Zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass es zu diesem Werk, einem der unbestritten großen Würfe der Musikgeschichte, noch keinen eigenen Thread gibt.
Das soll sich nun ändern!
Don Juan, Op. 20 ist die zweite Tondichtung des Komponisten Richard Strauss und makiert den Beginn seiner Reifephase. Mit diesem Werk gelang ihm der endgültige Durchbruch und erstmals breite internationale Anerkennung. Die Uraufführung am 11. November 1889 in Weimar war ein großer Erfolg für den gerade 25-jährigen Komponisten. Ursache könnte u. a. sein, dass sich Strauss nun endgültig vom "Brahms-Epigonentum" gelöst hatte und einen eigenen, unverkennbaren Stil erschaffen hat, zudem aber mit Sicherheit auch die Wahl des Programms, das dem lebensbejahenden Naturell des Komponisten weit näher entsteht als beispielsweise das des vorherigen, bis heute eher unerfolgreichen Versuches, dem Macbeth.
Nun, kommen wir zum Werk: Formal handelt es sich wie gesagt um eine Tondichtung in der Nachfolge der Liszt'schen Tradition der sinfonischen Dichtungen, wobei deutlich der Einfluss durch Wagners Tristan zu spüren ist (besonders im ständigen, ununterbrochenen Fluss der Musik und der orchestralen ("Schein-")Polyphonie), von dem Strauss bereits in seiner Jugend eine Partitur besessen hatte, die er eifrig studierte. Oft wird versucht, das musikalische Geschehen in eine Sonatenhauptsatzform oder eine Rondoform zu pressen, wobei mir letzteres am plausibelsten erscheint. Wichtigsteste Grundlage für die Formgebung ist allerdings das Don Juan-Fragment von Nikolaus Lenau. Ich denke, es kann nicht schaden, dieses voranzustellen, ich habe lange danach gesucht.
"Den Zauberkreis, den unermesslich weiten,
Von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten
Möcht' ich durchziehn im Strome des Genusses,
Am Mund der Letzten sterben eines Kusses.
O Freund, durch alle Räume möcht' ich fliegen,
Wo eine Schönheit blüht, hinknien vor jede
Und, wär's auch nur für Augenblicke, siegen.
Ich fliehe Überdruss und Lustermattung,
Erhalte frisch im Dienste mich des Schönen,
Die einzle kränkend schwärm' ich für die Gattung.
Der Odem einer Frau, heut Frühlingsduft,
Drückt morgen mich vielleicht wie Kerkerluft.
Wenn wechselnd ich mit meiner Liebe wandle
Im weiten Kreis der schönen Fraun,
Ist meine Lieb' an jeder eine andre;
Nicht aus Ruinen will ich Tempel bauen.
Ja! Leidenschaft ist immer nur die neue;
Sie lässt sich nicht von der zu jener bringen,
Sie kann nur sterben hier, dort neu entspringen,
Und kennt sie sich, so weiß sie nichts von Reue.
Wie jede Schönheit einzig in der Welt,
So ist es auch die Lieb' der sie gefällt.
Hinaus und fort nach immer neuen Siegen,
So lang der Jugend Feuerpulse fliegen!
Es war ein schöner Sturm, der mich getrieben,
Er hat vertobt und Stille ist geblieben.
Scheintot ist alles Wünschen, alles Hoffen;
Vielleicht ein Blitz aus Höh'n, die ich verachtet,
Hat tödlich meine Liebeskraft getroffen,
Und plötzlich war die Welt mir wüst, umnachtet;
Vielleicht auch nicht; - der Brennstoff ist verzehrt,
Und kalt und dunkel ward es auf dem Herd."
So, nun aber zurück zum Musikalischen. Das Werk steht in E-Dur, wobei es recht ungewöhnlich beginnt: mit rasanten, auftaktigen Sechzehnteln in den Streichern, die in einen strahlenden C-Dur-Akkord (mit Hinzunahme der Holzbläser, Hörner und einer Posaune) münden. Strauss beginnt also auf einer entfernten Terzverwandtschaft. Das Leitmotiv des Titelhelden kadenziert aber sogleich nach E-Dur ab.
