Malen nach Zahlen - Bach, der Klang-Künstler

  • Mein erster Thread :untertauch:


    Der, so dachte ich, muss sich auf alle Fälle um meinen Lieblingskomponisten, drehen. O nein, nicht schon wieder ein Bachthread! Und auch noch Kantaten? Gibt’s doch schon zuhauf, oder? Na, hoffentlich noch nicht unter diesem Blickwinkel! - Gesucht hab ich zumindest, aber nix gefunden. So ein bisschen was ähnliches gab's zwar glaube ich mal zu der Matthäuspassion, aber auch die Kantaten bieten da eben wunderbare Beispiele für die Kunst des Leipziger Meisters.


    Mich interessieren hier vor allem die Arien, in denen Bach die Worte lautmalerisch oder auf symbolische Weise in Musik umsetzt. Klar, den Affekt bringt Bach immer auf den Punkt. Was ich aber hier meine, sind speziell die Arien, in denen Bilder des Textes musikalisch dargestellt werden. Ich glaub, ich muss an einem Beispiel zeigen was ich sagen will:


    In der Pfingstkantate BWV 172 gibt es zum Beispiel die Bassarie „Heiligste Dreieinigkeit“, wo die Dreieinigkeit in Form von drei Bachtrompeten, die hauptsächlich dreistimmige Dreiklangbrechungen spielen (na ja, vielleich ein bisschen Holzhammer-mäßig :stumm:), auf uns herniederkommt.


    Oder in derselben Kantate die Arie „O Seelenparadies“, die von „Gottes Geist, ... der nie vergehet“ nahezu ununterbrochen in Form einer einstimmigen Streicherkantilene durchweht wird. Da krieg ich immer Gänsehaut.


    Ich hab hiervon diese Aufnahme, mit der ich sehr zufrieden bin:


    Auch sehr schön (weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe, möglicherweise bin ich hier im Forum darübergestolpert, kann mich aber nicht genau erinnern), die Triller der zwei Oboe da caccia, die in der Altarie „sehet, Jesus hat die Hand“ im zweiten Teil der Matthäuspassion die „verlassenen Küchlein“ darstellen. Da seh ich jetzt immer eine glucksende Pute vor mir.


    Wasser lässt sich ja musikalisch immer besonders gut darstellen, so zum Beispiel in der Arie „Der schäumenden Wellen von Belials Bächen“ aus der Kantate BWV 81, in die man zum Beispiel auf monteverdiproductions.co.uk/recordings/listen.cfm auf der Bach Cantata Pilgrimage Homepage Vol. 19 per Audiostream hineinhören kann, wo man von den wirbelnden Streichern und Paul Agnews Koloraturen beinahe hinweggespült wird. :faint:


    Etwas ruhiger fließen da im Vergleich die „Bäche von gesalznen Zähren“ in der gleichnamigen Tenorarie in BWV 21.


    Welche Beispiele für solche Arien kennt ihr?


    Ich hoffe, dieser Thread macht nicht nur mir Lust, wieder in die ein oder andere Bachkantate hineinzuhören Vielleicht finde ich ja auch einen Grund, mir wieder mal eine neue CD zuzulegen.


    Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich für eine einzige Gesamteinspielung entscheiden konnten. Zum Teil möchte ich mich gar nicht wirlklich auf eine Lesart eines Dirigenten festlegen, auch wenn ich immer mal wieder mit Gardiner geliebäugelt habe (schon wegen des günstigen Abos).


    Ich möchte mir glaube ich lieber nach und nach CDs aus den verschiedenen Reihen (Gardiner, Suzuki, Pierlot und Kuijken) zulegen, auch wenn sich dadurch Verdopplungen nicht vermeiden lassen, und hoffe, auch aus diesem Thread Anregungen zu erhalten, denn bei um die 200 Kantaten weiss man ja manchmal nicht, wo anfangen (selbst wenn ich mittlerweile schon zur Erkenntnis gelangt bin, dass jede Bach-Kantete die Beschäftigung lohnt):

  • Liebe bachiana,


    hübscher Thread.
    Da kommt mir spontan BWV 82 in den Sinn, wo der sonst eher depressiv-getragene Simeon-Plagiator bei
    [nun wünsch ich noch heute] mit Freuden [von hinnen zu scheiden] vor lauter Vergnügen Schluckauf bekommt.


    Ach, und willkommen im Club!



    audiamus



    .

  • Guten Tag


    Lautmalerei werden sich in Bachkantaten zuhauf finden lassen, als Kind seiner Zeit und Vollblutbarockmusiker wimmelt es in seinen Kantaten von Wetterszenen, Kämpfen, Glockenläuten etc. um nur enige Augen- bzw. Ohrenfällige Beispiele aufzuzählen.
    Eini schönes Beispiel ist etwa schon in der frühen Kantate BWV 71 "Gott ist mein König" zu finden, in Chor Du wollest dem Feinde nicht geben die Seele deiner Turteltauben schildert Bach Überzeugend mit Hilfe von Blockflöten, Oboen und Streichern das Flattern und Gurren der Tauben.
    Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel von Tonmalerei findet sich in der Kantate BWV 61 "Nun komm der Heiden Heiland" im Baßrezitativ Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an mit ständig pochenden Pizzcatomotiven.
    In der Kantate BWV 161 "Komm zu süße Todesstund" werden Totenglocken in der Altarie So schlage doch, du letzter Glockenschlag mit Blockflöten in hohen Tönen, düsteren Streicherpizzicatos und Oktavsprüngen Totengeläüt imitiert.
    In der Kantate BWV 1 "Wie schön leuchtet der Morgenstern" hört(sieht) man schon im Eingangschor durch Sechszehntelfiguren der Streicher das Flimmern des Morgensternes.
    Ein mächtiger Schlachtgesang und ein wilder Kampf bildet auch der Eingangschor der Kantate BWV 19 "Es erhub such ein Streit".
    Das Wort "Grab" vertonte Bach gerne in tiefen Bassnoten und deutet naiv an, dass ein Grab in der Erde liegt.
    In der Kantate BWV 165 "O heiliges Geist und Wasserbad" wird Jesus ein Heilschlänglein genannt und Bach benutzr das Wort Schlange um in der Partitur mit Sechszehntel ein Reptil zu beschreiben, man hört die "Heilschlange" sich winden.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard


    (Ich suche noch paar Beispiele mehr :yes: )

  • Zitat

    Original von audiamus
    Da kommt mir spontan BWV 82 in den Sinn, wo der sonst eher depressiv-getragene Simeon-Plagiator bei
    [nun wünsch ich noch heute] mit Freuden [von hinnen zu scheiden] vor lauter Vergnügen Schluckauf bekommt.


    Ohja, lieber Audiamus! Ich glaube, da ist mir das auch überhaupt zum ersten Mal so richtig aufgefallen, weil auf meiner CD mit BWV82 (ebenfalls die frühe Gardiner bei DG) noch einige andere Kantaten drauf sind, in denen allen das Wort Freue nicht zu selten vorkommt, und es ist kein einziges Mal, dass da nicht aus "Froih -de" mindestens ein "Fro -ho-ho-ho-ho-ho-hoide" wird. :D Aber da könnte ich mir auch gut vorstellen, dass das ein Gemeinplatz der barocken Klangrede war, die Freude durch Melismen auszudrücken, so ähnlich wie die absteigenden Chromatiken bei Lamenti.


    Zitat

    Original von Bernhard
    Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel von Tonmalerei findet sich in der Kantate BWV 61 "Nun komm der Heiden Heiland" im Baßrezitativ Siehe ich stehe vor der Tür und klopfe an mit ständig pochenden Pizzcatomotiven.



    Hach, eine meiner Lieblingsstellen! BWV61 war die erste Bachkantate, die ich mit 11 im Chor gesungen habe. Wie konnte ich die nur vergessen... :O

    In einem meiner liebsten Tagträume steht Peter Harvey vor meiner Tür und singt das. Deswegen hab ich auch immer was zu Essen im Kühlschrank... :angel:


    Noch ein weiteres schönes Beispiel fällt mir in dem Zusammenhang ein: In BWV18 "Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt" hat vor allem der Bass ein paar schöne Stellen:
    Des Teufels Trug unterstreichen gleich eine ganze Reihe schöner Trugschlüsse (ok, ich bin nicht sicher, ob es sich tonsatztechnisch um echte Trugschlüsse handelt, aber harmonisch geht's da ganz schön ab. Noch besser sind aber die Seelen, die über die Welt, die sie verführet, irregehen. Das kann man gar nicht beschreiben, wie Bach einen da harmonisch in die Irre leitet, das muss man hören.


    Ans Herz legen kann ich da die solistisch besetzte Aufnahme mit dem Ricercar Consort unter Pierlot, die die weniger oft gespielte Weimarer Version dieser Kantate eingespielt haben, wo der wunderbare Klang von vier Bratschen die den Chor begleiten nicht durch zwei Blockflöten überschattet wird (sorry, liebe Blockflötenspieler, aber mir liegen nun mal die Bratschen besonders am Herz)



    Vielen Dank Euch beiden für die Tips, ich hab jedenfalls schon richtig Lust, mir mal wieder neue Bachkantaten zuzulegen!



    Kerstin

    Einmal editiert, zuletzt von bachiana ()

  • Eigentlich findet man überall bei Bach einen höchst realistischen Umgang mit musikalischen Bildern, ich denke, dass er die - nicht gerade besonders anspruchsvolle - Dichtung von Picander (Christian Friedrich Henrici) gerade deshalb offensichtlich so geschätzt hat, weil sie ihm die entsprechenden Bilder liefert.


