ZitatOriginal von Bernd Schulz
Wir kommen wohl nicht richtig zueinander, weil mein Verhältnis zur Geschichte als "Wissenschaft" ein gänzlich anderes ist als deines. Ich glaube nicht, daß man im wissenschaftlichen Sinne "objektive" Aussagen darüber treffen kann, wie Bach im Grunde seines Wesens "wirklich" war.
So etwas liegt mir auch völlig ferne. Aber wenn ein völlig einseitiges Klischee wie "Bach - fromm" oder "Mozart - Rokoko" an die Stelle wenigstens des Versuchs tritt, die Vielfalt eines vergangenen Zeitalters zu erfassen, ist das doch wohl keine ernsthafte Alternative. Wir wissen sehr viel über die barocke Affektenlehre, z.B,. und daher ziemlich genau, dass kein emotionales Erschlagen oder eine vage Tonmalerei angestrebt wurde, sondern wirklich eine Art Klangrede mit recht präzisen Konventionen. Das ist etwas anderes als der dann folgende Ansatz, dass der Musiker nicht rühren könne, wenn er nicht selbst gerührt sei. (CPE Bach)
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So ähnlich empfinde ich es auch, und auf die Musik übertragen würde ich sagen: Interpretation ist niemals gleichbedeutend mit der Wiederherstellung irgendeines Gewesenen... ist vielmehr ihre Überführung in eine andere Art des Seins.
Das würde ich gar nicht bestreiten. Mein Punkt war, dass Du selbst ein pseudohistorisches Argument brachtest, nämlich dass das Bach-Zeitalter "naiv" gewesen sei und daher ein "wissenschaftlicher" Zugang weniger angemessen als ein emotionaler (oder was immer der Gegensatz sein sollte. Gewiß ist der HIP-Zugang des 20./21. Jhds. modern. Aber die Idee, dass sich ein "Genie" in ein anderes vor 200 Jahren einmalig einfühlt und unvergleichlich authentische Interpretationen liefert, ist romantische Schwärmerei (an der Genze zur unfreiwilligen Komik) und hat rein gar nichts mit der Einstellung des 17./18. Jhds. zur Kunst zu tun.
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Daß diese - grob gesagt antirationalistische - Position in recht krassem Widerspruch zum Zeitgeist steht, ist mir natürlich klar.
Im krassen Widerspruch zum Zeitgeist der ersten Hälfte des 18. Jhds., ja.
Das "feeling" gut, der Verstand dagegen trocken, unfruchtbar und verdächtig sei, ist dagegen in einer etwas trivialisierten Form immer noch en vogue, wenngleich der Höhepunkt dieser Denkweise überschritten sein dürfte.
In der Allgemeinheit sidn solche Diskussionen immer unfruchtbar. Höchstens bringt es etwas (wie von Glockenton angedeutet), konkrete Stücke herasuzunehmen und an denen zu zeigen, was hier angeblch deutlich wird oder fehlt oder inwiefern sie akademisch oder was auch immer sind. Sonst geht es oft nichtmal um ein wirklich aufgeklärtes subjektives Urteil (nämlich in einigermaßener Kenntnis der Partitur, und der konkurrierenden Interpretationen), sondern vermutlich hauptsächlich um die Macht der jahrzehntelangen Gewöhnung und der Ablehnung desssen, dass anders ist als vertraut.
viele Güße
JR