Dem Lieben Gott - Anton Bruckner: Sinfonie Nr 9 in Referenzaufnahmen

  • Karajans offizielle Diskographie in Sachen Bruckners Neunte:


    - Berliner Philharmoniker; Jesus-Christus-Kirche, Berlin, 15.-19. März 1966 (DG)

    - Berliner Philharmoniker; Philharmonie, Berlin, September 1975 (DG)

    - Wiener Philharmoniker, Musikverein, Wien, Mai 1978 (DG - DVD)

    - Berliner Philharmoniker; Philharmonie, Berlin, 24. November 1985 (Sony - DVD/Blu-ray)


    Dazu gesellen sich weitere Mitschnitte in unterschiedlich guter Qualität, die zu Lebzeiten des Dirigenten nicht zur Veröffentlichung gedacht waren:


    - Wiener Philharmoniker; Musikverein, Wien, 26. Mai 1962 MONO (Archipel) [im Konzert mit Bruckners Te Deum]

    - Wiener Philharmoniker; Großes Festspielhaus, Salzburg, 27. August 1967 MONO? (Rundfunk)

    - Berliner Philharmoniker; Philharmonie, Berlin, 22. Jänner 1970 MONO? (Rundfunk) [im Konzert mit Verdis Te Deum]

    - Berliner Philharmoniker; Musikverein, Wien, 21. Juni 1974 MONO? (Rundfunk) [im Konzert mit Bruckners Te Deum]

    - Wiener Philharmoniker; Großes Festspielhaus, Salzburg, 25. Juli 1976 (DG) [im Konzert mit Bachs Violinkonzert BWV 1042]

    - Berliner Philharmoniker; Kunsthaus, Luzern, 2. September 1976 (IMC)

    - Wiener Philharmoniker; Musikverein, Wien, 8. Mai 1978 (Andante) [im Konzert mit Bruckners Te Deum]

    - Berliner Philharmoniker; Kunsthaus, Luzern, 31. August 1985 (Rundfunk)

    - Berliner Philharmoniker; Philharmonie, Berlin, 23. November 1985 (Rundfunk)

    - Berliner Philharmoniker; Großes Festspielhaus, Salzburg, 24. März 1986 (Rundfunk) [im Konzert mit Bachs Violinkonzert BWV 1042]


    Es gibt also nur zwei echte Studioproduktionen des Werkes auf CD. Die Filmproduktion von 1978 aus Wien dürfte unter studioähnlichen Bedingungen stattgefunden haben, jene von 1985 aus Berlin scheint eher live entstanden zu sein. Obwohl die Neunte relativ häufig in Karajans Konzertprogrammen auftaucht, fehlt - ähnlich wie bei der Fünften - eine späte Studioproduktion mit den Wienern.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • etzt aber zu den Tempoveränderungen, die Abbado da gemacht hat.

    Ab Ziffer A, also Takt 39 beginnt eine Sequenz, die in Takt 63 ( Ziffer C) mündet. Da hören wir den ersten katastrophal klingenden Ausbruch im fff.

    Es beginnt bei Abbado mit 1.51, wenn man die CD hört oder streamt.

    Was macht er denn da? Obwohl kein accelerando in der Partitur steht ( nicht in meiner Nowack-Ausgabe) beschleunigt er sehr deutlich und wird kurz vor der gewalttätigen Ziffer C etwas langsamer, um eben dem Ausbruch noch mehr Gewicht zu verleihen.