    Man kann sich darauf verlassen, wenn z.B. von Wellen oder Wogen gesprochen wird, dann erscheinen sie auch musikalisch. Allerdings in höchst vielfältiger Form. Vergleicht mal in der Johannispassion in der Tenorarie "Erwäge" die in der Zeile "Darum, nachdem die Wasserwogen..." beschriebenen Wellen mit den wenig später folgenden, richtungslosen Fluten der Zähren in der Sopranarie "Zerfließe mein Herze in Fluten der Zähren"!


    Am faszinierendsten finde ich, wenn Bach dann noch verschiedene Bilder und Bedeutungsebenen übereinander schichtet. In der letztgenannten Arie erscheint neben den Fluten im BC ständig das bange Herzklopfen aus dem vorangegangenem Recitativ mit 1/8-Pausen auf 1, Herzbeben mit Aussetzern, auf dem Wort "tot" bleibt das Herz ganz stehen.


    Ein solches "Übereinanderschichten" von Bildern und Bedeutungen findet man ganz häufig, so z.B. in der oben bereits genannten Kantate 19 "Es erhub sich ein Streit". In der Tenorarie "Bleibt ihr Engel bleibt bei mir" hört man den Tenor in ständiger Wiederholung die Engel um ihr Bleiben anflehen. Die Streicher spielen dazu eine typische Engelsfigur, immer drei achtel (punktierte 1/8, 1/16, 1/8 ). Diese Figur findet man als Engelsmusik z.B. in der Sinfonia des Weihnachtsoratoriums, aber ähnlich auch in der Pifa bei Händels Messias. Über allem spielt die Trompete zusätzlich einen C.f.-Choral nach der Melodie "Herzlich hab ich dich lieb", aber gemeint ist offensichtlich aus diesem Choral die Strophe "Ach Herr lass Dein lieb Engelein", den wir ja als Schlußchor der Johannispassion kennen.


    Was mir gelegentlich Probleme bereitet, ist, wenn Bach bei seinen Parodien plötzlich völlig sinnlose Bilder entstehen läßt. In der weltlichen Kantate 213, Herkules auf dem Scheideweg, wehrt sich Herkules gegen die Verführung der Wollust mit der trotzigen Arie:


    Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen,
    verworfene Wollust, ich kenne dich nicht.
    Denn die Schlangen, die mich wollten wiegend fangen,
    hab ich schon lange zertreten, zerrissen.


    Selbstverständlich malt Bach das Bild der wiegenden Schlangen höchst realistisch aus. Im Instrumentalbass drehen und winden sich die Schlangen, dass einem ganz schwindelig wird.


    Und ausgerechnet diese Arie wird dann im Weihnachtsoratorium mit dem Text versehen: Bereite Dich Zion.... Deine Wangen sollen heut viel schöner prangen! Im Weihnachtsoratorium findet man eine ganze Reihe solcher sinnloser Textunterlegungen, was mir Rätsel aufgibt. Hat er sein kirchliches Publikum nur gering geschätzt, so das es sich zeitweilig mit ziemlich unpassenden Parodien begnügen sollte ?


    Aber nun auch selbstkritisch die Frage, ist es vielleicht nur meine Vorprägung und Kenntnis des Originals, welche mir die Parodie wie eine sinnlose Fälschung erscheinen läßt und mir den Zugang zu eigentlich wunderbar erfundener Musik erschwert ?


    Beste Grüße


    Manuel Garcia
    ;( 8) :O


  • Ich lese gerade "Der musikalische Dialog" von Nikolaus Harnoncourt, in dem auch ein Essay über das Parodieverfahren bei Bach enthalten ist. Harnoncourt weist darauf hin, dass die Aufführungsdaten von weltlichem und geistlichem Gegenstück häufig zeitlich nahe beieinander lagen, so auch beim Weihnachtsoratorium. Da zudem oft auch beide Texte vom gleichen Dichter stammen (Picander), zieht Harnoncourt daraus den Schluss, dass möglicherweise oftmals beide Kantaten, die weltliche und die geistliche, von vorneherein gemeinsam konzipiert wurden, so dass auch die Musik schon im Hinblick auf beide Texte komponiert wurde. In gewisser Weise werde damit das nur den Tagesbedarf deckende weltliche Werk zu einer Art Vorstudie für die endgültige Fassung in der geistlichen Version, so Harnoncourt.


    Mit Gruß von Carola

  • Liebe Carola,


    ich kenne den "musikalischen Dialog" von Harnoncourt, und während ich das Buch sonst sehr schätze, sehe ich gerade in diesem Kapitel so etwas wie eine distanzlose Heiligenverehrung. Er schreibt z.B.: "So ließe sich auch der oft bemerkte merkwürdige Umstand erklären, dass die geistliche Zweitfassung, die Parodie also, künstlerisch überzeugender und geschlossener wirkt als die weltliche Urfassung; selbst dann, wenn an einzelnen Stellen der ursprüngliche Text auch in der musikalischen Auslegung noch durchschimmert...". Ja, gelegentlich ist es so, in ganz vielen Fällen aber eben nicht. Das WO enthält beides. Wunderschön z.B. die Umformung des "Lob und Preis gekrönter Damen" auf "Großer Herr und starker König". In beiden Fällen empfinde ich die Loppreisung einer nicht herrschenden Majestät, die Königsgemahlin bzw. das Jesuskind absolut überzeugend. Wunderbar auch das "Schlafe mein Liebster", ist in Urbild und Parodie ja auch fast textgleich. Dass im Urbid die Wollust den Herkules in den Schlaf wiegen will, gibt dem ganzen eine ganz interessante Pointe. Aber absolut unverständlich die o.g. Wiederverwendung der "wiegenden Schlangen" als "deine Wangen". Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, auch aus dem Herkules auf dem Scheideweg, die grandiose Arie:


    Auf meinen Flügeln sollst du schweben,
    auf meinem Fittich steigest du
    den Sternen wie ein Adler zu.
    Und durch mich
    soll dein Glanz und Schimmer sich
    zur Vollkommenheit erheben.


    Man sieht und hört den mächtigen Adler seine großen Kreise ziehen, höher und höher. Im Weihnachtsoratorium wird daraus:


    Ich will nur dir zu Ehren leben,
    Mein Heiland gib mir Kraft und Mut,
    das es mein Herz recht eifrig tut.... usw.


    das ist nicht nur lediglich ein "durchschimmern an einzelnen Stellen" sondern ich empfinde das als regelrecht verfälschende Verwendung eines anders gedachten Bildes.


    Natürlich könnte man diskutieren, wie weit Bach hier mit dem Bild des schwebenden Adlers etwas zusätzliches zur Bitte an den Heiland, Kraft und Mut zu spenden, sagen will. Er ist ja vielschichtig und oft auch hintergründig. Allerdings, so wie ich seinen Umgang mit Bildern kenne, produziert er sonst nicht offensichtliche Widersprüche wie z.B. den zwischen einerseits wogenden Schlangen, die man zertreten und zerreißen muß, und andererseits den Wangen des Jesuskindchens, die heute viel schöner prangen sollen.


    Liebe Grüße


    Manuel García
    ;( ;( :)

  • Lieber Manuel,


    mich hat diese Argumentation Harnoncourts auch verwundert, zumal ich sie so auch noch nie irgendwo gelesen hatte. Du hast schon recht, es könnte ein gewisses Maß an "Heiligenverehrung" dahinter stecken.


    Mir selber fallen fallen solche Übertragungsschiefen wie die Schlangen/Wangen kaum auf, da ich die weltlichen Vorlagen in der Regel nicht kenne.


    Zum Beispiel die von dir erwähnte Arie aus dem Weihnachtsoratorium kenne ich schon immer mit dem "Ich will nur dir zu Ehren leben"-Text. Frappierend ist für mich dabei, dass mir dieser Text bisher immer sehr gut zur emphatischen, kraftvoll-innigen Vertonung zu passen schien. Aber vielleicht verändert sich das, wenn man die Erstfassung kennt und in gewisser Weise mithört.


    Mit Gruß von Carola

  • Guten Tag



    Manchmal muss man wirklich einen Höreindruck solch parodierter Kantaten haben. Gerade zu der von Harnoncourt in seinem Buch beschriebenen weltlichen Kantate BWV 30a "Angenehmes Wiederau" und der umgedichteten geistlichen Kantate BWV 30 "Freue dich erlöste Schar" möchte ich auf zwei erwähnenswerte Einspielungen


    a) BWV 30a mit dem Ensemble Cafe Zimmermann



    und


    b) BWV 30 mit dem Ensemble Montreal Baroque



    Es ist interessant beide Versionen zu kennen und reizvoll sie anzuhören (zumal wenn der selbe Basssolist mitwirkt).


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard


    Bernhard





  • Hallo Manuel,


    wahrscheinlich hat sich die Bach-Literatur (in der ich mich leider ziemlich schlecht auskenne) dieser Thematik und diesen Beispielen schon ausführlich gewidmet. Aber was mir hier einfällt: Die Parallelen zwischen Herkules und Christus sind ja ein uraltes Thema - eigentlich schon seit der Antike, aber spätestens seit dem Spätmittelalter ist das eine der beliebtesten "halbbiblischen Typologien" (Friedrich Ohly). Im 17. und 18. Jahrhundert war die Herstellung dieses Bezugs fast schon notorisch (spielt auch in der Kunstgeschichte eine große Rolle) - insofern habe ich doch den Verdacht, dass Bach und seine Textdichter sich etwas dabei gedacht haben.


    Der aufsteigende Adler wäre in diesem Bezugsnetz eher eine Parallele zu Christi Himmelfahrt, kann aber natürlich auch - wie Du schon erwogen hast - mit dem Thema des "Erhebens" (der Gnade) allgemein verbunden werden.


