Als Erlebnishörer wird man - so wie ich es finde- bei Karajan besser mitgenommen.
Lieber Glockenton,
das Wort "Erlebnishörer" hat mich noch zu einigen Überlegungen angeregt. Der junge Friedrich Nietzsche verarbeitete in seinem Frühwerk seine Wagner-Erfahrung. In Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik gibt es die berühmt gewordene und sehr wirkungsmächtige Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen. Das "Dionysische" ist der Rausch. Da war Nietzsche sicher durch Wagner inspiriert - das rauschhafte Erleben von Musik. Was bedeutet das für die ästhetische Erfahrung? Das macht der Unterschied zum Apollinischen deutlich. Das steht nicht nur für das Prinzip der Formklarheit - sondern auch die Distanz. Apollon mit Pfeil und Bogen hat bei Homer den Beinamen der "Ferntreffer" Apollon. So etwas weiß Friedrich Nietzsche, der Professor für klassische Philologie in Basel, natürlich sehr gut. Während das Dionysische, das rauschhafte Erleben, die Distanz aufhebt in einer Erlebnis-Unmittelbarkeit, schafft das Apollinische gerade Distanz. Das Apollinische ist das Distanz schaffende Schauen und Anschauen eines Schönen.
Gerade im Hinblick darauf ist nun Hanslick interessant. Das "Organ" der ästhetischen Wahrnehmung ist für ihn nicht das Gefühl, sondern die Fantasie. Die Fantasie schafft nämlich ästhetische Distanz. Das Rauschhafte, die Erlebnis-Unmittelbarkeit, war dem Ästheten Hanslick suspekt. Das ist nun eine sehr "klassische" Haltung, die sich schon bei Friedrich Schiller findet. Eine Tragödie soll phobos und eleos erregen, was meist sehr blass mit "Furcht und Mitleid" übersetzt wird: "Schauder" und "Jammer" ist treffender. Interessant ist nun, dass Schiller hier ein Motiv einfügt, das es bei Aristoteles gar nicht gibt. Er sagt nämlich, dass bei der Rührung durch das Leiden im Drama diese Rührung nicht so weit gehen darf, das man selber gerührt wird. Im Unterschied zu Aristoteles betont er die ästhetische Distanz, welche die Erlebnis-Unmittelbarkeit nicht zulässt.
Wie sieht es nun bei der Romantik aus? Ein zentraler Text ist hier Wackenroder/Tieck Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders ("Herzergießungen" - das ist die Sprache des Pietismus). Bei Wackenroder und Tieck wird einerseits das Gefühl betont - das Gefühl kann nur durch ein Fühlen erschlossen werden. Aber interessanter Weise bedeutet das für den Romantiker gerade keine rauschhafte Gefühls-Unmittelbarkeit. In diesem Roman gibt es die schöne Stelle, wo die Betrachter von Ferne (!) einer Tanzszene zuschauen und sich daran ergötzen. Das ist sehr apollinisch! Die Haltung des Musikhörens ist romantisch die kontemplative Andacht - aber Voraussetzung dafür ist ästhetische Distanz. Der Romantiker will sich gerade nicht einfach nur affektiv berauschen lassen - er verabscheut geradezu die Affektivität. Zitat des Erzromantikers Novalis (Friedrich v. Hardenberg): "Poesie soll keine Affekte machen, Affekte sind so etwas wie Krankheiten."
Nun kommen wir zurück zu Karajan und Bruckner. Karajans sehr integrative Sicht betört den Erlebnishörer, weil sie aus der Musik einen Klangrausch macht und so die ästhetische Distanz in eine Distanzlosigkeit aufhebt. Die Frage ist aber, ob man das als originär romantisch und authentisch in Bezug auf Bruckner ansehen kann. Will und soll eine Bruckner-Symphonie wirklich den Hörer in einen Rausch versetzen? Die Frage kann man vor dem historischen Hintergrund nicht einfach mit einem eindeutigen "Ja" beantworten, finde ich. Das ist eine legitime Sicht - aber die andere mehr apollinische ästhetische Distanzhaltung, die dann auch mehr Formklarheit schafft, ist es auch.
Noch eine Anmerkung. Bruckner wurde ausgerechnet im Hanslick-Kreis entdeckt und in seiner Bedeutung geradezu überhöht. Das war bei August Halm, der wie Hanslick ein strenger "Formalist" ist - und übrigens auch komponierte. Bei jpc zu bestellen ist eine Aufnahme seiner Symphonie, die ich habe.
August Halms bekanntestes Buch - Halm ist ein ungemein kluger und geistreicher Musikschriftsteller, dessen gesammelte Werke Adorno herausgeben wollte, wozu es aber nicht kam - ist Von zwei Kulturen der Musik:
Die beiden Kulturen bei Halm sind Bach und Beethoven - und ihre Synthese findet Halm bei Bruckner, der für ihn den krönenden Abschluss der Musikgeschichte darstellt. Er hat auch ein Bruckner-Buch geschrieben:
Liebe Grüße
Holger