    Lieber Glockenton,


    gestern habe ich mir die ersten 5 Minuten von Abbado und Karajan noch einmal über meine kleine Deskstop-Anlage angehört. Die Qualität ist zwar nicht HighEnd, aber nicht schlecht! ^^ Ich empfinde das auch so, die Stelle, wenn das Thema im Fortissimo auftritt, gelingt Karajan einmalig. Brucknerischer geht es nicht! Das Rätsel, warum Abbado das so macht, habe ich aber glaube ich gelöst. ;) Eigentlich ist das sehr ungewöhnlich. Für Abbados Generation der Jungen und Modernen galt ein einheitliches Grundtempo quasi als Dogma. Es ist schon bemerkenswert, dass Abbado die innere Freiheit besitzt, davon abzuweichen. Doch woher kommt der Ansatz, in dieser Einleitung expressivo zu spielen? Darauf gibt es eigentlich nur eine verständliche Antwort: Yevgeny Mrawinsky. Mrawinsky war ja Ehrenmitglied des Wiener Musikvereins wegen seiner herausragenden Interpretationen von Beethoven, Brahms und Bruckner und hat auch in Wien Konzerte gegeben. Da nehme ich an, hat Abbado in Wien so ein Konzert miterlebt mit Bruckners 9 und das hat ihn nachhaltig beeindruckt. Es gibt einen auch klanglich guten Mitschnitt von Mrawinsky. Den finde ich singulär - er ist freilich ganz anders, als wir es gewohnt sind Bruckner zu hören. Mrawinsky dirigiert Bruckner so wie Schostakowitsch und Tschaikowsky auch - die Musik wird reduziert auf ihre expressive Essenz. Alles geschmäcklerische Schönspielen wird ausgemerzt, Schwelgen im Schönklang gibt es nicht. Mrawinsky, der geborene Aristokrat, der das kommunistische Regime in Russland immer abgelehnt hat und sich nie hat verbiegen lassen, folgt im Grunde Schönbergs expressionistischem Bekenntnis: Musik soll nicht schön, sondern wahr sein! Gerade bei Bruckner ist sein Dirigat von einer geradezu bestürzenden Ernsthaftigkeit. Da kommt man ins Grübeln und es geht ins Philosophische. In der westlich-romantischen Tradition wird Bruckners Musik immer gerne als anti-subjektiv gesehen (das "unpersönliche Blech") im Sinne romantischer Naturreligiosität: "Ich bin nichts, Gott ist alles!" Bei Mrawinsky hört man fast erschreckt, wie subjektiv-expressiv auch Bruckner klingen kann. Was ist denn nun wirklich richtig? Kann Bruckner nicht tatsächlich auch so etwas wie ein "Proto-Schostakowitsch" sein, nämlich subjektive Bekenntnismusik?


    Bei Youtube kann man die Aufnahme hören:



    Liebe Grüße

    Holger

  • Dr. Holger Kaletha Macht Abbado also an der gleichen Stelle ein Accelerando wie Mravinsky?

    Die mir vorliegende Mravinsky Aufnahme ist klanglich leider nur schwer zu ertragen, der youtube-Link klingt im Vergleich dazu viel besser! Da werde ich mal nach einer besseren Ausgabe suchen.


    Wo beginnt denn nun genau die Durchführung im ersten Satz? Ich hatte weiter oben diese Fragen anhand des timodes der 1976-Karajan Aufnahme gestellt und bin mir da nicht sicher. Der diskutierte Höhepunkt bei Minute 5 müsste ja zur Entwicklung des Seitenthemas gehören ('Gesangsperiode'). Danach kommt dann das dritte Thema und ab 10:04 (Karajan 1976, bei Mravinsky etwas später) beginnt die Durchführung. Oder? Bruckners Formsprache, die Übergänge und auch die Zwischenstücke (Trios) stellen mich vor einigen Herausforderungen.


    Hier findet sich eine gute Strukturanalyse, aber ich habe eben keine Partitur:

    https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/13843


    NACHTRAG: meine Frage hat sich erledigt, ich konnte inzwischen über den weiter oben verlinkten Mitschnitt von Eliahu Inbal die Partitur einsehen und die Durchführung beginnt wie vermutet bei Karajan (1976) ungefähr bei 10:04 (Takt 227).


    Viele Grüße

    Christian

  • Wie sieht man heute eigentlich die Aufnahmen von Schuricht der 9ten (auch der 8ten)? Immer noch ein Muss, oder mittlerweile angesichts der vielen anderen Aufnahmen nicht mehr kanonisch?


    Herzliche Grüße


    Christian

    Von Schuricht gibt es minimm zwei Aufnahmen der 9., eine aus dem Kriegsjahr 1943 und die späte bekante mit den Wiener Philharmonikern. Ich höre hier ein Phänomen, das ich auch bei anderen Aufnahmen feststelle: Schuricht überträgt seine Betroffenheit über die Umstände der Kriegsjahre in die Musik, speziell bei Bruckner. Was man aus der Aufnahme heraushört ist eine Art Apathie. Vergleicht man das mit der ein Jahr später entstandenen Aufnahme Wilhelm Furtwänglers, so ist gerade der (damalige) Finalsatz bei Furtwängler ein aufbegehrender Schmerzensschrei, Schuricht klingt, als hätte er aufgegeben. Furtwängler hat die 9. nach Kriegsende nicht mehr gespielt (verbunden mit der Einschränkung, daß Furtwängler den Krieg auch nur um wenige Jahre überlebt hat), während Schuricht Bruckner immer auf seien Programmen hatte, auch die 9. Die dfrei EMI-Aufnahmen bestehen nicht zuletzt durch ihre Aufnahmetechnik, aber auch ihre Schlankheit, Klarheit, die ungewöhnlichen Tempi.


    Persönlich würde ich Schuricht nach wie vor auf die Referenzliste setzen, der ist zeitlos, auch wenn der Wettbewerb deutlich zugenommen hat.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Hallo in die Runde,


    ich war gestern verhindert zu antworten, habe aber auf dem Mobiltelefon mitgelesen.