    Noch interessanter finde ich das andere Beispiel: die Überwindung der allegorischen Schlangen der Wollust ist im genannten Bezugssystem doch ebenso wie das Erwürgen der Schlangen Heras durch den kleinen Herkules als Parallele zur Überwindung des Sündenfalls durch Christus aufzufassen. In dieser Sicht ist die in der Arie des Weihnachtsoratoriums bejubelte Heirat der "Tochter Zion" mit Jesus ein Antitypus zu Adam und Eva. Insofern windet sich die Schlange des Sündenfalls nicht unpassend zum Text - allerdings ist die Musik nicht mehr wortillustrativ wie in der Kantate, sondern sie erläutert den vertonten Text auf einer anderen Ebene.


    Hört sich vielleicht von weiter hergeholt an als es ist: aber es sind auch im Protestantismus des 18. Jahrhunderts gängige Systeme. Und wie gesagt: Herkules als Präfiguration Christi war damals keine exzentrische Interpretation, sondern theologisches Allgemeingut.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Mir sind das zwei Assoziationsstufen zuviel. Wenn im Text davon die Rede wäre, daß Christus die "Alte Schlange" (übrigens nur eine) zerträte oder erwürgte, wäre ich dabei.


    Aber das Bild ist hier das der Braut, der Tochter Zion bzw. Gemeinde, die auf ihren Bräutigam wartet und sich für ihn schmückt. Da schwingt immer das Hohelied und evtl. das Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen mit.


    Aber daß das, was einmal eine fast überdeutliche Verbildlichung der sich windenden Schlangen ist, nun auf einmal über die Assoziation Wangen der Tochter Zion als Braut, Christus als Bräutigam, aber eben auch (in einem ganz anderen Bild, warum nicht auch gleich noch als guter Hirte oder Lamm Gottes ;)) als Sieger über die Schlange auf dasselbe deuten soll wie beim alten Text, damit aber mit dem unmittelbar gesungenen Text nix mehr zu tun hat, leuchtet mir nicht ein und schient mir ganz klar eine nachträgliche Konstruktion. (Und selbst wenn nicht, fände ich es ästhetisch total unbefriedigend)


    Ich glaube eher, daß hier die vage Gemeinsamkeit des Hauptaffekts (A-Teil), nämlich der sinnlichen Komponente, einmal der verführerischen Wollust und einmal der Braut in Erwartung des Bräutigams, als ausreichend gesehen und der Mittelteil halt durchgeschleift wurde.


    Bei "Ich will nur Dir zu Ehren leben" scheint mir der Affekt allgemeiner der von Kraft und Energie zu sein, der beiden gemeinsam ist, da habe ich kein Problem (ich mag das Stück allerdings nicht besonders, zu hektisch).


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Mir sind das zwei Assoziationsstufen zuviel. Wenn im Text davon die Rede wäre, daß Christus die "Alte Schlange" (übrigens nur eine) zerträte oder erwürgte, wäre ich dabei.


    Aber das Bild ist hier das der Braut, der Tochter Zion bzw. Gemeinde, die auf ihren Bräutigam wartet und sich für ihn schmückt. Da schwingt immer das Hohelied und evtl. das Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen mit.


    Aber daß das, was einmal eine fast überdeutliche Verbildlichung der sich windenden Schlangen ist, nun auf einmal über die Assoziation Wangen der Tochter Zion als Braut, Christus als Bräutigam, aber eben auch (in einem ganz anderen Bild, warum nicht auch gleich noch als guter Hirte oder Lamm Gottes ;)) als Sieger über die Schlange auf dasselbe deuten soll wie beim alten Text, damit aber mit dem unmittelbar gesungenen Text nix mehr zu tun hat, leuchtet mir nicht ein und schient mir ganz klar eine nachträgliche Konstruktion. (Und selbst wenn nicht, fände ich es ästhetisch total unbefriedigend)



    Hm, ich bin ja selbst nicht ganz zufrieden (mit meiner Interpretation, nicht mit Bach :D). Aber speziell mit typologischen Bezugssystemen zwischen Altem und Neuem Testament, aber eben auch zwischen Naturgeschichte/antiker Mythologie und Evangelien habe ich mich jahrelang befasst (allerdings eher bei Bildern und in Theologie/Literaturgeschichte). Und da gibt es bis ins 19. Jahrhundert, teilweise darüber hinaus wirklich die verquersten und absurdesten Parallelen. Man hat nachweisbar miteinander assoziiert, was nur irgendwie passte. Es ging eben darum, alle Formen realer und fiktionaler Erzählungen mit der Heilsgeschichte kompatibel zu machen, auch und gerade die antike Mythologie - Nietzsche nannte das "Beziehungswahn".


    Deshalb glaube ich schon, dass es sich nicht um eine nachträgliche Konstruktion, sondern um ein intentionales Verfahren handelt (es mag natürlich sein, dass mich die Forschung widerlegt). Als "ästhetisch unbefriedigend" kann man das aus heutiger (evtl. auch schon aus damaliger Sicht) sicher empfinden. Meine Absicht war es nicht, Bach wieder mal als makellosen Über-Alles-Künstler oder als Hyper-Theologen zu stilisieren, bei dem alles aufgeht. Das hat er auch gar nicht nötig.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Nachträglich ist es doch in trivialem Sinne eh, weil die Herkules-Kantate vorher bestand. Man müßte genauer wissen, wie Bach und Picander bei solchen Parodierungen vorgegangen sind.


    Es geht mir auch weniger darum, solche Assoziationen grundsätzlich fragwürdig zu finden, sondern in diesem konkreten Fall a) um, bei beibehaltener Musik, die Diskrepanz zwischen einer Verklanglichung, die jeder Esel hört und einer indirekten Assoziation über mehrere Stufen. Und b) darum, daß ich es als schief bzw. eine Zerstörung des Braut-Bräutigam-Bildes der "Bereite dich Zion"-Arie finde, wenn hier der gesungene Text (zu dem m.E. der generelle Affekt des Stückes und der A-Teil ganz gut passen) völlig ignoriert würde, zugunsten dieser sehr indirekten Verknüpfung.


    Parallele oder analoge Fälle würden es mir vielleicht glaubwürdiger erscheinen lassen. Also etwas aus einer geistlichen Kantate, wo meinetwegen vom guten Hirten die Rede ist und in der Begleitung die Schlangen züngeln ;)
    Ich kenne die Fachausdrücke nicht, aber ich habe bei den typischen Arien/Accompagnati in den Passionen schon den Eindruck, daß der Text nicht wild rumassoziiert, sondern normalerweise sorgfältig ein Bild oder einen metaphorischen Zusammenhang ausgestaltet. Und da gibt es eben, nicht zuletzt theologisch fundierte, übliche Verknüpfungen. Diese Schlüssigkeit würde mir in obigem Beispiel völlig fehlen, wenn die Schlangen was wesentliches beitragen sollten. (Wir werden ja außerdem kurz vorher dadurch, daß, wenn ich recht erinnere, "Wie soll ich Dich empfangen" auf die "O Haupt voll Blut und Wunden"-Melodie gesungen wird, schon an die Passion gemahnt.)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Nachträglich ist es doch in trivialem Sinne eh, weil die Herkules-Kantate vorher bestand. Man müßte genauer wissen, wie Bach und Picander bei solchen Parodierungen vorgegangen sind.



    Ich hatte mich implizit auf die oben von Carola referierte Harnoncourt-Hypothese bezogen:


    Zitat

    Original von Carola
    Harnoncourt weist darauf hin, dass die Aufführungsdaten von weltlichem und geistlichem Gegenstück häufig zeitlich nahe beieinander lagen, so auch beim Weihnachtsoratorium. Da zudem oft auch beide Texte vom gleichen Dichter stammen (Picander), zieht Harnoncourt daraus den Schluss, dass möglicherweise oftmals beide Kantaten, die weltliche und die geistliche, von vorneherein gemeinsam konzipiert wurden, so dass auch die Musik schon im Hinblick auf beide Texte komponiert wurde.




    Zitat

    Es geht mir auch weniger darum, solche Assoziationen grundsätzlich fragwürdig zu finden, sondern in diesem konkreten Fall a) um, bei beibehaltener Musik, die Diskrepanz zwischen einer Verklanglichung, die jeder Esel hört und einer indirekten Assoziation über mehrere Stufen. Und b) darum, daß ich es als schief bzw. eine Zerstörung des Braut-Bräutigam-Bildes der "Bereite dich Zion"-Arie finde, wenn hier der gesungene Text (zu dem m.E. der generelle Affekt des Stückes und der A-Teil ganz gut passen) völlig ignoriert würde, zugunsten dieser sehr indirekten Verknüpfung.


    Parallele oder analoge Fälle würden es mir vielleicht glaubwürdiger erscheinen lassen. Also etwas aus einer geistlichen Kantate, wo meinetwegen vom guten Hirten die Rede ist und in der Begleitung die Schlangen züngeln ;)
    Ich kenne die Fachausdrücke nicht, aber ich habe bei den typischen Arien/Accompagnati in den Passionen schon den Eindruck, daß der Text nicht wild rumassoziiert, sondern normalerweise sorgfältig ein Bild oder einen metaphorischen Zusammenhang ausgestaltet. Und da gibt es eben, nicht zuletzt theologisch fundierte, übliche Verknüpfungen. Diese Schlüssigkeit würde mir in obigem Beispiel völlig fehlen, wenn die Schlangen was wesentliches beitragen sollten.


    Ich dilettiere hier in Bezug auf Bach ja nur herum. Aber meine Vermutung ist, dass solche sehr verklausulierten und indirekten Anspielungen ein Spezifikum des Parodieverfahrens sind. So in etwa nach dem pragmatischen Motto "aus der Not eine Tugend machen". Also: Bach hat keine Zeit, noch mehr zu komponieren, verwendet deshalb das Parodieverfahren - will aber das beste draus machen und bemüht sich zusammen mit Picander, sowohl Text wie auch Musik so zu gestalten, dass sie sowohl im profanen wie im sakralen Bereich "zueinander passen". Das funktioniert dann eben manchmal nur mit sehr indirekten Text-Musik-Bezügen.