Zusätzlich zur Harmonik verleihen drei wesentliche rhythmische Merkmale dem Leitmotiv seine Prägnanz: die Triole (T. 2), die Punktierung auf der 4 im selben Takt sowie die akzentuierte Synkope. Das Motiv erstreckt sich über 3 Oktaven und eine kleine Terz. Der gewaltige Aufstieg in den ersten drei Takten signalisiert den Titelhelden: hier öffnet sich der Vorhang für den zielstrebigen, lustvollen Don Juan. Dieser wird nun ungeheuer suggestiv - von vier lauten Paukenschlägen angekündigt - mit einem leidenschaftlichen Thema in den ersten und zweiten Violinen zum Vorschein gebracht.
Wie stellt Strauss nun den Charakter des Titelhelden musikalisch dar?
Die Keimzelle des Themas ist ein aufwärts strebendes, aus einer punktierten Achtel (bzw. Achtel + Sechszehntelpause), Sechzehntel und anschließenden (punktierten) Halben als Zielpunkt bestehendes Motiv. Durch Sequenzierungen bastelt Strauss hiermit sein Thema, wobei die Linie in den ersten 4 Takten wieder stetig nach oben steigt. Durch die Punktierungen entsteht ein zielstrebiges Vorwärtsdrängen - der Held stürzt sich begeistert und erwartungsvoll in die Welt der Abenteuer. Auffällig ist der Sturz nach unten im 5. Takt (und ein weiteres Mal im 7.) (die Taktzahlen beziehen sich immer auf die Notenbeispiele) - doch kein Stolperstein scheint den Held zu stören, es geht immer wieder aufwärts. Ebenfalls markant sind die häufigen Akzente auf die letzte Sechzehntel und die vom Blech unterstützten Crescendi.
Das Thema der Geigen wird von den Trompeten abgelöst und durchgeführt. Nach erneuten Erscheinen des Leitmotivs beginnt die quasi Überleitung zur ersten Liebesepisode. Statt wahrer Liebe strebt Don Juan jedoch nach Abwechslung: ein kleines "Zwischenspiel" könnte man als einen kurzen Stop zum Flirt deuten. Doch dieser dauert nicht lange - schon wieder erklingt das Leitmotiv und der Titelheld ist wieder auf und davon.
Die bisherige Thematik wird weiter durchgeführt und das Leitmotiv endet abrupt in einem pianissimo-Tremolo der hohen Streicher und des Glockenspiels - die erste Liebesszene kündigt sich an, Don Juan verschwindet aus der Realität und taucht ein in die Traumwelt. Ein äußerst sinnlicher Septnonakkord (mit großer None) über Fis (vorher g-Moll) im ppp mit Hinzunahme der Harfe erklingt und führt in die Dominanttonart H-Dur (Argument für die Sonatenhauptsatzform - allerdings: Das Thema der ersten Liebesszene, was in dem Falle das zweite Thema wäre, taucht später nur noch andeutungsweise auf.). Die erste Geige - bei Strauss bekanntermaßen die Frau im Orchester - trägt nun ein lyrisches, verträumtes Solo vor (abwechselnd mit dem Glockenspiel). Durch vierfach geteilte Bratschen und Celli sowie den vollen Bläserapparat im ppp schafft Strauss hier einen wunderbaren Klangteppich - Vortragsbezeichnung tranquillo. Das Solo der Geige verarbeitet übrigens die bisherige Thematik und nimmt gleichzeitig Elemente des kommenden Themas vorweg - ein Bindeglied zwischen der konträren Thematik sozusagen.
Eingeleitet durch aufsteigende Chromatik in den 2. Geigen und Bratschen erklingt nun das 2. prägnante Thema des Werkes - molto espressivo in der ersten Klarinette.
usw.
Natürlich handelt es sich auch hier nicht um klassische Periodenbildung. Das Thema wird von den Violinen kanonisch aufgefangen und expressiv (v. a. durch Chromatik und sehr sinnliche Harmonisierung) fortgeführt. Betrachtet man das Thema als Umarmung der Liebhaberin, lässt sich der Dialog zwischen den beiden Stimmen als gegenseitiges Umarmen deuten. Eine lange und intensive Steigerung mündet in einen Höhepunkt im fff. Das Ende wird angekündigt, in den Celli erklingt im piano wieder das Leitmotiv - Vortragsbezeichnung: senza espressione. Don Juans Geliebte versucht ihn bei sich zu behalten, doch der Held reißt sich bald endgültig von ihr los und flieht zurück in die Realität - in klarem C-Dur kehrt nun das stürmische Hauptthema zurück und wird weiter durchgeführt, wobei in verschiedenste Tonarten ausgewichen wird (u.a. in die in diesem Stück so häufig verwendeten Terzverwandschaften, hier A-Dur u. Es-Dur).
