Lieber Frank!
Das ist sicherlich die Crux. Ein einheitliches, verbindliches Schubertbild kann es nicht geben und da ist auch gut so.
Ich glaube, ich habe das an anderem Ort schon einmal gesagt. Für ich ist ein Kunstwerk frei, sobald es der Öffentlichkeit übergeben wurde. Und in bestimmten Grenzen (Geschmack, Verantwortung, Anerkennung eines Werkes, Notentext etc) darf der Interpret sich sein eigenes Bild machen. Die Freiheit hat er und meine Freiheit ist es dann zu sagen, ob das angemessen ist bzw. in mein Bild passt. Und da kollidiert Barnatan schlichtweg mit meinem Schubertbild, das keineswegs Allgemeingültigkeit beansprucht.
Manchmal geht eine völlig andere Sichtwise ja auch auf und schafft neue Einblicke. Du erwähntest hier die Appassionata von Horowitz und Richter.
Die "wild - leidenschaftliche" Interpretation Richters anlässlich seines USA - Debuts ist wohl mit Sicherheit dem Augenblick geschuldet. Wie kann ein sensibler Künstler in solch einem Moment abgeklärt und zurückhaltend solch eine Musik spielen.
Die "Entschuldigung" hat Barnatan bei seiner Studio - Einspielung natürlich nicht. Trotzdem könnte es ja aufgehen. Aber ihm fehlt dann doch der große Bogen, der Blick für die Gesamtheit und das, was du so schön, die Seele, den Geist im schubertschen Sinne nanntest.
"Und hättet ihr die Liebe nicht...". Vielleicht ist das wirklich auch ein Schlüssel für Interpretationen. Mit tiefgehender Liebe den Geist und die Seele eines Werkes erspüren. Und dann kann eine Interpretation noch so gewagt sein, noch so sehr irgendeinem persönlichen oder gerade aktuellem Schubertbild engegengesetzt sein, sie wird immer den Kern der Sonate treffen.
Ich habe heute übrigens Korstick gehört. Langsamkeit ist noch keine Interpretation. Und langsam spielen oder dirigieren, muss man können. Man muss den Spannungsbogen aufrecht erhalten, sonst bricht alles auseinander. Korstick empfinde ich nur als unerträglich langweilig.
Gustav