Die Schönheit der Avantgarde

  • Demgegenüber will ich hier den Nachweis versuchen, dass die vielgeschmähte „Avantgarde“ sehr wohl auch (wenn auch sicher nicht nur) Werke hervorgebracht hat, die „schön“ sind, denen zuzuhören einen Genuss bedeutet (auch wenn der vielleicht erarbeitet sein will), dass es auch hier Musik gibt, die das Gefühl und nicht nur den Verstand anspricht. O

    Ich möchte zurück zum ursprünglichen Thema. Obwohl ich ja ein grundsätzliches Interesse an neuerer Musik schon formuliert habe, ist es natürlich nicht so, dass mir alle neuere gefällt und nicht einmal, dass die, die mir gefällt und ich interessant finde, ich auch immer als schön bezeichnen würde.


    Mit dem Begriff "schön" würde ich eine gewisse Ausgeglichenheit, Ruhe und eine besondere Form verbinden wollen, die bei mir am Ende einen in sich geschlossenen Eindruck hinterlassen. Lachenmann würde für meine Ohren da nicht hineinfallen.


    Neben dem schon erwähnten Bergschen Violinkonzert, fallen mir spontan folgende Beispiele ein, die durchaus völlig verschieden sind.


    Hans Otte, Buch der Klänge, eine Kompositon aus den Jahren 1981-82. Hier sollte keiner irgendwelche Schwierigkeiten haben, das nachzuvollziehen, auch, wenn ihm die Musik eventuell nicht gefällt.




    Lera Auerbach, Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier Op. 63 aus dem Jahre 2001



    Das Stück ist zwar an einigen Stellen sehr expressiv, erfüllt aber in meinen Ohren mein Kriterium. Als ausgesprochen schön empfinde ich zum Beispiel die Komposition Episodi e canto perpetuo für Klaviertrio von Peteris Vasks aus dem Jahre 1985




    und vielleicht noch aus einer ganz anderen Ecke


    Horatiu Radulescu mit seiner Cellosonate Exile intérieur aus dem Jahre 1998



    auch für meine Ohren ein sehr schönes Stück.


    Das sind nur Beispiele. Wenn ich länger nachdenke und meinem Hörverhalten der letzten Monate noch einmal nachginge würden mir noch weitere Beispiele einfallen. Aber wie moderato schon sagte, sind das alles natürlich auch persönliche Aussagen und ein anderer empfindet völlig anders. Man kann sich ja mal den Thread zu Thomas Larcher daraufhin ansehen. Dort gibt es ziemlich divergierende Ansichten zum selben Stück ....

  • Ich finde, der Begriff "Avantgarde" suggeriert eine positive Wertung von Musik, ohne dass man einen einzigen Ton gehört hat. Dann wird noch gesteigert: die Schönheit...

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Mit dem Begriff "schön" würde ich eine gewisse Ausgeglichenheit, Ruhe und eine besondere Form verbinden wollen, die bei mir am Ende einen in sich geschlossenen Eindruck hinterlassen.

    Hm, dann hätten wilde Komponisten wie Beethoven und Berlioz aber auch nicht nur schöne Werke hinterlassen.

  • Ich finde, der Begriff "Avantgarde" suggeriert eine positive Wertung von Musik, ohne dass man einen einzigen Ton gehört hat

    Den Eindruck hatte ich bisher in dem Forum nicht. Er taucht doch nicht so selten als Grund für eine prinzipielle Ablehung auf, ohne , dass man einen Ton gehört hat ;)

  • Hm, dann hätten wilde Komponisten wie Beethoven und Berlioz aber auch nicht nur schöne Werke hinterlassen.

    allerdings. Du müsstest mal ein paar Äußerungen zur Großen Fuge von Beethoven lesen ..... ;) Bei Beethoven gibt es nicht nur Mondenschein

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  • Für mich ist das natürlich alles schön, auch die Sachen von Lachenmann etc.

    nicht, dass wir uns missverstehen, die große Fuge gehört zu meinen Lieblingskompositionen. Ich käme aber nie auf die Idee, sie als schön zu bezeichnen. Mein ästhetisches Erlebnis bei diesem Stück gibt mir dafür keine Gelegenheit.