    Aber genug spekuliert, bevor ich mich hier noch ob meiner privaten JSB-Forschung blamiere :D.


    Trotzdem nochmal zu den Schlangen: Vielleicht habe ich ja eine déformation professionelle, aber ich assoziiere beim allegorischen Brautpaar Christus/Tochter Zion sofort den alttestamentlichen Typus Adam/Eva und somit auch Sündenfall und Schlange - und kann mich dabei immerhin auf eine altehrwürdige Tradition seit Paulus (Röm 5, 12-19) berufen ;).


    Für das Verfahren, dass Text und Musik nicht auf eine Metapher, einen Affekt abgestimmt sind, fallen mir jetzt keine anderen Beispiele ein (außer den berühmten seit Gluck). Es gibt aber zahlreiche Beispiele von Text-Bild-Konglomeraten, bei denen Text und Bild zwei ganz unterschiedliche Bedeutungsebenen eines Themas behandeln.




    Zitat

    (Wir werden ja außerdem kurz vorher dadurch, daß, wenn ich recht erinnere, "Wie soll ich Dich empfangen" auf die "O Haupt voll Blut und Wunden"-Melodie gesungen wird, schon an die Passion gemahnt.)


    In gewissem Sinne ist das fast ein ähnliches Verfahren - nur dass hier nicht irgendein mythologisches oder allegorisches Element mit Christus analogisiert wird, sondern zwei Ereignisse der Vita Christi zur Deckung gebracht werden. Es ist ja in der Tat der Choral "O Haupt voll Blut und Wunden", aber er erklingt in der Harmonisierung, die Bach in der Matthäuspassion für die Worte "Wenn ich einmal soll scheiden" direkt nach dem Verscheiden Christi komponiert hatte. Inkarnation und Tod Christi (bzw. die menschliche Reflexion darüber) fallen in eins - das ist für mich eine der bewegendsten Stellen in Bachs Werk.



    Viele Grüße


    Bernd


  • Auch das ist unstrittig und transparent, wobei ich nicht sagen würde, sie fallen in eins, sondern Ziel und Zweck der Inkarnation ist der Opfertod.


    Es ist aber insofern ein anderes Verfahren, als daß die Melodie jedermann seinerzeit bekannt gewesen ist und auch der theologische Zusammenhang.


    Natürlich ist es kein Widerspruch, daß offensichtliche und sehr versteckte Bezüge nebeneinanderstehen können. Ich kann mich jedoch des Eindrucks, daß man die in der Vorlage direkte und simple Schlangendarstellung in der Parodie irgendwie hinbiegt, damit es halbwegs paßt, nicht erwehren. Und da ist mir fast egal, ob das Picander und Bach hingebogen haben oder Harnoncourt oder Du. ;)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Es bleibt jedoch dabei, daß auch Braut-Bräutigam (im Text)-Adam-Eva-(Parallele im Hinterkopf)-Schlange (in der Musik) gegenüber "Schlangen" (Text) und schlängelnden Melodielinien ein recht weiter Weg sind.


    Es gibt noch einen zweiten, etwas direkteren Weg: Der Kampf des Herkules gegen die Schlangen (seien es die der Hera oder die allegorischen der Wollust) wurde im Barock nachweislich typologisch auf die Überwindung der Schlange des Sündenfalls durch Christus bezogen. Das haben Picander und Bach mit einiger Sicherheit gewusst.




    Zitat

    Wie gesagt, ich kann es natürlich nicht widerlegen. Aber gerade wenn man weiß, wie oft derartiges vorkommt, muß man sich erst recht hüten, es immer und überall zu sehen. (Mit zwei oder drei assoziativen Zwischenschritten kriegt man vermutlich zwei völlig beliebige Dinge verknüpft) So ähnlich wie bei den angeblichen Zitaten in der Musik, die keine sind.


    Ich kann es natürlich auch nicht beweisen. Aber als Hypothese (mehr war's eh nie) finde ich es schon ok. Man müsste halt alle anderen Parodien mal untersuchen, falls das nicht schon längst passiert ist.



    Zitat


    Auch das ist unstrittig und transparent, wobei ich nicht sagen würde, sie fallen in eins, sondern Ziel und Zweck der Inkarnation ist der Opfertod.


    Es gibt seit der Patristik (etwa bei Origenes) die Vorstellung von der "Gleichzeitigkeit" zentraler heilsgeschichtlicher Ereignisse - der lineare Zeitverlauf wird aufgehoben, Sündenfall und Kreuzigung finden (quasi) gleichzeitig statt.


    Übrigens ist mir für Bach/Picander noch ein sehr schönes Beispiel für das typologische Verfahren eingefallen: "Am Abend, da es kühle war, ward Adams Fallen offenbar, am Abend drücket ihn der Heiland nieder. Am Abend kam die Taube wieder und trug ein Ölblatt in dem Munde" aus der Matthäuspassion. Hier hat man die Adam-Christus- bzw. Sündenfall-Kreuzigung-Parallele noch in typischer Weise um den Bund Gottes mit Noah und der Errettung der Menschheit aus der Sintflut angereichert, zudem noch das Ende des Lebens und die Grabesruhe mit dem ausklingenden Tag und dem Schlaf in Beziehung gesetzt. Ist was völlig anderes, klar, und findet auch alles in dem ein und selben Text statt.


    Trotzdem natürlich sehr schön. ;(



    Zitat

    Und da ist mir fast egal, ob das Picander und Bach hingebogen haben oder Harnoncourt oder Du. ;)


    Mit diesen Gesinnungsgenossen kann ich leben :D.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von Carola
    Harnoncourt weist darauf hin, dass die Aufführungsdaten von weltlichem und geistlichem Gegenstück häufig zeitlich nahe beieinander lagen,


    Mit Gruß von Carola


    Augenfällig wäre das auch beim "Osteroratorium" BWV 249.
    Anläßlich der Geburtstagsfeier des Herzoges Christian von Sachsen-Weisenfels wurde am 23.Februar 1725 die Kantate "Entfliehet, verschwindet" BWV 249a aufgeführt. Am 1. April 1725, also fünf Wochen später, erklingt dias selbe Werk jetzt parodiert mit geistlichen Text als Osteroratorium. Und am 25. August 1726 erklang (womöglich) die Komposition, wiederum mit einem anderen Text als Geburtstagskantate "Die Feier des Genius" BWV 249b für den Grafen Fleming.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Zitat

    (von Zwielicht) Aber genug spekuliert, bevor ich mich hier noch ob meiner privaten JSB-Forschung blamiere.


    Nein, tust Du sicher nicht, Bernd, denn einmal komme jetzt ich und bringe noch ungleich bessere Blamierungsvoraussetzungen mit, und dann ist doch auch die Bachforschung auf "Ergebnisse" - vielleicht sagen wir wirklich besser Arbeitshypothesen oder dergl. - von außen angewiesen und nutzt diese, soweit ich sehen kann, recht gern.


    Zitat

    Herkules als Präfiguration Christi war damals keine exzentrische Interpretation, sondern theologisches Allgemeingut.


    Ja, für uns Heutige bisweilen merkwürdig zu sehen. Um das mal als in der Diskussion etabliertes Beispiel fortzuführen: Zu den Schlangen kann ich Dir, lieber Bernd, sehr gut folgen. Auch innerhalb der von Dir vorgeschlagenen Präfigurierungskonstellationen. Daß der alte Rowdy Herakles nicht allein in Bezug auf den sensus moralis nicht eben sonderlich koscher war, das hat bereits in der Kaiserzeit niemanden dabei gestört, das (ebenfalls stark auf die gegenwärtigen Verhältnisse bezogene) Bild vom "vir bonus Hercules" mit dem des "pankrator mundi" kurzzuschließen. Nicht immer und zu allen Zeiten wurde ja der Leidensaspekt am Heiland gleichermaßen betont.


    Und es wurde in dieser Hinsicht tatsächlich manchmal ein wenig "mit den Augen gedacht", zum Beispiel war es verhältnismäßig nebensächlich (womöglich oft auch nicht bekannt), daß Herakles einige Male (nach griechischem Empfinden selbstverständlich) "entsühnt" zu werden hatte, die bildhafte Parallele der in der Wiege gemeuchelten zwei Schlangen durch den Knaben war einfach schlagender in manchem Zusammenhang, das denke ich auch.


    Der "Herakles am Scheidewege" war ja selbst eine in Bezug zum zwar nie abgeschlossenen, aber irgendwann doch ziemlich "kanonisierten" Herakles-Mythos nachträgliche Einrichtung des Sophisten Prodikos, der damit selbst ein Verfahren der Dienstbarmachung bekannter und beliebter Figuren aus dem kollektiven Gedächtnis zum Zwecke der Anschlußerstellung an aktuelle Diskussionen angewandt hat.


    Zitat

    Es gibt aber zahlreiche Beispiele von Text-Bild-Konglomeraten, bei denen Text und Bild zwei ganz unterschiedliche Bedeutungsebenen eines Themas behandeln.


    In der Emblematik des Barock sogar häufig anzutreffen, die Frage in unserem Zusammenhang wird aber sein, wie heterogen und wie entlegen die "unterschiedlichen Bedeutungsebenen" sein können. Und wie kodifiziert sie erscheinen mußten, um als gültig angesehen zu werden.


    Zitat

    (von Johannes Roehl) Ich kann mich jedoch des Eindrucks, daß man die in der Vorlage direkte und simple Schlangendarstellung in der Parodie irgendwie hinbiegt, damit es halbwegs paßt, nicht erwehren.