Eine weitere Episode beginnt nun, Tonart g-Moll. Don Juan macht wieder Halt, er hat ein neues Ziel gefunden. Celli und Bratschen tragen molto appassionato ein leidenschaftliches und intensives Thema vor. Der Held versucht die Geliebte für sich zu gewinnen.
Doch dissonante, chromatische Vorhalte in der Flöte deuten das Scheitern des Versuchs an. Ein zweites Mal versucht es Don Juan noch leidenschaftlicher und letztendlich verklingt auch der "Spott" der Flöten - erneut ist es ihm gelungen, in eine Traumwelt einzutauchen. Ein Klangteppich in G-Dur von ungeheurer Schönheit breitet sich aus, bewerkstelligt durch vierfach geteilte Kontrabässe (!), zarte Klänge in Harfe und Pauken (ppp) und "Scheinpolyphonie" in den Celli, Bratschen (das aufsteigende Motiv verbildlicht wiederum die schwelgerische Leidenschaft der Szene) und das ersten Horn (mit Dämpfer).
Die vielleicht bekannteste und gelungenste Episode des Werkes erklingt. Die erste Oboe trägt sehr getragen und ausdrucksvoll ein idyllisches Thema vor.
Das Thema beginnt markant mit einem Oktavsprung aufwärts, bewegt sich dann aber zumeist in Sekundschritten weiter (bis zum expressiven Quintsprung in T. 11). Auch dieses Thema ist von Synkopen geprägt, die stets die Leidenschaft des Titelhelden und seiner Geliebten versinnbildlichen. Nach einer Weile treten weitere Soloinstrumente hinzu (u. a. Horn, Klarinette) und die lyrischen Melodielinien umschlingen sich - derselbe Effekt, der in der ersten Liebesszene durch den kanonischen Dialog erzeugt wurde.
Natürlich hat auch diese Episode ein Ende - das Begleitmotiv der Celli bäumt sich auf, wandert in die hohen Streicher und endet stringendo in einem gewaltigen Triumph: über einem Tremolo der Violinen tragen 4 Hörner im unisono molto espressione e marcato ein Siegesthema vor. Don Juan hat die Traumwelt wieder verlassen und feiert seinen Erfolg!
Den großen Kontrast zwischen beiden Welten erzeugt Strauss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln:
Vorher ein Klangteppich aus tiefen Liegetönen, träumerisches G-Dur, piano und pianissimo, kleinschrittige Soli, Tempoanweisung tranquillo bzw. sehr getragen (Oboenidylle)
Nun: Scharfe Tremoli in den hohen Streichern, die sich bei der Wiederholung des Hornthemas mit den hohen Holzbläsern reiben, "Realitätstonart" C-Dur, forte und fortissimo, laute Paukenwirbel und von 4 Instrumenten marcato vorgetragenes Thema, a tempo. Das Bassfundament, das die ganze vorherige Episode vierfach geteilt (in den Kontrabässen) erklang, setzt nun vorerst komplett aus.