    @Christian B:

    Habe in die Wiener Aufnahme hineinhören können - es für mich schon OK und die Ansätze der Sichtweise Karajans sind hörbar. So richtig mitreißen wie die von mir besprochene DVD kann mich diese CD jedoch nicht. Auch die Aufnahmetechnik ist nicht auf dem Stand der DVD.


    Obwohl die Neunte relativ häufig in Karajans Konzertprogrammen auftaucht, fehlt - ähnlich wie bei der Fünften - eine späte Studioproduktion mit den Wienern.

    Ja, was m.E. zu bedauern ist, da er ja z.B. mit der späten 8. noch einmal sehr gute Musik dirigieren konnte.

    Der Unterschied zu der 1985-Video mit den Berlinern und den späten CDs mit den Wienern kann ich mir - spekulativ- so erklären: Er hatte zu diesem Zeitpunkt einen guten Draht zu den Wienern, während sein Verhältnis mit den Berlinern in der Spätphase als "angeknackst" bezeichnet werden kann.

    Thielemann wurde einmal auf seine Arbeit mit verschiedenen Orchestern angesprochen, etwas, was ihm sehr viel Freude macht.

    Da sagte er dann sinngemäß "es ist unglaublich wichtig, dass man so schnell wie möglich einen guten Draht zum Orchester bekommt."

    Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass dieses Youtube-Video von 1985 zuweilen so wirkt, als ob da die Musiker ihren Job auf anständigem handwerklichem Niveau machen. Besondere Vorstellungen oder Ambitionen im Sinne des "unbedingten Gestaltungswillens" kann ich weder vom klanglichen als auch vom optischen Eindruck her im Verhältnis zwischen dem Chefdirigenten und dem Orchester ausmachen. Da ist die DVD aus Wien tatsächlich eine andere Welt.


    Holger

    In das Video mit Mravinsky habe ich hineingehört. Ich muss zugeben, dass es nicht meine Welt ist.

    Aber Du hast da schon treffende Worte gefunden:

    Mrawinsky dirigiert Bruckner so wie Schostakowitsch und Tschaikowsky auch - die Musik wird reduziert auf ihre expressive Essenz. Alles geschmäcklerische Schönspielen wird ausgemerzt, Schwelgen im Schönklang gibt es nicht. Mrawinsky, der geborene Aristokrat, der das kommunistische Regime in Russland immer abgelehnt hat und sich nie hat verbiegen lassen, folgt im Grunde Schönbergs expressionistischem Bekenntnis: Musik soll nicht schön, sondern wahr sein!

    Nun, bei allem Respekt für Schönberg habe ich mich mittlerweile von solchen Meinungen entfernt.

    Das Gute bei Karajans-Wiener Aufführung, bei so manchen Wand-Aufnahmen und auch der herrlichen Giulini-Wien-DG-CD ist ja für mich, dass sie "wahr" sind aber die Wahrheit eben in Schönheit eingepackt wird, was ich sehr schätze.

    Celibidache ( der ja Buddhist war)hat es so gesagt: man wird von der Musik mit der schönen Oberfläche angezogen, dann tiefer hineingezogen, bis man zum Kern der künstlerischen Aussage, der eigentlichen Wahrheit durchdringt.


    Der von mir geschätzte amerikanischer Bischof Barron sagte es in Bezug auf den katholischen Glauben so: es beginnt mit dem Schönen, mit der Ästhetik, dann gelangt man weiter zum "Guten und Richtigen", und von dort aus zur Wahrheit, zur Kernbotschaft des Glaubens.

    Wenn Leute also zum katholischen Glauben konvertierten, so sind sie in den meisten Fällen nicht von den sicher sehr inhaltsreichen Seiten des Katechismus, sondern erst einmal durch das Schöne "magisch" angezogen worden: die Schönheit der Liturgie ( Ratzinger schrieb ein Buch über sie...), die Sakralmusik, der Orgelklang, die Kunst in Gemälden, Altären und Statuen, der Duft des Weihrauchs ( da haben wir ihn wieder...) und die als Lobpreis in Stein empfundene traditionelle Kirchenarchitektur. Das ist tatsächlich oft der Anfang einer Konversionsgeschichte.

    So ähnlich ist es mit der Musik: wenn man dem Hörer gleich nur teilweise durchaus bedrückende Wahrheiten um die Ohren haut, dann macht er sich unter Umständen innerlich zu, d.h. er kommt erst gar nicht zur künstlerischen Wahrheitserfahrung. "Geh mir bloß weg mit deinen Wahrheiten" wäre dann so eine typische Reaktion.