    Ja, natürlich darf man nie vergessen, daß der Begriff "Bild" in der Musik und selbst in der Literatur (sowie besonders den sie jeweils untersuchenden Wissenschaften) immer hart an metaphorischen Gebrauch grenzt, freilich an einen, der durchaus eine lexikalische Leerstelle (als sog. Katachresis) auszufüllen sich bestrebt, die zweifellos vorhanden ist.


    Ich bin nun alles andere als ein Experte bezgl. barocker Parodieverfahren und möchte mich deshalb nicht mit eigenen Vorschlägen vorwagen. Man sollte freilich nie bei seiner eigenen assoziativen Tätigkeit die tatsächlich praktizierten Bezugssysteme, soweit die als bekannt und erschlossen gelten können, außer Acht lassen, denn erst durch solche Systematisierungen wurde ja der Beliebigkeit ein Riegel vorgeschoben und wurden "Bilder" intersubjektiv verwendbar und codierbar.


    Die relative Arbitrarität solcher Systeme - in Richtung auf das Material, das sie benutzen - erschreckt mich aber beinahe manchmal, lieber Bernd, so wenig ich mich darin sicher auch zurechtzufinden weiß, und ich würde gern mehr von Dir darüber hören, denn letztlich scheint mir hier nicht allein die Kompetenz der Späteren im Umgang mit den Bezügen, sondern diese selbst in ihrer Plausibilität und damit wohl auch Funktionalität zur Debatte zu stehen. Gab es eigentlich irgendwen oder irgendwas, der oder das als völlig unbrauchbar zur Abbildung, Spiegelung, Verdeutlichung, „Umlenkung des Sinns“ empfunden wurde? Irgendeinen Themenkomplex sogar?


    Denn mir scheint es letztlich von der textlichen Vorgabe bestimmter natürlicher Konkreta abhängig zu sein, ob und in welchem Maße musikalische Lautsymbolik eingesetzt werden kann. Hier dürfen wir auch nicht unterschlagen, daß eine erste lautmalerische Stufe bereits in der Beschreibung des außersprachlichen Zusammenhangs durch Worte einsetzt, welche dann durch jene „Malerey der Musick“ verstärkt, ersetzt, womöglich manchmal gar umgangen werden kann?


    Ich empfinde es nämlich als erlaubt, sich wie Manuel Garcia Gedanken um die Stimmigkeit solcher um jeden Preis als Allusionen hervorscheinender Stellen in Bachs Musik zu machen. Ich lese gern die Eindrücke von welchen, die mir wesentlich voraus sind auf dem Gebiet, und sich gerade auch in Bezug auf die eigenen Musikerfahrungen äußern.


    Entschuldigt, wenn das jetzt etwas von den in Rede stehenden Stellen weggeschrieben war, aber auch die sind ja wohl als Beispiel angegeben gewesen? Die Ausgangsfrage lautet ja:


    Zitat

    (von bachiana) Mich interessieren hier vor allem die Arien, in denen Bach die Worte lautmalerisch oder auf symbolische Weise in Musik umsetzt. Klar, den Affekt bringt Bach immer auf den Punkt. Was ich aber hier meine, sind speziell die Arien, in denen Bilder des Textes musikalisch dargestellt werden.


    Ich gestehe allerdings für mich selbst gern, daß es besonders die nicht allzu dezidiert lautmalerisch konzipierten Arien Bachs sind, die mich tief zu rühren vermögen. Das „Stirb in mir“ in der 169er „Gott soll allein mein Herze haben“ zum Beispiel – und ich bin gespannt, ob nicht doch jemand auch darin noch Lautsymbolik oder Lautmalerei erkennen kann, ohne freilich übermäßig beliebig zu interpretieren?


    Ganz offen: Für mich ein schwieriges und zu großen Teilen dunkles Thema, dem ich mich mit umso größerer Aufmerksamkeit in Gestalt der Beiträge dieses Threads annehme. Übrigens ist die Zahlenspielerei bisher noch gar nicht richtig angerissen worden (die ja auch im Titel unsers Fadens vorkommt)…


    Alex.


  • Insbesondere die christliche Rezeption hat in diesem Zusammenhang Transformationen geschaffen, die auf "bildhaften Parallelen" beruhen. Die Schlangenmotivik in der Wiege bzw. im Zusammenhang mit Geburten hatte in der Antike andere Konnotationen als die der Sünde bzw. der Finsternis. Eher sollte eine Gottähnlichkeit, womöglich gar eine Gottesabstammung insinuiert werden (etwa für Scipio); die Schlange dient dabei als Symbol der Gotteszeugung, als Verkörperung des Zeus/Jupiter.


    Daher ist die Umdeutung des Herakles-Mythos besonders problembehaftet und einseitig, oder, wie Alex es ausdrücken würde, arbiträr (und natürlich tendenziös).


    LG,


    Christian

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Zwielicht


    Es gibt noch einen zweiten, etwas direkteren Weg: Der Kampf des Herkules gegen die Schlangen (seien es die der Hera oder die allegorischen der Wollust) wurde im Barock nachweislich typologisch auf die Überwindung der Schlange des Sündenfalls durch Christus bezogen. Das haben Picander und Bach mit einiger Sicherheit gewusst.


    Das bestreitet ja niemand, daß die das wußten. Damit wird aber nur erklärt, warum überhaupt hier die Parodiemöglichkeit halbwegs sinnvoll besteht. Wenn man das nun aber so zusammenbastelt, daß sich, obwohl inzwischen von Christus (als Bräutigam, nicht als Sieger über Satan) immer noch die Schlangen um die Wiege des Herakles winden, wird es m.E. völlig beliebig, weil der Hörer des WO doch die Urform nicht kennen können muß.

    Damit kriegt man alles hin und es wird verwunderlich, warum nicht in jedem zweiten Stück der Matthäuspassion schlängelnde Figuren vorkommen. ;) Sie handelt schließlich von Christus, damit besteht eine Beziehung zu den Schlangen des Herakles (und den Kranichen des Ibykus, denn der Pelikan ist auch ein Stelzvogel und diente als Sinnbild Christi, weil man meinte, daß er seine Brut vom eigenen Blut nährt und, und und). So wird Auslegung zur Parodie, man assoziiert alles mit allem und damit Beliebiges...


    Zitat

    Es gibt seit der Patristik (etwa bei Origenes) die Vorstellung von der "Gleichzeitigkeit" zentraler heilsgeschichtlicher Ereignisse - der lineare Zeitverlauf wird aufgehoben, Sündenfall und Kreuzigung finden (quasi) gleichzeitig statt.


    Puh, ja Theologen und Zeit, da hätte ich wissen sollen, daß ich da nicht hinwollte, denn da versteht man ebenfalls überhaupt nichts mehr ;)
    (Verstehe ich wirklich überhaupt nicht, der Witz der Heilsgeschichte und damit des ausdrücklich nicht-periodischen Zeitverlaufs ist doch gerade, daß es sich um eine Geschichte, also eine Abfolge, nicht eine Gleichzeitigkeit handelt. Vermutlich muß daß dann mit der Ewigkeit/Zeitlosigkeit Gottes zusammengereimt werden und dann kommt es zu solch paradoxen Ideen... als ob Zeit nicht ohne das schon schwierig genug wäre! Es gibt allerdings einen nicht uninteressanten, völlig abgefahreren Text von PK Dick hierzu, der anscheinend ernst gemeint ist (?) und mit dem Modell von "Gottes Zeit", nach der wir uns immer noch im 1. Jhd. zur Zeit der Apostel befinden und einer irgendwie durch Verblendung oder was immer entstandenen scheinbaren Zeit, nach der wir uns Ende der 1970er Jahre befinden (als der Text geschrieben wurde) operiert.)


    Zitat


    Übrigens ist mir für Bach/Picander noch ein sehr schönes Beispiel für das typologische Verfahren eingefallen: "Am Abend, da es kühle war, ward Adams Fallen offenbar, am Abend drücket ihn der Heiland nieder. Am Abend kam die Taube wieder und trug ein Ölblatt in dem Munde" aus der Matthäuspassion. Hier hat man die Adam-Christus- bzw. Sündenfall-Kreuzigung-Parallele noch in typischer Weise um den Bund Gottes mit Noah und der Errettung der Menschheit aus der Sintflut angereichert, zudem noch das Ende des Lebens und die Grabesruhe mit dem ausklingenden Tag und dem Schlaf in Beziehung gesetzt. Ist was völlig anderes, klar, und findet auch alles in dem ein und selben Text statt.


    Das ist mir, ohne Witz, selbst schon nach meinen ersten oder zweiten Beitrag im thread eingefallen und ich war kurz davor, es als positives, theologisch schlüssiges, nicht beliebiges Beispiel zu zitieren. Ebendiese Einheit und Schlüssigkeit vermisse ich völlig bei der erhaltenen Schlange, die auf den offensichtlichen Text und Affektebenen keine Entsprechung mehr hat, sondern nur noch über zwei stillschweigend implizierte Assoziationsstufen.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    (von Il Grande Inquisitor) Daher ist die Umdeutung des Herakles-Mythos besonders problembehaftet und einseitig, oder, wie Alex es ausdrücken würde, arbiträr (und natürlich tendenziös).


    Ja, das ist richtig, Christian, aber ich wollte damit keine Wertung im Sinne eines "Was die Mittelalten nicht mehr wußten..." aussprechen.


    Mir ist hier an Bernds fachlicher Einschätzung gelegen, ob das, was wir beide, Christian, als Alte Philologen und Historiker wahrnehmen, auch in der Ikonographie, der Emblematik, sozusagen der "Vergleichenden Sinn-Bilder-Wissenschaft" konstatiert wird.