    Anders empfinde ich den Übergang in Beethovens letzter Sonate zur Arietta. Oder im zweiten Satz der großen Sonate von Alkan wo der Übergang zum achtstimmigen Fugato über gewaltige Arpeggien gestaltet wird und die einkehrende Ruhe Schönheit ausstrahlt.

  • Lieber Moderato,


    das musste ich auch schon feststellen! Die Wiener Schönberg-Gesellschaft hatte einen Aufsatz von mir aus diesem Band


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    ins Netz gestellt (Titel: Konstruktion und Verdichtung. Die Schöpfung aus dem Nichts bei Busoni, Schönberg und Stockhausen). Ich verstehe auch nicht, warum der wieder rausgenommen wurde - vielleicht aus urheberrechtlichen Gründen? Jedenfalls ist in diesem Band auch ein Interview mit Stockhausen enthalten. Stockhausen hat meinen Text natürlich gelesen und er gefiel ihm. Ich bekam dann unerwartet ein Paket von ihm... :) Daraus entstand ein intensiver Kontakt - ich lernte ihn dann auch persönlich in Kürten kennen, wo ich mehrmals war. Von ihm bekam ich CDs, handsignierte Partituren und vieles mehr... Das alles habe ich dann in einem zweiten Aufsatz bei PNM (Washington D.C.) verarbeitet (Decomposition of the Sound Continuum: Serialism and Development from a Genetic-Phenomenological Perspective. In: Perspectives of New Music. 42, no. 1 (Winter) 2004, S. 84–128.) - er ist im Wikipedia-Artikel über die "Momentform" zitiert:


    https://de.wikipedia.org/wiki/Momentform


    Und natürlich auch in meinem letzten Buch - erschienen bei der Wiener Universal-Edition und daher leider nur im Musikhandel erhältlich:


    ue26863.jpg


    https://www.universaledition.c…et-kaletha-holger-ue26863


    Auf dieser Seite der UE kann man auch das Inhaltsverzeichnis sehen!


    Von meinem Aufsatz aus dem Protomoderne-Band habe ich Sonderdrucke gefertigt. Wer Interesse hat, dem kann ich gerne ein Exemplar zusenden! :hello:


    Ich glaube inzwischen, dass alle diese Begriffe mit sehr divergierenden Bedeutungsumfängen verwendet werden, insbesondere auch der Neoklassizismus (siehe Wikipedia-Artikel, die Teile mit Fußnoten sind von mir), zu dem man Schostakowitschs Lady selbstverständlich auch zählen kann, wenn man will. Man kann also mit dem Attribut "neoklassizistisch" einen Aspekt des Werkes beschreiben und mit dem Begriff "avantgardistisch". Definiert werden die Begriffe anhand einzelner Werkgruppen, Neoklassizismus mit Strawinsky und Avantgarde mit Marinetti.


    Lieber Kurzstückmeister,


    ah, Du hast Dich mit dem Neoklassizismus intensiv beschäftigt? Das finde ich ein sehr spannendes Thema! :)

    In der Philosophie gibt es einmal die Aussage von Hegel, dass Renaissancen unmöglich seien. Dann aber die bekannten Schulen des Neukantianismus. Windelbands Selbstcharakterisierung ist da treffend: "Auf Kant zurückgehen heißt, über ihn hinausgehen!" Von daher glaube ich auch, dass der Neoklassizismus nicht einfach eine Imitation der Klassik ist! Das ist dann die privative, polemische Sicht, die dem Phänomen glaube ich nicht gerecht wird! ;)


    "Avantgarde" ist finde ich auch kein wirklich "theoretischer" Begriff sondern ein "Kampfbegriff" der Positionierung. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Warum gehört eigentlich Flamenco nicht zur Avantgarde - er ist nur sehr bedingt schön, nicht immer tonal, ist andererseits zweifellos klassische Musik in der spanischen Musiktradition - und es gibt ihn u.a. von einigermaßen zeitgenössischen Komponisten, z.B. hier von dem vor nicht langer Zeit gestorbenen Paco de Lucia - Almoraima , gespielt von Grisha Goryachev


  • Lieber m- mueller,


    leider habe ich keine Antwort auf deine Frage, aber der Guitarero ist fantastisch und man sollte die Datei unbedingt ganz bis zum Ende hören !