    Doch jetzt einmal kurz zur musikalischen Besprechung meiner Eindrücke:

    Das Orchester spielt nicht auf dem Niveau etwa der Wiener Philharmoniker. Der Klang an sich ist nicht zu einer angenehmen Einheit verschmolzen.

    Die tatsächlich teilweise doch recht subjektiven Maßnahmen des Dirigenten verstehe ich zwar von den Absichten her. Aber ich finde nicht, dass hier eine große Einheit wirklich gekonnt dargestellt werden konnte.

    Was die Klangqualität angeht, so habe ich den Höhenregler heruntergedreht, aber ich empfand den Sound immer noch als eher unangenehm.

    Alles geschmäcklerische Schönspielen wird ausgemerzt, Schwelgen im Schönklang gibt es nicht.

    Nun, wenn man etwas schön klingend spielt, wenn also die Instrumente rund, voll warm und das Orchester trotz allem luftig und transparent klingt ( so ist bei jener Karajan-DVD), dann ist das aus meiner Sicht keineswegs geschmäcklerisch. Da fehlt ja dann als nächstes Stufe das man es als "heuchlerisch" bezeichnet. Die Schönheit ist m.E. der Weg zur Wahrheit. Nebenbei gesagt macht(e) das ja die Klasse eines solchen Dirigenten und eines solchen Top-Orchesters aus, dass man es überhaupt so schön spielen/dirigieren konnte. Das ist ja nicht irgendwie einfach, sondern extrem schwer!

    In Proben hört man oft Karajan, wie er z.B mit den Geigen eine p-Passage übt. Er lässt sie das richtig Forte und energetisch spielen. Dann sagt er: jetzt spielen Sie wieder Piano, aber behalten Sie die Energie. Das ist nicht nur eine spieltechnische, sondern eine sehr schwierige mentale Sache, die unglaublich viel Konzentration kostet.

    Zum Schwelgen: das gehört ja zur Romantik dazu, ist geradezu essentiell. Mein Professor für Harmonielehre hat im Kurs für die Romantik immer wieder betont: Man hat den schönen Schmerz, die expressiven Vorhalten, Stimmführungen und Harmonien geradezu exzessiv ausgekostet. Er spielte uns das Tristan-Vorspiel vor und wir gingen in die harmonische Analyse. Sein Fazit: so eine Musik ist eigentlich ein permanenter Orgasmus...

    Also: lass es strömen, lass es fließen, lass Dich mitreißen vom Strom der romantischen Musik. Wie gesagt muss man immer betonen, dass bei Bruckner damit nie die Sentimentalität gemeint ist - niemals. Celibidache rief bei Proben immer gerne hinein: " Nicht sentimental!!"


    Was ist denn nun wirklich richtig?

    Bei Bruckner: es ist richtig, wenn es einfach das sein darf, was es ist. Man kann die Musik beleben, soll ihr aber nicht Gewalt antun.


    Ein schaffender Künstler ( wie ein Komponist oder Maler) muss einfach tun, was er tun muss. Ich habe neulich eine Malerin gefragt, was sie sich bei diesem oder jenem Gemälde gedacht habe. Sie sagte: "eigentlich gar nichts. Als ich fertig war, habe ich angefangen zu interpretieren und zu fragen, was es bedeuten könnte"...Ich trug ihr meine Interpretation vor und sie reagierte: "ja, das ist durchaus möglich".

    Bruckners Musik ist - so lapidar es klingt- in erster Linie ein Ausdruck seiner musikalischen Brucknerwelt. Es ist ein in sich abgeschlossener, von der lauten Welt abgesonderter und in sich lebender und webender Kosmos.

    Beim Hören entstehen sehr individuelle Assoziationen: ich z.B. höre beim 2. Satz der Vierten immer die Pilgerreise eines armen Mönchs. Er fügt sich willig in die traurige Realität dieser Welt, ist bereit "sein Kreuz auf sich zu nehmen", sehnt sich aber auch nach dem Glanz der überirdischen Welt. Auf seiner Reise erlebt er auch herrliche Erscheinungen - vielleicht hier eine Marienerscheinung oder dort eine Vision des Himmels- und dann kommt er doch wieder auf dem Boden der Hier und Jetzt an. Bei der Erkenntnis der Realität sinkt er in sich zusammen. Er erlebt so etwas wie Endlichkeit, Krankheit, Alter und wird auch mit Schwachkeit und Tod vertraut gemacht. Für mich ist das alles in diesem zweiten Satz der Vierten hörbar, aber andere Hörer haben vielleicht ganz andere Bilder vor Augen. Hier hat jeder Rezipient in meinen Augen auch auf seine Weise recht.