    Ich kann mich gut an die Bücher der Lückes erinnern, die aus kunsthistorischer Perspektive eine respektable Darstellung auch der entlegenen antiken mythologischen Bezüge im Handbuchformat geboten haben. Da habe ich mich (als dezidierter "Unkünstlerischer") mit einigen "Schlangenlinien" der Rezeption vertraut machen können, und ich muß, wie Christian, sagen, daß mich das manchmal sehr gewundert hat! Aufklärung erbeten, von wem auch immer.


    Denn, wie Christian bereits angedeutet hat..

    Zitat

    Die Schlangenmotivik in der Wiege bzw. im Zusammenhang mit Geburten hatte in der Antike andere Konnotationen als die der Sünde bzw. der Finsternis. Eher sollte eine Gottähnlichkeit, womöglich gar eine Gottesabstammung insinuiert werden (etwa für Scipio); die Schlange dient dabei als Symbol der Gotteszeugung, als Verkörperung des Zeus/Jupiter.


    ...ist das Zeitenüberdauern bestimmter Figuren oder Figurenkomplexe mit regelrechten Identitätswechseln verbunden gewesen, so daß man sich fast fragen muß, auf was überhaupt noch angespielt werden kann mit den Zitaten...?


    Zitat

    (von Johannes Roehl) ...der Witz der Heilsgeschichte und damit des ausdrücklich nicht-periodischen Zeitverlaufs ist doch gerade, daß es sich um eine Geschichte, also eine Abfolge, nicht eine Gleichzeitigkeit handelt. Vermutlich muß daß dann mit der Ewigkeit/Zeitlosigkeit Gottes zusammengereimt werden und dann kommt es zu solch paradoxen Ideen...


    Ja, die eigentliche Dichotomie besteht zwischen linearen und zyklischen Zeitvorstellungen. Man kann in Wolfgang Reinhards "Lebensformen Europas" einen gut recherchierten kleinen kulturgeschichtlichen Überblick auch für Nichttheologen finden. Die Synchronie bestimmter Ereignisse wird innerhalb der linearen Systeme begriffen werden müssen und steht nicht eigentlich im (kontradiktorischen) Gegensatz zu diesen, nur im konträren (oder subkonträren). Aber das führt uns etwas weg vom Buntstiftthema...


    Alex.

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl


    Ja, das ist richtig, Christian, aber ich wollte damit keine Wertung im Sinne eines "Was die Mittelalten nicht mehr wußten..." aussprechen.


    Mir ist hier an Bernds fachlicher Einschätzung gelegen, ob das, was wir beide, Christian, als Alte Philologen und Historiker wahrnehmen, auch in der Ikonographie, der Emblematik, sozusagen der "Vergleichenden Sinn-Bilder-Wissenschaft" konstatiert wird.


    Ging mir genauso, sollte auch nur ein zugegeben etwas einseitiger Anstoß zu genau dieser Parallele sein.



    Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Aber das führt uns etwas weg vom Buntstiftthema...


    Alex.


    So ist's, daher auch nichts weiteres von mir zum für mich nicht überschaubaren Bach-Fundus.


    LG,


    Christian

  • Auf was hab ich mich hier mit ein paar harmlosen Spekulationen nur eingelassen... :D Ich entschuldige mich für meine weitschweifigen und abschweifenden Ausführungen vorweg schon mal bei allen, die in erster Linie wirklich an dem engeren Thema des Threads interessiert sind.



    Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Und es wurde in dieser Hinsicht tatsächlich manchmal ein wenig "mit den Augen gedacht", zum Beispiel war es verhältnismäßig nebensächlich (womöglich oft auch nicht bekannt), daß Herakles einige Male (nach griechischem Empfinden selbstverständlich) "entsühnt" zu werden hatte, die bildhafte Parallele der in der Wiege gemeuchelten zwei Schlangen durch den Knaben war einfach schlagender in manchem Zusammenhang, das denke ich auch.


    Ganz wichtiger Hinweis, lieber Alex. Das "Denken mit den Augen" ist ein im (Achtung Kampfbegriff! :D) logozentrischen Weltbild seit der Antike weithin unterschätztes und gern abqualifiziertes Phänomen.



    Zitat


    In der Emblematik des Barock sogar häufig anzutreffen, die Frage in unserem Zusammenhang wird aber sein, wie heterogen und wie entlegen die "unterschiedlichen Bedeutungsebenen" sein können. Und wie kodifiziert sie erscheinen mußten, um als gültig angesehen zu werden.


    Das System der Typologie war ein altehrwürdiges, auf allen Komplexitätsstufen gebräuchliches Denkschema. Und gerade dort gibt es (schon lange, bevor so etwas wie Emblematik existiert) solche "Arbeitsteilungen" zwischen Wort und Bild.



    Zitat

    Die relative Arbitrarität solcher Systeme - in Richtung auf das Material, das sie benutzen - erschreckt mich aber beinahe manchmal, lieber Bernd, so wenig ich mich darin sicher auch zurechtzufinden weiß, und ich würde gern mehr von Dir darüber hören, denn letztlich scheint mir hier nicht allein die Kompetenz der Späteren im Umgang mit den Bezügen, sondern diese selbst in ihrer Plausibilität und damit wohl auch Funktionalität zur Debatte zu stehen. Gab es eigentlich irgendwen oder irgendwas, der oder das als völlig unbrauchbar zur Abbildung, Spiegelung, Verdeutlichung, „Umlenkung des Sinns“ empfunden wurde? Irgendeinen Themenkomplex sogar?


    Meines Wissens nicht. Es gibt berühmt-berüchtigte Beispiele wie die Bible moralisée aus dem 13. Jahrhundert: Hier wird in tausenden von Bildern das Alte Testament durcherzählt - und zu jedem Bild gibt es einen Antitypus: Da das Neue Testament bei weitem nicht genug Stoff liefert, wird alles assoziiert, was nicht niet- und nagelfest war: Hagiographie, Mythologie, Natur- und Alltagsgeschichte usw. Sehr häufig aufgrund irgendwelcher ganz kruden Parallelen, nicht selten eben auch wegen rein bildlicher Übereinstimmungen.


    Kritik an solch exzessiven Verfahren hat es schon im Mittelalter gegeben, auch Luther wollte die Typologie auf einen Kernbestand begrenzen. Die schärfste explizite Kritik, die ich kenne, stammt von Nietzsche, der den "Beziehungswahn" dieser Systeme geißelte (das genaue Zitat müsste ich raussuchen). Natürlich war das typologische Denksystem nie ohne Konkurrenz, heute wird es selbst innerhalb des Katholizismus nur noch sehr vorsichtig gehandhabt.


    Ich habe oft eine gewisse Faszination dafür empfunden, weil gerade das "wilde" und das "bildliche" Assoziieren Wege eröffnet, die sich abseits der kanonischen Denkströme verzweigen und zu überraschenden Erkenntnissen führen können. Damit wären wir wieder bei der Irregularität des "Denkens mit den Augen".



    Zitat

    Ich empfinde es nämlich als erlaubt, sich wie Manuel Garcia Gedanken um die Stimmigkeit solcher um jeden Preis als Allusionen hervorscheinender Stellen in Bachs Musik zu machen.


    Volle Zustimmung! Ich habe nur versucht, zu erklären, wie es möglicherweise (!) überhaupt soweit kommen konnte.



    Zitat

    Original von Il Grande Inquisitor
    Insbesondere die christliche Rezeption hat in diesem Zusammenhang Transformationen geschaffen, die auf "bildhaften Parallelen" beruhen. Die Schlangenmotivik in der Wiege bzw. im Zusammenhang mit Geburten hatte in der Antike andere Konnotationen als die der Sünde bzw. der Finsternis. Eher sollte eine Gottähnlichkeit, womöglich gar eine Gottesabstammung insinuiert werden (etwa für Scipio); die Schlange dient dabei als Symbol der Gotteszeugung, als Verkörperung des Zeus/Jupiter.


    Daher ist die Umdeutung des Herakles-Mythos besonders problembehaftet und einseitig, oder, wie Alex es ausdrücken würde, arbiträr (und natürlich tendenziös).



    Natürlich ist diese Umdeutung arbiträr und tendenziös. Das gilt noch stärker für die gesamte Vereinnahmung der jüdischen Religion durch das Christentum in Form des "Alten Testaments" und seiner christologisch-typologischen Exegese, die fast sämtliche ursprünglichen Kontexte zerstört.


    Aber es handelt sich nun mal um theologisch-hermeneutische Verfahren - und die sind immer arbiträr und häufig tendenziös. Essentiell sind sie allenfalls für die Gläubigen.


    Wie bereits oben gesagt: Es käme darauf an, "Transformationen, die auf bildhaften Parallelen beruhen" nicht herabzuwürdigen, sondern in ihrer enormen Relevanz für die Ideen- und Realgeschichte zu erforschen.



    Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Das bestreitet ja niemand, daß die das wußten. Damit wird aber nur erklärt, warum überhaupt hier die Parodiemöglichkeit halbwegs sinnvoll besteht. Wenn man das nun aber so zusammenbastelt, daß sich, obwohl inzwischen von Christus (als Bräutigam, nicht als Sieger über Satan) immer noch die Schlangen um die Wiege des Herakles winden, wird es m.E. völlig beliebig, weil der Hörer des WO doch die Urform nicht kennen können muß.

    Damit kriegt man alles hin und es wird verwunderlich, warum nicht in jedem zweiten Stück der Matthäuspassion schlängelnde Figuren vorkommen. ;) Sie handelt schließlich von Christus, damit besteht eine Beziehung zu den Schlangen des Herakles (und den Kranichen des Ibykus, denn der Pelikan ist auch ein Stelzvogel und diente als Sinnbild Christi, weil man meinte, daß er seine Brut vom eigenen Blut nährt und, und und). So wird Auslegung zur Parodie, man assoziiert alles mit allem und damit Beliebiges...


