Was suche ich in der Musik - und wo finde ich es?

  • Hallo,


    ein schönes Thema! Ich musste mit dem Mitmachen warten, weil wir an gemeinsamen freien Tagen eher die Musik meines Mannes hören (Jazz und Blues), denn er hat weniger Aufenthaltszeit zu Hause.
    Aber nun ist er auf einem Konzert und ich kann meine Liste zusammenstellen:


    Transzendenz
    Thomas Tallis: spem in alium

    Klassische Musik ist für mich in vielen Stücken ein Zugang zur Transzendenz, besonders in den religiösen Werken, obwohl ich selbst nicht gläubig bin, den Tallis habe ich gewählt, weil man in dieser 40stimmigen Motette meint, auf den Flügeln der Stimme ins All zu fliegen.


    Sehnsucht nach Harmonie
    Vivaldi: Per eco in lontano, enthalten auf dieser CD

    Dieses Stück liebe ich , weil sich zwei Geigen miteinander unterhalten -auf der Bühne und hinter der Bühne: Das hat etwas von den zwei Königskindern, die nicht zueinander kommen können und dennoch perfekt miteinander harmonieren.
    Vivaldi wird für mich mit am besten interpretiert von Fabio Biondi mit seinem Orchester Europa Galante.


    Trost
    Wieder so ein ein sehr religiöses Stück, das mir dennoch Trost gibt, denn es zeigt "Die Ehre Gottes in der Natur", Text Gellert, Vertonung Beethoven: Dieses Stück tröstet mich, wenn ich an Menschen zurückdenke, die ich verloren habe.

    Wunderschön inter pretiert von Stefan genz und Roger Vignoles

  • Weiter geht's:


    Schönheit


    Klassische Musik hat wohl für uns alle auch viel mit dem Empfinden von Schönheit und besonderem Wohlklang zu tun: Das gilt für fast alle Werke, die ich mag, aber insbesondere bin ich immer wieder begeistert von der himmlischen Schönheit von Bachs h-moll-Messe, besonders in dieser Aufführung:



    Zerrissenheit und Hochspannung


    Komisch, aber dazu fälllt mir immer Bruckners Vierte ein, am liebsten mit Günter Wand. Schon als Jugendliche habe ich es so empfunden: Diese Sinfonie hält einen von A bis Z in einer nervenzerfetzenden Anspannung und Ent-spannung gibt sie nie, aber gerade das ist das Geniale. Ich frage mich nur, wie dieser kleine Mann diese Hochspannung und Zerrissenheit seiner unglaublichen Sinfonien hat durchhalten können?!


    Frohsinn


    Hier könnte man das Meiste von Vivaldi nennen, ich will aber einen anderen italienischen Komponisten hervorheben: Pietro Locatelli
    Seine Violinkonzerte,besonders die schnellen Sätze von op. 3, Nr. 1 und Nr. 10 vertreiben jeden Trübsinn und hellen auch den melancholischsten Novembertag auf. Mir am liebsten mit dem Barock-Spezialisten: Giuiliano Carmignola:



    Das soll erstmal genügen!


    Grüße
    tukan

  • Ich mache jetzt erst einmal meine zehn Nominierungen voll, und zum Jahresausklang bewusst mit zwei provozierenden Nominierungen:


    Angenehme Geräuschkulisse - J. S. Bach: Orchestersuiten und Brandenburgische Konzerte



    Ich weiß, ich weiß! Bach kann und sollte man nicht nur im Hintergrund hören, denn er verdient und verträgt die volle Aufmerksamkeit, die ich ihm früher auch bei diesen Werken gewidmet habe, bis mein Unterbewusstsein sie fast auswendig konnte. Diese großartigen Orchesterkompositionen stecken aber nicht nur voller schöner Entdeckungen und Wendungen, sondern sind auch sehr angenehm zu hören und in ihrer ebenmäßigen Strukturiertheit von einer ausgesprochen beruhigenden Wirkung, die für mich das Schönste nach der totalen Stille ist. Ich meine die Nomnierung also höchst positiv, und das schließt die - für mich nach wie vor maßstabsetzenden - Interpretationen durch Trevor Pinnock und sein English Concert ein, die damit keineswegs zu einer Nähmaschinenmusik herabgewürdigt werden sollen - ganz im Gegenteil.