    "Richtig" ist ein Musizieren dann für mich, wenn der Dirigent der Musik ihre angemessene Geltung verschafft, sich aber nicht durch seine Subjektivismen oder seinen Eigenwillen störend zwischen die Musik und den Hörer stellt.

    Bei der Vierten Bruckners ist das übrigens bei der DG-Karajan Aufnahme mit den Berlinern in meinen Ohren das große Problem: Er will meinem Eindruck nach eine andere Musik haben als Bruckner schrieb. Für mich klingt diese Aufnahme richtiggehend absurd, irgendwie nach der Alpensymphonie von Strauss oder so etwas. Es gibt ja im Netz Leute, die es gerade so toll finden, wenn es kracht und knallt, wenn da "die Post abgeht".

    Ich fürchte nur, dass man auf diese Weise an der Oberfläche stecken, einer Oberfläche, die wenig mit dem Werk zu tun hat. Ja, man findet das toll, aber gelangt durch diese Darstellung wohl kaum zu einem tieferem Erleben dieser Musik.

    Aber gut, die Vierte soll hier nicht das Thema sein. Ich möchte demnächst einmal etwas über meine neuen Hörerfahrungen mit dieser mir sehr wichtigen Symphonie berichten, muss aber die Zeit dazu finden.


    Von daher finde ich nicht, dass Bruckner so eine bekenntnishafte Subjektivitätsmusik wäre im Sinne wie es möglicherweise Schostakowitsch ist.

    Bruckner ist zwar voll und ganz ein begeisterter Wagnerianer, aber er bringt die "weltlichen" und damals sehr modernen Ideen Wagners in seine sehr fromme und auch eigene Welt hinein. Dazu bedient er sich der konservativen Formen. Diese Kombination aus verschiedenen Einflüssen ist sehr einzigartig und künstlerisch mit dem was Wagner oder Brahms gemacht haben gleichwertig, wenn auch vom Resultat her völlig anders. Er schaffte sich einen eigenen musikalischen Kosmos, der einfach so ist, wie er ist.

    Wie ich schon weiter oben schrieb: das Weihevolle und der Weihrauch, das sind durchaus positive Dinge. Es ist heute irgendwie Standard geworden, solche Dinge als heuchlerisch hinzustellen. Man spricht oft vom hohlen oder falschen Pathos. Es gibt aber auch das echte Pathos, welches wunderbar sein kann. Ich suche z.B. bei eigenen Psalmvertonungen das Hehre, Heilige, das Hingegebene, das vom Profanen Abgesonderte. Dabei fand ich immer, dass man als Kirchenmusiker vom Wagner viel lernen kann, obwohl der ja nicht unbedingt "aus dem richtigen Geist" heraus schrieb. Wissend, dass z.B. der Parsifal durchaus kein christliches Werk ist, finde ich doch, dass es kaum eine expressivere Musik auf dem Planeten gibt, die in diese Richtung geht, bzw. die als Inspiration dienen kann.

    Hier denke ich gerade an die Abendmahlsmusik, gegen Ende des ersten Aktes.

    Offensichtlich hat der Bruckner es ähnlich empfunden und die hohe Qualität der wagnerschen Satz- und Kompositionstechnik versucht zu verstehen, damit er daraus Elemente in seine Bruckner-Welt bringen kann. Herausgekommen ist dabei seine ganz eigene Welt, und das ist ja auch gut so.

    Man sollte auch als Dirigent versuchen, in diese hineinzudringen, statt zu versuchen, eine eigentlich ganz andere Musik zu machen.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton,


    chapeau, wieder einmal ein Beitrag von dir, der Tamino zu einem der besten Klassikforen macht.


    Den aufgemachten Unterschied von Schönheit und Wahrheit habe ich nie verstanden, und Bruckner mit Schostakowitsch in Verbindung zu bringen schien mir völlig falsch. Dein Text setzt beides ins richtige Verhältnis.


    Ich bin gespannt, was du über Bruckners Vierte schreiben wirst.


    Gutes Hören

    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Mrawinsky, der geborene Aristokrat, der das kommunistische Regime in Russland immer abgelehnt hat und sich nie hat verbiegen lassen, ...

    Lieber Holger, mir ist Mrawinsky auch sehr wichtig. Und ich habe viele seiner Aufnahmen in meiner Sammlung. Er hat mich aber immer auch dazu herausgefordert, Alternativen zu seinen Deutungen heranzuziehen. Nur Mrawinsky, das ging bei mir nicht. Das gilt auch für Bruckner 9. Nun suchte ich immer ein Buch, eine seriöse Biographie über ihn. Wo finde ich zum Beispiel ausführlicher dargestellt, dass er das kommunistische Regime ablehnte? Das ist mir in dieser Deutlichkeit nicht bewusst. Ich nahm ihm bislang als einen Künstler war, der zwar Distanz zur Macht hielt, wenn es darauf ankam, sich aber als Bürger zur Sowjetunion bekannte. So wie Schostakowitsch, mit dem er eng verbunden war. Schließlich war er Träger einer der höchsten Auszeichnungen - des Leninpreises.


