende Bewegung betonen will, muss man sich an die Melodielinie halten. :)


    Schöne Ostergrüße

    Holger

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  • Hat jemand den Text über den Streit mit der Notenwenderin? Ich scheitere an der Bezahlschranke.

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Hat jemand den Text über den Streit mit der Notenwenderin? Ich scheitere an der Bezahlschranke.

    Vor ein paar Tagen war er noch zugänglich. Es ging im Wesentlichen darum, dass Pollini bei seinem Klavierabend in Zürich die Umblätterin während des Spiels lautstark kritisierte, was diese mit einem tapferen Lächeln hingenommen hat. Das Publikum war anscheinend (verständlicherweise) irritiert, und der Rezensent meinte, man hätte sich gefragt, ob Pollini in dem Moment wirklich klar war, dass er gerade ein Konzert spielt.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Dankeschön. Ich habe es seit Ende März immer wieder probiert und keine Quelle erreicht, die kein Probeabo erfordert hätte...

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • "Allerdings verstrickt sich Pollini während des Spiels unversehens in skurrile Zänkereien mit seiner Notenwenderin, die sich sogar lautstark in die Musik hinein gegrantelte Belehrungen über das präzise Umblättern der Seiten gefallen lassen muss. Mit einem stoischen Lächeln lässt die junge Frau die befremdlichen Schimpfkanonaden über sich ergehen, doch im Saal sorgt Pollinis Verhalten für erhebliche Irritationen – ja, man begann sich ernsthaft zu fragen, ob ihm bewusst war, dass er gerade ein Konzert gab."


    https://www.nzz.ch/feuilleton/…wenderin-zankt-ld.1762407

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Noch eine interessante Rezension:


    Musik: Pianist Maurizio Pollini: Visionär der Schönheit | nd-aktuell.de


    "Und dann kam die Freundin, Tochter eines Münchner Musikprofessors, mit dieser Schallplatte daher: Maurizio Pollini spielte die zwei Zyklen der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25. Und eine neue Welt tat sich auf: eine brillante Virtuosität. Vor allem aber: strukturelle Klarheit, eine gewisse Kühle, kein Rubato-Bad, dafür durchsichtige Klangbilder und Intellektualität. Es war ein im besten Sinn »moderner« Chopin, der hier zu hören war. Einzigartig."


    Was ist denn diese "gewisse Kühle", die etwa auch ein Svjatoslav Richter bei Pollini zu hören meinte und die ihn so irritierte?

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