    Ich habe ja nur versucht, in Form einer Hypothese nachzuvollziehen, an welchen Denksystemen sich Bach und Picander möglicherweise (!) bei der Herstellung ihrer Parodien bewegt haben. (Dem Satz "So wird Auslegung zur Parodie" haftet im Lichte des Begriffs "Parodieverfahren" übrigens eine gewisse Folgerichtigkeit an... ;)) Die Kritik am Verfahren ist natürlich legitim und (das hast Du selbst ja schon weiter oben betont) träfe - wenn ich denn Recht haben sollte - nicht unbedingt mich, sondern Bach und Picander bzw. die Denksysteme, in denen sie sich bewegt haben. Dass dem Ganzen etwas Gewaltsames, ästhetisch Unbefriedigendes, aus der Not Geborenes anhaftet, konzediere ich sofort.


    Die Frage, wer das überhaupt verstanden haben kann, ist natürlich legitim. Aber so wichtig ich den Aspekt der Rezeption grundsätzlich finde - nicht alles muss in ihm aufgehen.



    Zitat

    Puh, ja Theologen und Zeit, da hätte ich wissen sollen, daß ich da nicht hinwollte, denn da versteht man ebenfalls überhaupt nichts mehr ;)
    (Verstehe ich wirklich überhaupt nicht, der Witz der Heilsgeschichte und damit des ausdrücklich nicht-periodischen Zeitverlaufs ist doch gerade, daß es sich um eine Geschichte, also eine Abfolge, nicht eine Gleichzeitigkeit handelt. Vermutlich muß daß dann mit der Ewigkeit/Zeitlosigkeit Gottes zusammengereimt werden und dann kommt es zu solch paradoxen Ideen... als ob Zeit nicht ohne das schon schwierig genug wäre!



    Stimmt, eigentlich ist wirklich der lineare Zeitverlauf das Bemerkenswerte an der Zeitauffassung der christlichen (und jüdischen) Religion. Aber ich hab's nochmal nachgesehen: entsprechende Belegstellen finden sich nicht bei Origenes, sondern bei Augustinus und Honorius Augustodunensis und sind während des ganzen Mittelalters und auch danach verbreitet. Auf solche Gleichzeitigkeit wird besonders in der Liturgie abgehoben, bedingt durch die Kumulation verschiedenster Ereignisse an bestimmten Festen des Kirchenjahres. Die Legenda Aurea aus dem 13. Jahrhundert benennt diese Gleichzeitigkeit in einem Gedicht zum 25. März folgendermaßen: Hodie [...] Angelus est missus, est passus in cruce Christus / est Adam factus et eodem tempore lapsus [...]


    Ich lege übrigens Wert darauf, dass ich kein Theologe bin :D (falls dieser irrige Eindruck entstanden sein sollte).



    Zitat

    zum Arioso "Am Abend, da es kühle war": Ebendiese Einheit und Schlüssigkeit vermisse ich völlig bei der erhaltenen Schlange, die auf den offensichtlichen Text und Affektebenen keine Entsprechung mehr hat, sondern nur noch über zwei stillschweigend implizierte Assoziationsstufen.


    Es hat aber schon immer (zumindest in Wort und Bild) nicht nur die "explizite" Typologie gegeben, bei der die Elemente tatsächlich nebeneinandergestellt werden, sondern auch die "implizite" Typologie, bei der man aus einer Darstellung z.B. einer alttestamentlichen Szene den Bezug zu Christus herauslesen musste. Das gilt übrigens auch für Herkules-Bilder des 17. Jahrhunderts (etwa von Guido Reni), in denen der Christus-Bezug zwar deutlich, aber eben doch nur implizit enthalten war.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Ich gestehe allerdings für mich selbst gern, daß es besonders die nicht allzu dezidiert lautmalerisch konzipierten Arien Bachs sind, die mich tief zu rühren vermögen. Das „Stirb in mir“ in der 169er „Gott soll allein mein Herze haben“ zum Beispiel – und ich bin gespannt, ob nicht doch jemand auch darin noch Lautsymbolik oder Lautmalerei erkennen kann, ohne freilich übermäßig beliebig zu interpretieren?


    Lieber Graf,


    ich finde es ja sehr interessant, dass Du ausgerechnet diese Kantate bzw. Arie nennst. Zum einen liebe ich sie auch besonders. Zum anderen ist sie in unserem Diskussionszusammenhang aus zwei Gründen von besonderem Interesse:


    1. sie ist eine Parodie. Insgesamt ist die Kantate in ihren wesentlichen Teilen eine "Transkription" des Klavierkonzerts in E-Dur, BWV 1053, in der einleitenden Sinfonia als "Orgelkonzert", in der von Dir genannten Arie "Stirb in mir" ist es der 2. Satz, mit hinzugefügter Gesangsstimme und transponiert von cis nach h.


    2. Die Arie "Stirb in mir" nennt Dürr einen "Grabgesang für die Lust der Welt. Allein welch ein Grabgesang! Und welch eine schwärmerische Versenkung in die Himmliche Liebe...". Diesem von Bach neu komponierten Grabgesang fügt Bach seinen alten Konzertsatz zu. Das bestimmende Moment im Konzertsatz ist ein ständig wiederkehrender Rhythmus, den ich oben bereits beschrieben habe: eine "typische Engelsfigur, immer drei achtel (punktierte 1/8, 1/16, 1/8 ). Diese Figur findet man als Engelsmusik z.B. in der Sinfonia des Weihnachtsoratoriums, aber ähnlich auch in der Pifa bei Händels Messias", aber auch in einigen Kantaten, wenn es um die schwebenden Engel geht.


    Den Textbezug zu dem Engels- und Himmelsbild findet man im vorangegangenen Recitativ:


    Was ist die Liebe Gottes?...
    Der Seelen Paradies,
    sie schließt die Hölle zu,
    den Himmel aber auf;
    sie ist Elias Wagen,
    da werden wir den Himmel nauf
    in Abrahms Schoß getragen.


    So kann Bach mit seiner Musik den aufforderdem Text


    Stirb in mir, Welt und alle deine Liebe,
    ...
    Stirb in mir, Hoffart, Reichtum, Augenlust,
    Ihr verworfnen Fleischestriebe.


    überlagern mit einem kontrastierendem Bild des Zieles dieses Absterbens, eines himmlischen, von Engeln umschwebten Seins.


    Der sonst nicht so schwärmerische Alfred Dürr bewertet diese Arie folgendermaßen: "Diese Arie darf als einer der treffendsten Belege dafür gelten, wie ein Satz durch die Hinzunahme in ein neues Werk und seine Umarbeitung nicht verlieren, sondern gewinnen kann: Die Neufassung ist weit über den originalen Konzertsatz hinausgewachsen und gehört unzweifelhaft zu den genialsten Gesangssätzen, die je geschrieben wurden".


    Du siehst also, gerade diese Arie zeichnet sich durch eine besondere Übereinstimmung des Inhalts mit dem verwendeten musikalischen Bild aus. Sie ist nicht nur besonders anrührend, ohne dass man sich eines Bildes bewußt ist, sondern m.E. erst recht dann, wenn man die Bilder wieder erkennt.



    Lieber Bernd,


    Deine Deutungen fand ich äußerst interessant. Ich liebe ja das Weihnachtsoratorium mit allen seinen Teilen, und solche Assoziationen mögen einem die Ohren öffnen zur einem Verständnis auch der von mir genannten Parodie-Arien. Ein solches assoziatives Herangehen halte ich für total legitim, mag die Assoziation auch ziemlich ferne liegen, subjektiv kann sie bereichern. Allerdings, meine eigentliche Frage konntest Du nicht beantworten. Zwischen den von Bach z.B. in der Arie "Bereite dich Zion" wiederverwandten Bildern und dem Text tuen sich für mich immer noch ins Auge springende, nicht auflösbare Widersprüche auf. Wie Konnte Bach solche Widersprüche produzieren? Und wenn ich mit der Widersprüchlichkeit recht habe, wie war dann Bachs Verhältnis zu seinem kirchlichem Publikum, dass er ihm im Einzelfall auch mal derartiges zumutete?


    Oder sind vielleicht unsere Erwartungen an unsere "Idole", ständig und ausschließlich nur geniales zu produzieren, einfach weltfremd und unsere Bereitschaft, weniger Gelungenes mit weit hergeholten "Erklärungen" zu legitimieren, ziemlich sinnlos?


    fragt sich Euer
    Manuel García
    ;( ?(

  • Lieber Manuel García,


    ich kenne Dürrs Ausführungen zu "Stirb in mir" (ebenso wie seine hymnischen Bewertungen der Komposition dieser Arie, durch die ich überhaupt so recht erst auf das Werk gestoßen bin). Du hast wichtige Stellen aus dem Dürr zitiert. Nur, gestatte mir, im Anschluß an Deine Numerierung, zwei Fragen an Dich und alle anderen, die ihren Bach kennen:


    1. In welcher Beziehung steht das Parodieverfahren, das ja in seinem weiten Sinne neutral jede Wieder- resp. Weiterverwednung bereits dagewesenen Materials meint, zu Lautmalerei und Lautsymbolik wirklich? Freilich lassen sich so "dialogische Sequenzen" innerhalb des Werkzusammenhangs eines Komponisten herstellen und selbstverständlich "interagieren" (man sehe mir diese schwammige Formulierung nach, ich wollte sie so weit wie möglich haben) auch die außermusikalischen, stofflichen Thematiken der so verküpften Werke. Wir dürfen aber nicht bachianas Ausgangsanliegen aus dem Blick verlieren, das sich, so wie ich es verstanden habe, an dem Verhältnis von "Malen" und dem Stoff eines Werkes orientieren wollte. Ich finde das, ehrlich gesagt, auch kompliziert genug und vermute, daß mit der Hinzunahme weiterer und der Funktion nach als bekannt vorausgesetzter Werkparallelen eher einem Weiterreichen von Topoi wie "Hier liegt ja wieder das Soundsomotiv vor, das wir dortundda schon hatten" Vorschub geleistet wird. So wird ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt durch Hinzuziehen eines anderen (eigentlich genauso erläuterungsbedüftigen, aber in seiner Erschließung als gegeben vorausgesetzten) musikalischen Stoff-Form-Zusammenhangs gestützt - zumindest scheint es mir als Nicht-Barock-Experten so. Liege ich da falsch?