    Jewgeni Mrawinski (Евгений Александрович Мравинский, 1961, Musik)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Glockenton,


    Deine Beiträge #155, #131 und #142 sind wohl die besten Beiträge zu Bruckner, die ich je im Forum gelesen habe. Entsprechend lange habe ich als musikalischer Laie gebraucht, Teile davon zu verstehen. Manche Passage habe ich mehrmals lesen müssen, und manches bleibt mir unverständlich. Auf alle Fälle helfen Sie mir, tiefer in diese wunderbare Musik einzutauchen, als mir das bisher vergönnt gewesen ist. Vielen Dank dafür!!


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Macht Abbado also an der gleichen Stelle ein Accelerando wie Mravinsky?

    Die mir vorliegende Mravinsky Aufnahme ist klanglich leider nur schwer zu ertragen, der youtube-Link klingt im Vergleich dazu viel besser! Da werde ich mal nach einer besseren Ausgabe suchen.


    Wo beginnt denn nun genau die Durchführung im ersten Satz?

    Lieber Christian,


    das habe ich gar nicht so genau verglichen mangels Zeit. Meine CD scheint dieselbe Aufnahme (Aufnahmedatum 1980) zu enthalten wie sie bei Youtube zu sehen ist:


    51SEQUEtfuL._SY450_.jpg


    411kySiaKyL._SX450_.jpg


    Sicherlich kann man in so einem Bruckner-Symphoniesatz auch sowas wie eine Sonatensatzform in Umrissen erkennen. Aber hier stellt sich dann wohl dieselbe Frage wie bei Mahlers 9., ob dieses Analyseschema noch sinnvoll ist, also wirklich das beschreibt, was man im eigentlichen Hörprozess wirklich nachvollziehen kann. Bei Bruckner (und konkret zu diesem Satz) bin ich allerdings nicht so im Bilde, was Analysen angeht, wie bei Mahler.

    Von Schuricht gibt es minimm zwei Aufnahmen der 9., eine aus dem Kriegsjahr 1943 und die späte bekante mit den Wiener Philharmonikern. Ich höre hier ein Phänomen, das ich auch bei anderen Aufnahmen feststelle: Schuricht überträgt seine Betroffenheit über die Umstände der Kriegsjahre in die Musik, speziell bei Bruckner. Was man aus der Aufnahme heraushört ist eine Art Apathie. Vergleicht man das mit der ein Jahr später entstandenen Aufnahme Wilhelm Furtwänglers, so ist gerade der (damalige) Finalsatz bei Furtwängler ein aufbegehrender Schmerzensschrei, Schuricht klingt, als hätte er aufgegeben.

    Das finde ich nun interessant, lieber Thomas. Von Furtwängler habe ich einen Live-Mitschnitt der 5. Bruckner aus den Kriegsjahren und finde ihn sehr beeindruckend, geradezu magisch anziehend - wo allerdings Bruckner-Liebhaber gerne an Furtwängler herummäkeln. Schuricht und Furtwängler zeigen, dass es wohl doch eine "expressive" Richtung der Bruckner-Interpretation auch in Deutschland gibt, also das, was Mrawinsky macht, so Bruckner fremd auch nicht ist! :D

    Nun, bei allem Respekt für Schönberg habe ich mich mittlerweile von solchen Meinungen entfernt.

    Das Gute bei Karajans-Wiener Aufführung, bei so manchen Wand-Aufnahmen und auch der herrlichen Giulini-Wien-DG-CD ist ja für mich, dass sie "wahr" sind aber die Wahrheit eben in Schönheit eingepackt wird, was ich sehr schätze.

    Celibidache ( der ja Buddhist war)hat es so gesagt: man wird von der Musik mit der schönen Oberfläche angezogen, dann tiefer hineingezogen, bis man zum Kern der künstlerischen Aussage, der eigentlichen Wahrheit durchdringt.

    Lieber Glockenton,


    da sind wir bei tieferen Fragen der Musikästhetik. :) Schönbergs Aphorismus ist ein expressionistisches Manifest - und interessant ist finde ich, dass das alles letztlich auf Richard Wagner zurückgeht. Wagner bemüht diesen Gegensatz "nicht nur schön, sondern wahr=expressiv" nämlich in seiner Beethoven-Schrift von 1870, die so eine Art Kampfschrift gegen seinen Widersacher, den großen Ästheten Eduard Hanslick, ist. Mit Schopenhauer kritisiert Wagner das "Musikalisch-Schöne" Hanslicks als etwas, was nur an der Oberfläche der bloßen Vorstellung bleibt. Der Ausdruck und die Ausdrucksgeste ist das, was sozusagen hinter der Fassade des schönen Scheins sich befindet - wo mit Schopenhauer die "Welt als Wille" hinter der "Welt als Vorstellung" zum Vorschein kommt. Deswegen kann man mit guten Gründen Wagner - und den späten Liszt - als Väter der expressionistischen Ausdrucksmusik ansehen. Bei Wagner ist die Ausdrucksästhetik eingebunden in eine Ästhetik nicht nur des Schönen, sondern des Erhabenen. Das Erhabene ist etwas, was das Schöne transzendiert. In seinem Übermaß und Unmaß eines Über-Großen und Unendlichen ist es ja das, was die Maßhaftigkeit des Schönen prinzipiell aufhebt. Zum Wagner-Kreis gehörte Arthur Seidl, der eine Schrift Vom Musikalisch-Erhabenen geschrieben hat. Für ihn ist die Musik nicht nur eine "tönend-bewegte Form" (Hanslicks Definition), sondern "tönend-bewegter Ausdruck", und ausdrucksvoll wird die Musik dann, wenn sie "unschön" wird. Das Ausdrucksvolle ist nach Seidl das A-Metrische, A-Taktische, Disproportionale, also das, was zum Vorschein kommt, wenn die Harmonie der schönen Form gesprengt wird, es "unharmonisch" wird. Dann ist es nicht mehr weit zum Expressionismus. Wenn die Ausdrucksgeste in einem Bruch der schönen Form wahrgenommen wird, dann kann sie ja nicht mehr gemessen werden durch das Kriterium des Schönen. Das Wahre und das Schöne werden zu Antithesen. Natürlich sind das nur Tendenzen. Auch bei Wagner und Schönberg gibt es selbstverständlich Schönheit. Aber die Schönheit verliert ihre integrierende und totalisierende Funktion im Expressionismus. Ein Musikstück muss nicht mehr im Ganzen schön sein, um eine ästhetische Qualität zu haben. Die reine Ausdrucksqualität kann nicht mehr in das Schöne integriert werden, sondern differiert mit dem Schönen, wird zum "Durchbruch" der schönen Form. Karajan ist ein Ästhet, der auf der integrierenden Funktion des Schönen beharrt, gerade hier bei Bruckner. Interessant ist aber, wie toll er Schönberg und Webern dirigieren kann. Das habe ich spät entdeckt. Da wundert man sich, wie expressionisch auch Karajan sein konnte. Ich finde Karajans Aufnahmen der 2. Wiener Schule überragend! ^^


    Das Orchester spielt nicht auf dem Niveau etwa der Wiener Philharmoniker. Der Klang an sich ist nicht zu einer angenehmen Einheit verschmolzen.

    Mrawinsky, der Probenfanatiker, wird wahrscheinlich nach dieser Aufführung ziemlich zerknirscht gewesen sein - ähnlich wie Toscanini, der über seine Aufnahmen nur fluchen konnte. ^^ Bei Beethovens 7. haben finde ich was Genauigkeit angeht Mrawinskys Leningrader gegenüber Kleibers Wienern die Nase vorn. Er hat wahrscheinlich auch da über 200 Proben gemacht wie bei Brahms. Aber im Ernst: Ich glaube, Mrawinsky wollte einfach nicht den Klang zu einer "angenehmen Einheit" verschmelzen (s.o.!)

    Nun, wenn man etwas schön klingend spielt, wenn also die Instrumente rund, voll warm und das Orchester trotz allem luftig und transparent klingt ( so ist bei jener Karajan-DVD), dann ist das aus meiner Sicht keineswegs geschmäcklerisch. Da fehlt ja dann als nächstes Stufe das man es als "heuchlerisch" bezeichnet. Die Schönheit ist m.E. der Weg zur Wahrheit.

    Naja, schön voll und satt und rund klingen die russischen Streicher insbesonders - das ist deren Spieltradition. Das "Schwelgen im Schönen" oder "Schönklang" ist aber schon eine Tendenz in Richtung Ästhetizismus, wo sich die Wahrnehmung des schönen Scheins verselbständigt. Klassisch ist ja die Einheit von wahr, schön und gut - das ist die mittelalterliche Transzendentalienlehre. Das geht letztlich auf Platon zurück. Allerdings: Das Schwelgen im (Sinnlich-)Schönen dient ja nicht mehr der Darstellung der Form oder dem Ausdruck, das Schöne verliert so die dienende Funktion gegenüber dem Wahren und wird zum Selbstzweck. Damit vermittelt es sich letztlich nicht mehr mit dem Wahren und Guten. Ich sehe das durchaus nicht negativ - das würde auch der Musik nicht gerecht werden. Das Selbstverliebt-Schwelgerische gehört insbesondere zur Wiener Tradition. Klar. Das ist der Wiener Walzer. Ohne das wäre diese Musik nur öde. ^^ Aber ein puristischer Expressionist verbietet sich das. Das ist natürlich puristisch-radikal, aber letztlich erhaben. :D