Das Hornthema beginnt mit einem prägnanten Oktavsprung und ist auch wieder durch Synkopen gekennzeichnet. Es endet auf einem Halbschluss - ein nervöses Zwischenspiel der Oboe, eine Art Parodie auf das Oboenthema der vorherigen Episode, agitato vorgetragen, hält die Spannung (-> Wut der Geliebten?), bevor das Siegesthema erneut erklingt. rapidamente kehrt nun auch wieder das Leitmotiv zurück, was zu einer mit a tempo, giocoso gekennzeichneten Episode überleitet. Kurze Achtel mit Sekundvorschlägen unterstreichen den scherzhaften Charakter, während verschiedene Themen verarbeitet bzw. parodiert werden (z. B. das Heldenthema im Glockenspiel). Die Episode wirkt spöttisch, unsicher. Der Beginn des Leitmotivs mischt sich ein, der Held versucht sich wieder aufzubäumen, und das Ganze endet in einem gewaltigen Tumult. Das Orchester blüht auf, die Themen eifern um die Wette, die Musik gewinnt an Dramatik. Die Tonart E-Dur wird wieder erreicht, doch diesmal auch dessen Parallele cis-Moll. Don Juan bekommt Selbstzweifel und schließlich stürzen die Streicher mit einem verminderten Arpeggio den Titelhelden weit in die Tiefe. Im fff endet das Desaster auf einem tiefen h, die Kontrabässe spielen ein furchteinflößendes, vom Paukenwirbel unterstütztes Tremolo. Nun erklingen erneut die drei Themen des Liebesepisoden (1. Flirt, 2. kanonisches Thema, 3. Oboenidylle), allerdings fad und fern - der Held denkt zurück. Überaus suggestiv löst sich nun der H-Septakkord, über dem die Themen erklangen, in einem pizzicato auf. Die Herausforderung des Vaters einer Geliebten kündigt sich an. Das Leitmotiv Don Juans entwickelt sich langsam über dem noch klingenden Orgelpunkt h und die Spannung steigt. Der Held schöpft hörbar neue Kraft. Mit der Wiederkehr des Hauptthemas beginnt der Kampf. Von einer Sonatenhauptsatzform ausgehend, würde nun die Reprise beginnen. Für mich ist es eher die Wiederkehr eines Rondothemas, wenn man überhaupt in tranditionellen Formen argumentieren will. Der Höhepunkt orchestraler Farbenpracht wird nun erreicht. Don Juans Themen erstrahlen in glänzendem E-Dur, das Hornthema kehrt zurück und triumphiert in den Violinen. Ein F-Dur-Akkord mit Beckenschlag kündigt den Höhepunkt des Kampfes an, Don Juans Leitmotiv erklingt nach einer kurzen Generalpause und verkündet seinen Sieg. Eine triumphale Steigerung suggestiert den endgültigen Triumph - doch die Steigerung endet im Nichts auf der Dominante, worauf eine weitere Generalpause folgt. Wir sind beim letzten Abschnitt angelangt - das Ende des Titelhelden wird mitgeteilt. Ein a-Moll Akkord im pianissimo, tutti erklingt. Don Juan gibt sich dem Todesstoß seines Gegerns hin, der in den Trompeten durch ein dissonates f erklingt. Im Tremolo bewegen sich die Geigen in Terzen abwärts, klingen leer aus und kadenzieren ebenso hohl nach e-Moll (Molldominante). Die Tondichtung endet mit drei Pizzicato-Oktavklängen auf dem Ton e. Don Juan hat gesiegt, aber nichts erreicht.
Was lässt sich nun über die Bedeutung des Werkes sagen? Wir betrachten Richard Strauss von heute aus gesehen oft als rückständigen Komponisten, wenn wir sein Schaffen im 20. Jahrhundert ins Auge nehmen. Dieses Werk, 1888 vollendet und 1889 uraufgeführt, muss aber für das damalige Publikum ungeheuer modern geklungen haben. Als Strauss 1887 mit der Arbeit an dem Werk begann, hatte Brahms gerade sein letztes Orchesterwerk - das Doppelkonzert - vollendet. Zwei Jahre vorher schrieb dieser seine letzte Sinfonie.
Trotz der Kühnheiten und modernen Tonsprache setzte sich der Don Juan sofort durch - er traf den Zeitgeist voll und ganz.
Im Konzertführer von Attila Csampai und Dietmar Holland liest sich sehr schön:
"[...] der endgültige Durchbruch zum Reifestil der Gattung und das Selbstbewusstsein des Komponisten werden hier zum Ausdruck eines Lebensgefühls der damals jungen Generation. Die kraftvolle, in Sinnenfreude schwelgende Diesseitigkeit steht in scharfem Kontrast zu der problembeladenen, um letzte Geheimnisse ringenden Symphonik Mahlers. [...] Das Werk ist voll von Schwung und schier schäumenden Temperament [...]"
Bezüglich der Aufnahmen (von denen es unzählbar viele gibt) gebe ich das Wort mal weiter. Ich kenne Karajan und Kempe, bei ersterem glänzt und strahlt das Orchester wie gewohnt, letzterer ist mutiger und wilder und bietet rauhere Tempowechsel.
So, das wars erstmal von meiner Seite. Ich hoffe, hiermit wären gängige Vorurteile wie "Strauss war ein schlechter Melodiker" endgültig beseitigt. Zumindest in jungen Jahren kann man das nicht von ihm behaupten. Im Alter sagte er ja sinngemäß: "Solche Einfälle wie damals im Don Juan und in Tod und Verklärungen, dafür bin ich natürlich mittlerweile zu alt."