    2. Ist die motivische Zugehörigkeit bestimmter Figuren zu einem bestimmten Aussagezusammenhang bereits ein (musikalisches) "Bild" zu nennen?


    Zitat

    (von Manuel García) Du siehst also, gerade diese Arie zeichnet sich durch eine besondere Übereinstimmung des Inhalts mit dem verwendeten musikalischen Bild aus.


    Genau damit habe ich meine Schwierigkeiten. Welches "musikalische Bild" wird hier geboten? Kann man wirklich bei jeder Thematik, die sich herauskristallisiert, gleich von "Bild" sprechen? Ist das nicht eine zu weiche Verwendung des Begriffes? Ich frage offen, obgleich ich meine Bedenken nicht verhehle. Denn welch einen Wust von sich gegenseitig überlagernden "Bildern" hätten wir, wenn wir so hochkomplexe und aus sovielen ihre Geschichte mit sich tragenden Motiven bestehende Werke wie eine (freilich nicht mehr der Zeit zugehörende) Haydnsymphonie oder aber eine komplexe Instrumentalkomposition des späten Barock aus diesem Gesichtspunkt "lautmalerisch" betrachteten? Welche Beziehungen sind nachvollziehbar, welche grenzen an Beliebigkeit?


    Kann man ein Abstraktum wie den Tod selbst wirklich "malen"? Oder die Gottzugewandtheit der eigenen Seele? Wie läßt sich soetwas symbolisieren und wieviel Anschluß an die in der natürlichen Welt vorfindlichen Konkreta mag dabei nötig werden? Denn auch die bildenden Künste können ja - es sei denn in Personifikationen - keine Abstrakta direkt aufweisen und "benennen". Wiese, Wasserfluß und Wetter, dies alles mag in Kompositionen "gemalt" werden können. Aber ein "Stirb in mir"? Wieviel Vermittlungsarbeit der Sprache wird hier aufzuwenden sein und wie gut oder schlecht funktioniert Lautmalerei in nicht-vokalen Werken (wie den mit BWV 169 zusammenstehenden Konzerten)? Zu guter Letzt: Ist Lautsymbolik eine Fortführung der Lautmalerei in Hinblick auf sonst nicht anders darstellbare Abstrakta, die allenfalls symbolisiert werden können und damit immer auch über mehrere Instanzen vermittelt werden müssen?


    Vieles, das mir unklar ist. Ich spüre lediglich, das der Bildbegriff und mit ihm die Begriffe der Lautsymbolik und der Lautmalerei aus Bedenken, die ich eben ansatzweise zu umreißen versuchte, selbst in der "visuellen Musik" des Barock vorsichtig gebraucht zu werden verdienen, da sie sonst viel von ihrer (unmittelbaren) Plausibilität und Anwendbarkeit einbüßen könnten.


    Womöglich sehe ich aber auch Entscheidendes noch nicht.


    Euer Alex.

  • Zitat

    Original von ZwielichtAuf was hab ich mich hier mit ein paar harmlosen Spekulationen nur eingelassen... großes Grinsen Ich entschuldige mich für meine weitschweifigen und abschweifenden Ausführungen vorweg schon mal bei allen, die in erster Linie wirklich an dem engeren Thema des Threads interessiert sind.


    Also, zumindest bei mir muss sich hier keiner entschuldigen, ich find's superspannend, was sich hier tut! :yes:


    Deswegen hab ich auch meistens nix gegen off-topic, zumindest solange es immer noch loosely-connected-with-topic ist, den es führt oft zu den interessantesten Diskussionen. Zu schade, dass ich grade auf dem Sprung in die Oper bin, hoffentlich kann ich morgen noch ein bisschen mehr schreiben!


    Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Wir dürfen aber nicht bachianas Ausgangsanliegen aus dem Blick verlieren, das sich, so wie ich es verstanden habe, an dem Verhältnis von "Malen" und dem Stoff eines Werkes orientieren wollte. Ich finde das, ehrlich gesagt, auch kompliziert genug und vermute, daß mit der Hinzunahme weiterer und der Funktion nach als bekannt vorausgesetzter Werkparallelen eher einem Weiterreichen von Topoi wie "Hier liegt ja wieder das Soundsomotiv vor, das wir dortundda schon hatten" Vorschub geleistet wird. So wird ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt durch Hinzuziehen eines anderen (eigentlich genauso erläuterungsbedüftigen, aber in seiner Erschließung als gegeben vorausgesetzten) musikalischen Stoff-Form-Zusammenhangs gestützt - zumindest scheint es mir als Nicht-Barock-Experten so. Liege ich da falsch?


    Mhmm, ich bin selber schon ins Grübeln gekommen, wie ich meinen ersten Post gemeint habe. Zunächst habe ich wohl tatsächlich an ganz simple musikalische Bilder gedacht, die auch für den nicht vorgebildeten Hörer leicht zu entschlüsseln sind.


    Nun aber scheint mir, muss man differenzieren zwischen diesen und den musikalischen Chiffren, die sich vielleicht nicht sofort erschließen, den Bachschen Zeitgenossen aber geläufig waren. Wie eben z.B. die von mir schon erwähnten absteigenden Chromatiken, die, wie jedem damals sofort klar war, eine Klage ausdrückten.
    Diese Bilder erschließen sich meiner Meinung nicht so schnell, wenn man mit den damals üblichen Konventionen vertraut ist. Zu solchen dürften wohl auch die ins Feld geführten triolischen Figuren gehören, die wohl nicht nur mit den Engeln, sondern wie ich zumindest glaube, mit Schäfern/Pastoralen in Verbindung gebracht wurden.


    Ich nehme an, dass diese typisch barocken Stilmittel für das Parodieverfahren eine größere Freiheit boten, da sie wesentlich umzudeuten waren, als die sehr spezifischen Bilder, auf die ich mich anfangs bezog.


    Nun sind die Grenzen natürlich fließend, und einzelne Arien mögen mehr dem einen und andere wieder mehr dem anderen Typus zuzuordnen sein.
    Dadurch, dass aber jede Arie einem bestimmten Affekt verpflichtet ist, ist es im Prinzip immer möglich, eine mehr oder weniger konkrete Bildhaftigkeit in die Arie hineinzulesen. Das halte ich für legitim und meist sicher auch für lohnend, auch wenn ich Alex recht geben muss, dass man sich überlegen sollte, ob man dan überhaupt noch von einem Bild im engeren Sinne sprechen möchte.


    Sorry, ich muss mich jetzt wirklich fertigmachen, daher muss ich jetzt etwas unvermittelt abbrechen. Hoffentlich morgen etwas mehr an dieser Stelle! Am liebsten an konkreten Beispielen, dann kann ich mir bei Gelegenheit mal die passende Musik dazu besorgen!


    Schönen Abend!



    Kerstin

  • Zitat

    Original von bachiana
    Zu solchen dürften wohl auch die ins Feld geführten triolischen Figuren gehören, die wohl nicht nur mit den Engeln, sondern wie ich zumindest glaube, mit Schäfern/Pastoralen in Verbindung gebracht wurden.


    Liebe Kerstin,


    sieh Dir dazu noch mal die Sinfonia aus dem Weihnachtsoratorium an. Sie stellt das gemeinsame Musizieren der Engel mit den Menschen dar. Geigen und Flöten sind die Engel, sie zeigen dieses "triolische" Engelsmotiv, das Du auch in anderen Kantaten, so in BWV 19 auf den Text "Bleibt ihr Engel bleibt bei mir", finden kannst. Die Hirten sind die Oboen ("Schalmeien"), deren Motiv ist ganz anders. Auch hier treten punktierte "Triolen" auf, allerdings synkopisiert, wodurch sie ganz anders als die Engelsmusik klingen. Im Weihnachtsoratorium wiederholt sich das noch einmal im Choral "Wir singen dir in deinem Heer". Im vorangegangenem Recitativ singt der Tenor: "... Auf denn! wir stimmen mit Euch ein, uns kann es so wie Euch erfreuen". Genau das geschieht dann. Die Engel singen den Choral (auf die Melodie "Vom Himmel hoch"), sie werden im Bass von den "Engelstriolen" begleitet. Die Zwischenspiele bestreiten "wir", also die Hirten mit ihrem aus der Sinfonia bekannten Motiv.


    Gruß! Manuel Garcia

  • Guten Abend


    Bach hat ja bekanntlich G.B. Pergolesis gerühmte Komposition "Stabat mater" als Psalmvertonung "Tilge, Höchster, meine Sünden" (BWV 1083) bearbeitet. Eigentlich liegen Welten zwischen Werken eines aus dem sonnigen und katholischen stammenden Komponisten und denen eines protestantischen Kantors in Leipzig. Bach hat es aber verstanden, durch eine geschickte Anpassung des Textes eine gelungene "deutsche" Fassung zu erstellen.
    Der gerne mit versteckten Zahlenspielen arbeitende Bach hat Pergolesis Musik so eingeteilt, das 14 Sätze entstehen. Die 14 ist eine Zahl die der Summe der Buchstabenpositionen des Namens B-A-C-H im Alphabet entspricht. Zufall oder gewollt ?


    (Eine Einspielung des Psalmes 51 enthält diese



    Aufnahme mit T. Hengelbrock und dem Balthasar-Neumann-Ensemble )


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard