Vladimir Ashkenazy im Moskauer Konservatorium am 9.6.1963
Bevor Ashkenazy mit seiner isländischen Frau in den Westen übersiedeln durfte, gab er dieses Konzert im berühmten Moskauer Konservatoriumssaal - damals war er 26 Jahre alt. Die Aufnahme ist auf dieser CD erstmals veröffentlicht und auch klangtechnisch hervorragend aufgearbeitet.
Für mich die Sternstunde ist der Beethoven - Ashkenazy spielt die beiden Sonaten op. 31 Nr. 2 ("Stur,"-Sonate) und op. 31 Nr. 3. Besonders die "Sturm"-Sonate ist ein Ereignis. Der junge Ashkenazy präsentiert einen "modernen" Beethoven - unsentimental, stupend notentexttreu, aber nicht nur das! Da ist diese gewisse jugendliche Aufmüpfigkeit in den aufrührerischen Akzenten. Dass Beethoven ein jugendlicher Stürmer und Dränger war, ein so gar nicht aristokratisch angepasster Rheinländer mit "schlechten Manieren", frisch, frech und zugleich von höchster künstlerischer Potenz, all das vermittelt Ashkenazy einfach phänomenal. Auch pianistisch: jede einzelne Note ist glasklar gespielt und gerade im Piano-Pianissimo-Bereich präsentiert er feine und feinste Abstufungen: ein ultrapräzises und zugleich höchst lebendiges Klavierspiel, das frei ist von jeglichen Manierismen und gewollt wirkenden Übertreibungen. Offenbar hat der junge Ashkenazy Svjatoslav Richter gehört - der Forte-Piano-Kontrast in der Exposition des 1. Themas verrät es. Beeindruckend die "mystischen" Partien, die Ashkenazy eben nicht sentimentalisierend aufweicht und zerdehnt wie man es üblicher Weise zu hören bekommt, sondern ihren rezitativischen Charakter spürbar werden lässt wie auch die Nähe zu barocker Klangfülle bei den Arpeggios zu Beginn der Durchführung, wo er eine Forte-Piano-Wirkung den Notentext korrigierend erzeugt. Solche sehr seltenen und sehr bewussten Eingriffe - wie auch bei Chopins Ballade g-moll, wenn er am Schluss der Coda den ersten Bass-Akkord, bevor die Hände einen Lauf wie eine Fontäne nach oben schießen lassen, Piano statt Forte spielt und so eine magische Wirkung erzeugt - zeugen von höchster interpretatorischer Intelligenz. Modern "sachlich" ist Ashkenazys Beethoven, aber er zeigt eine geistige Freiheit und poetische Gestaltungskraft, welche ein solches Klavierspiel über biederen und spießig-hausbackenen Notentexttreue-Fetischismus weit hinaushebt. Op. 31 Nr. 3, gespielt mit höchst kultivierter Burschikosität, schließt sich dem an, ist ein Ashkenazy-Glanzlicht.
Die Chopin-Balladen, die Ashkenazy in seinem Leben so viele Male gespielt und aufgenommen hat, von denen er an diesem Abend aber nur die ersten drei aufgeführt hat (schade, denn seine Interpretation der 4. Ballade ist für mich zusammen mit Svjatoslav Richter die Referenz) - klingen hier aufrüttelnd "unpolnisch" - herb-dramatisch und burschikos kernig, in der Vermeidung jeglicher Salon-Attitüde und bewusst "unelegant". Den Schluss bildet ein Debussy-Prelude aus Heft I als Zugabe, zugleich klangsinnig und mit kantigem spanischem Kolorit, was die Qualitäten von Ashkenazys Spiel an diesem Abend noch einmal verdichtet.
Fazit: Unbedingt empfehlenswert - nicht nur für Ashkenazy-"Fans"!
Schöne Grüße
Holger