    Fortschritt - Stephen Sondheim: Company oder Sweeney Todd-The Demon Barber of Fleet Street


    und


    Fortschritt in der Musik als Selbstzweck gibt mir wenig, denn für mich ist Musik vor allem ein Medium des emotionalen Ausdrucks mit den Mitteln der Kontruktion. Dies gelingt für mich besonders gut, wenn mehrere Ausdrucksformen auf höchstem Niveau zusammenkommen, etwa Musik, Sprache und Darstellung, wie in den progressiven Musicals Stephen Sondheims, der es bislang fast immer schaffte
    (das umstrittene Musical BOUNCE kenne ich noch nicht), mit einem neuen Werk auch Vokabular und Grammatik seiner Musiksprache zu bereichern und ihr neue Horizonte zu erschließen. Natürlich wäre deshalb eigentlich das Gesamtwerk zu nennen, weshalb ich zunächst versucht war, diese Aufnahme anzuführen, die ich aber nicht besitze, weil ich so gut wie alle Originale habe, aus deren Ausschnitten sie zusammengestellt wurde:



    Sie gibt einen vorzüglichen und sehr reichhaltigen Überblick über die Entwiclung Sondheims vom genialen Librettisten der WEST SIDE STORY bis zu seinen jüngsten Werken.


    Für die Zwecke dieses Threads mit seiner Begrenzung auf ein einzelnes Werk konnte ich mich einfach nicht entscheiden zwischen COMPANY, mit dem Sondheim den kühnen Durchbruch zu einem ganz eigenen Stil fand, und SWEENEY TODD, seinem bis heute (erfolgreich) kühnsten Werk. Natürlich beziehe ich mich dabei nicht auf die Verfilmung mit Johnny Depp, die Sondheim zwar visuell gerecht wird, aber die Musik ruiniert, ganz anders als die Aufführung mit George Hearn und Patti LuPone, die in San Francisco aufgezeichnet wurde und visuell wie musikalisch den besonderen Stärken des Werkes gerecht wird, ohne seine Kühnheit in einer soften Orchestrationssauce zu verstecken.


    Eigentlich hätte ich auch ein anderes Werk Sondheims nennen können. Dafür aber müsste ihm öfter Gelegenheit gegeben werden, statt HÄNSEL UND GRETEL als Weihnachtsaufführung für Kinder abzulösen - nicht um Humperdinck zu verdrängen, sondern als Abwechslung - um zu zeigen, dass man auch mit den Mitteln der letzten Jahrhundertwende ein nicht nur mitreißendes, sondern auch noch
    höchst intelligentes Märchen auf die Bühne stellen kann. Dazu sollte man es allerdings nicht nur hören, sondern - am besten in der originalen Broadwayaufführung - auch sehen:




    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von rappy
    Achja: in der Winterreise Trost zu finden, finde ich aber erklärungsbedürftig! ;) Der Zyklus endet ja nicht gerade positiv...


    Ich kann in sehr positiver Musik keinen Trost finden. Das ist wahrscheinlich von Mensch zu Mensch verschieden, aber fröhliche Musik wie Haydn oder "erhebende" Musik wie Strauss kann ich nur hören, wenn ich gerade besonders guter Laune bin, ansonsten geht sie mir wahnsinnig auf die Nerven. Dunkles geht immer, in der Dunkelheit kann ich mich zurückziehen, geborgen fühlen und regenerieren, und eben den Trost finden, den ich im grellen Licht nicht sehe.


    Abgesehen davon hat die Winterreise für mich ein positives, optimistisches Ende. Die Tragödie geschieht vorher, den Schluss empfinde ich als sehr versöhnlich.


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Verblüffung



    Ich habe lange nach dem Wort gesucht, das ausdrückt, was ich empfand, als ich diese Version meines langjährigen Lieblings-Musicals zum ersten Mal hörte, weil sie so grandios war.
    Als ich dann die dazugehörige DVD



    erwarb und das Ganze sah und hörte, war es


    Jubel


    LG


    Kristin

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  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich kann in sehr positiver Musik keinen Trost finden. Das ist wahrscheinlich von Mensch zu Mensch verschieden, aber fröhliche Musik wie Haydn oder "erhebende" Musik wie Strauss kann ich nur hören, wenn ich gerade besonders guter Laune bin, ansonsten geht sie mir wahnsinnig auf die Nerven.


    Du hast wohl Recht, auch ich finde in Haydn und Strauss keinen Trost. Kommt eben drauf an, in welchem Zustand man sich befindet. Zu meiner "Standard-Laune" passt am besten die von dir erwähnte Musik, Schubert dagegen kann ich nur in etwas gedrückter Stimmung wirklich genießen.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von rappy
    Du hast wohl Recht, auch ich finde in Haydn und Strauss keinen Trost. Kommt eben drauf an, in welchem Zustand man sich befindet.


    ...oder welches Werk man hört. Die Militärsinfonie finde ich auch untröstlich... versuch's aber mal mit den "Sieben letzten..." [in der StrQ-Fassung] oder dem Largo aus op. 76 Nr. 5 [Lindsays].


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Ausnahmen bestätigen die Regel :pfeif:

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould


  • Lieber Martin, den ersten Teil deines statements kann ich voll unterschreiben, das geht mir ebenso. Es ist wie in der Hömöopathie bei mir: Gleiches muss mit Gleichem geheilt werden- also Traurigkeit mit trauriger Musik.


    Allerdings hat für mich die Winterreise alles Andere als ein positives Ende- was mich aber üiberhaupt nciht stört, im Gegenteil.
    Aber das ist wohl hier in diesem Thread eher Off-topic.


    F.Q.

  • Mir fällt es schwer und leicht zugleich, etwas hier beizutragen, denn ich suche nichts in der Musik.


    Sie ist einfach da, 24 Stunden am Tag.


    Egal, ob ich traurig oder fröhlich bin, müde oder ausgeruht, die Musik ist immer da, jeden Tag eine andere Endloschleife im Kopf, andere Probleme, Lösungen, Glücksmomente und Niederschläge.


    Es passiert alles gleichzeitig und meistens kann ich, was vor allem auf der Bühne hilfreich ist, ständig zwischen all diesem hin und herschalten.


    Es sind letztendlich für mich immer alle Empfindungen in der Musik enthalten,in jeder Form von Musik-nicht nur der klassischen, insofern bedeutet Musik für mich das Leben an sich.


    Ohne Musik wäre ich tot, es ist es für mich uninteressant, was ich in der Musik suche, denn zum Glück ist sie gegenwärtig-immer.


    Ob Musik positiv erscheint oder nicht, dies muß jeder versuchen zu lernen, zwischen den Zeilen zu lesen und zu hören und es für sich selber herausfinden.


    Für mich ist jedenfalls Musik einfach das-oder anders gesagt mein- Leben an sich.


    Ich suche nichts und ich werde auch nichts finden, denn ohne Musik wäre ich nur eine leere Hülle, aber diesen Zustand habe ich zum Glück noch nie erlebt, denn die Musik ist wie schon gesagt immer da ,und ohne sie wäre ich verloren.


    Positiv-Negativ, optimistisch oder nicht, Versöhnlich-untröstlich.....ja was denn nun?


    Musik durchfließt, läßt alles zu, je nach Stimmung, Alter, Situation etc.....
    manchmal von einer Sekunde auf die andere.


    Oder sie läßt gar nichts anders zu als die Tatsache, daß sie da ist.
    Das klingt erst einmal unausgegoren, aber wie wäre es denn im Leben, wenn die Musik nicht da wäre?



    Ich erfreue mich an der Musik, weil sie da ist, mit all Ihren Facetten.
    LG,
    Michael

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  • Lieber Michael, lieber Rideamus,


    auch ich bin der Meinung, dass man eigentlich in der Musik nichts zu suchen braucht, sondern eher immer wieder findet, wiederfindet und neu findet.
    Verstiegen möchte man gar manchmal meinen, viele der Emotionen oder Seelenzustände, zu denen sich hier erfreulich offenherzig bekannt wird, ergeben sich, indem bestimmte Musik einen selbst findet.


    Rappys Ansatz, bestimmte Themen oder Stellen, nicht ganze, komplexe Stücke gewissen Stimmungen, Erfüllungen oder Sehnsüchten zuzuschreiben, vermag ich ebenfalls sehr gut nachzuvollziehen.
    So kann ich mir in geeigneten Augenblicken, da es nötig ist nachzuspüren, wie man aus dem Staub zu den Sternen gelangt, eine gewisse Stelle im vierten Satz der Ersten Elgar gerne dreißig mal hintereinander anhören oder auf gleiche, beinahe schon brachial anmutende Weise mich im Flötenvorspiel zu „Ich folge dir gleichfalls“ aus der Johannespassion zu physischem oder geistigen Aufbruch verleiten lassen.


    Und doch hat sich dieser Thread zu einem hübschen CD-Vademecum entwickelt, den ich erst jetzt, nach vollbrachter Weihnachtsarbeit, entdecke.


    Emotionen zu beschreiben ist, was mich angeht, Sache der Literaten, wenn überhaupt, und passende Musik dazu zu finden wohl die der Kryptologen, denn nach einem mir bislang unbekannten Prinzip mit einem nach wie vor ungeknackten Code ändern sich Schlüssel wie Schloss ständig.


    Was ich aber angeben kann sind manche Platten, die mit einschlägigen Tagessituationen in kongenialem Einklang stehen, da sie es regelmäßig, ohne aber natürlich überstrapaziert zu werden, vermögen, diese zu verbessern oder zu unterstützen.


    Hier also mein Senf dazu in chronologischer Reihenfolge:




    Morgenmuffelvertreibung








    Alternativ: Sonntagskaffeegeschmacksverstärker








    Automobiloptimierte und autodidaktikorientierte Dienstwegerleichterung, großer Dienstweg








    Automobiloptimierte und autodidaktikorientierte Dienstwegerleichterung, kleiner Dienstweg








    Mittagstiefausschachter









    Mittagstiefüberbauer








    Nachnachmittagsverpflichtungsrekonvaleszerstreuer








    Koch-und Dasgekochteesshilfe








    Chill-Outer 1








    Chill-Outer 2










    Einen schönen Tag,



    audiamus



    .

  • Lustig -


    Schubert zu Bauernfeld: "Kennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht."

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)