    :love::jubel:

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  • Ich möchte mit ein paar Fragen an die inhaltliche Diskussion anschließen. Je häufiger ich einige Kompositionen von Jörg Widmann höre, gewinne ich bei einzelnen Stellen den Eindruck eines rückwärtsgewandten Blickes auf Schönheit. Ich kann es leider nicht besser beschreiben. Ich bin mir auch nicht wirklich sicher zu verstehen, was "Schönheit" ist.


    Ist es etwas Objektives, was einer griechischen Skulptur anhaftet oder einem mathematischen Beweis, ist es in mathematischen Strukturen zu erfassen? Ich erinnere an das Titat von Bertrand Russell, was Coxeter seinem berühmten Buch zur Geometrie voranstellte


    Zitat von Bertrand Russell aus H.S.M. Coxeter "Unvergängliche Geometrie"


    Alternativ könnte es ein Erlebnis bei der ästhetischen Rezeption sein. Dann wäre es etwas per se Vergängliches aber in gewissen Grenzen Wiederhobares. An manchen Stellen im Forum wird auf besonders schöne Stellen hingewiesen. Sind diese Stellen an sich schön oder ist es nicht das Erlebnis solche Stellen in einem gewissen Zusammenhang hören zu können. Es ist vielleicht ein bisschen wie bei einem Lächeln. Von einem solchen Augenblick kann ein Zauber ausgehen. Wird der Augenblick aber eingefroren, entsteht eine Karikatur. So wie in einem Geschäft, wo ab einem gewissen Mindestabstand vom Verkäufer ein Dauerlächeln produziert wird.


    Bei Widmanns erstem Violinkonzert nun empfinde ich die Schönheit in erster Linie als Erlebnis. Übrigens bei Bartoks Sonate für zwei Klaviere ist es genau andersrum :)) Es handelt sich um ein Werk aus dem Jahre 2007. Das Werk ist Christian Tetzlaff gewidmet.


    Wir hören es hier mit Michael Barenboim mit dem Sibiu Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Cristian Lupeș in einer Aufzeichng vom 15. September 2019 aus der Bucharest Radio Hall.




    Ich habe gestern Abend eine Einspielung von Christian Tetzlaff gehört, die beim Werbepartner erhältlich ist



    Da ich nun Booklets lese, bin ich auf die folgende Stelle aufmerksam geworden


    Zitat von Booklet

    Jörg Widmann ist der Löwe unter den Komponisten der Avantgarde, mehr als der Hoffnungsträger einer jüngeren Generation, die sich danach sehnt, dem Ghetto der selbstauferlegten Publikumsferne zu entkommen, ohne das Grenzgängerische aufzugeben. Er ist ein Musiker der Extreme, der sich zum Ziel gesetzt hat, das flammende Leuchten des Dunklen auszuloten, ganz im Sinne Baudelaires die Schönheit des Bösen zu manifestieren, manische Zustände in seinen Zuhörern heraufzubeschwören, das Schreckliche der Natur – auch der menschlichen – als Leben Hervorbringendes in organisierten Ton- und Geräuschbeziehungen zu materialisieren.


    Wie seht Ihr das?

  • Hallo, astewes,


    ich habe mir große Teile des eingestellten Konzertes von Widmann angehört und finde die Musik als sehr hörbar und nicht als unangenehm. Sollte ich einmal mehr Lust darauf haben und nicht zeitlich unter Druck stehe (Sport, z.B. heute Handball und Snooker), dann glaube ich schon, mir die Ruhe zum Genuß zu nehmen. In manchen Konzerten mit sog. avantgardischer Musik (meist zu Beginn eines klassischen Konzerts mit Standardwerken) hat mich das Gefietsche teilweise extrem gestört. Das Widmann-Konzert scheint trotz aller Modernität von sphärischen Klängen und melodiösen Bögen durchsetzt und wird damit auch für meine Ohren schmerzfrei, da z.B. auch der Weg zu Mahler, Strauss oder Schostakowisch nicht allzuweit ist.

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • In manchen Konzerten mit sog. avantgardischer Musik (meist zu Beginn eines klassischen Konzerts mit Standardwerken) hat mich das Gefietsche teilweise extrem gestört.

    Hallo La Roche , erstens finde ich es schön, dass Du Dir vorstellen könntest, einmal Widmanns Violinkonzert zu hören. Was das gelegentliche "Gefietsche" in Konzerten angeht, muss man natürlich bedenken, dass es keineswegs in der Intention jedes Komponisten liegt, im Widmannschen Sinne "Schönes" zu produzieren. Wenn man genauer hinhört, kann man eventuell auch dem "Gefietsche" klangliche Strukturen abgewinnen und nicht zuletzt, das wollte ich mit meinem Beitrag oben ansprechen, lebt das Schöne davon, dass es manchmal ein Kulminationspunkt einer Entwicklung ist.


    Bei Fugen empfinde ich das manchmal ganz stark. Die gestalterischen Elemente einer Fuge legen ja nun nicht gerade Schönheit nahe. Trotzdem kann es manchmal passieren, dass die Stimmen plötzlich zusammenkommen und einen wundervollen Klang ergeben. Das empfinde ich immer als besonders beeindruckend. Busonis Fantasia ist ein Beispiel dafür, wie sich solche Elemente aus der thematischen Arbeit plötzlich ergeben und erheben können.

  • Was das gelegentliche "Gefietsche" in Konzerten angeht, muss man natürlich bedenken, dass es keineswegs in der Intention jedes Komponisten liegt, im Widmannschen Sinne "Schönes" zu produzieren.

    Und genau da liegt für mich eine Grenze. Musik ohne Melodie? Für mich eigentlich unvorstellbar. Selbst in der Salome, besonders im Schlußmonolog sind Töne zu hören, bei denen ich für einen Moment dem Kaiser Wilhelm zustimmen möchte. Aber dann kommen Töne (nicht nur bei der "geheimnisvollen Musik), bei denen mir die letzten Haare zu Berge stehen und sich bei entsprechender optischer Unterstützung ( und dazu gehören keine Jeans und MP-tragende Eurosoldaten) Feuchtigkeit in den Augen ansammeln kann. Bei Widmann sind die Grenzen sichtbar, aber er läßt Tonfolgen, Akkorde, zarte Streicherpassagen auch ohne Melodie angenehm klingen. Danke für diese Einstellung.

    Viele Grüße von La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Und genau da liegt für mich eine Grenze. Musik ohne Melodie? Für mich eigentlich unvorstellbar.

    Über dieses Thema wurde vor kurzem schon an anderer Stelle diskutiert (ich habe leider gerade nicht Stelle zur Hand).


    Das ist selbstverständlich ein Thema. Aber "Hand aufs Herz" Beethoven, Bach waren nicht die Melodiker an sich. Selbstverständlich gibt es wunderschöne Bach-Melodien und selbst Beethoven hat an gewissen Stellen schöne Melodien gebraucht, aber in der Kunst der Fuge, in vielen Suiten oder im WTK sind die "schönen" Melodien Seltenheiten und bei Beethoven sowieso. Die Diabelli-Variationen sind sogar ein Beispiel dafür, wie man aus einer völlig banalen Melodie durch Destruktion und Konstruktion Musik machen kann. Die Melodie wird bis zur totalen Unkenntlichkeit manipuliert. Sie wird auch wieder hergestellt, doch der Reiz liegt nicht in der Melodie. Das ist große nicht-melodiöse Kunst, die über 200 Jahre alt ist.


    Wer gerne schöne Melodien hören will, wird da nicht selten enttäuscht und wahrscheinlich doch stark zum Opernhören tendieren. Aber selbst bei Wagner? Ich kann mich bei Tristan und Isolde nicht an klare wiedererkennbare Melodien erinnern. Es ist doch eher ein klangliches Ereignis. Ehrlicherweise liegt mein Tristan aber auch schon in ziemlicher Vergangenheit.


    Jeder kann natürlich sagen, er möchte nur melodiöse Musik hören. Es wäre aber unfähr zu sagen, nur melodiöse Musik könne gute Musik sein!

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