    Zum Schwelgen: das gehört ja zur Romantik dazu, ist geradezu essentiell. Mein Professor für Harmonielehre hat im Kurs für die Romantik immer wieder betont: Man hat den schönen Schmerz, die expressiven Vorhalten, Stimmführungen und Harmonien geradezu exzessiv ausgekostet. Er spielte uns das Tristan-Vorspiel vor und wir gingen in die harmonische Analyse. Sein Fazit: so eine Musik ist eigentlich ein permanenter Orgasmus...

    Der Tristan ist schon interessant - weil er so ambivalent ist. Die Emanzipation der Sinnlichkeit in Verbindung mit Expressivität. Klar, das ist Erotik pur. :D Die ästhetische Grundkategorie ist ja eigentlich der Enthusiasmus, also die Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit. Novalis sprach von einer "Kultur des Enthusiasmus". Die Romantiker hatten auch keine Hemmung, den Hörer durch den Glanz des Schönen zu verführen und zu verzaubern, so dass dann das Problem entsteht, dass der Mensch aus dieser ästhetischen Scheinwelt nicht mehr zurück in die Wirklichkeit findet ("Der goldene Topf"). Dem 20. Jhd. ist genau das zunehmend suspekt geworden.

    Beim Hören entstehen sehr individuelle Assoziationen: ich z.B. höre beim 2. Satz der Vierten immer die Pilgerreise eines armen Mönchs. Er fügt sich willig in die traurige Realität dieser Welt, ist bereit "sein Kreuz auf sich zu nehmen", sehnt sich aber auch nach dem Glanz der überirdischen Welt. Auf seiner Reise erlebt er auch herrliche Erscheinungen - vielleicht hier eine Marienerscheinung oder dort eine Vision des Himmels- und dann kommt er doch wieder auf dem Boden der Hier und Jetzt an. Bei der Erkenntnis der Realität sinkt er in sich zusammen. Er erlebt so etwas wie Endlichkeit, Krankheit, Alter und wird auch mit Schwachkeit und Tod vertraut gemacht. Für mich ist das alles in diesem zweiten Satz der Vierten hörbar, aber andere Hörer haben vielleicht ganz andere Bilder vor Augen. Hier hat jeder Rezipient in meinen Augen auch auf seine Weise recht.

    "Richtig" ist ein Musizieren dann für mich, wenn der Dirigent der Musik ihre angemessene Geltung verschafft, sich aber nicht durch seine Subjektivismen oder seinen Eigenwillen störend zwischen die Musik und den Hörer stellt.

    Das finde ich ist eine wunderbare musikhermeneutische Analyse!

    Bei der Vierten Bruckners ist das übrigens bei der DG-Karajan Aufnahme mit den Berlinern in meinen Ohren das große Problem: Er will meinem Eindruck nach eine andere Musik haben als Bruckner schrieb. Für mich klingt diese Aufnahme richtiggehend absurd, irgendwie nach der Alpensymphonie von Strauss oder so etwas.

    Da geht es mir ähnlich mit Karajans Mahler. Die "Kindertotenlieder" klingen bei ihm viel zu schön wie klangsinnlich opulenter Richard Strauss - da ist für mich Karajans Ästhetisierung fehl am Platze.

    Von daher finde ich nicht, dass Bruckner so eine bekenntnishafte Subjektivitätsmusik wäre im Sinne wie es möglicherweise Schostakowitsch ist.

    Bruckner ist zwar voll und ganz ein begeisterter Wagnerianer, aber er bringt die "weltlichen" und damals sehr modernen Ideen Wagners in seine sehr fromme und auch eigene Welt hinein. Dazu bedient er sich der konservativen Formen. Diese Kombination aus verschiedenen Einflüssen ist sehr einzigartig und künstlerisch mit dem was Wagner oder Brahms gemacht haben gleichwertig, wenn auch vom Resultat her völlig anders. Er schaffte sich einen eigenen musikalischen Kosmos, der einfach so ist, wie er ist.

    S.o.! Schuricht und Furtwängler haben ihn offenbar durchaus im Sinne bekenntnishafter Subjektivitätsmusik nehmen können. Ich glaube letztlich auch, dass die "romantische" bzw. romantisch-ästhetische Deutung Bruckner näher ist. Aber solche radikalen Sichweisen finde ich immer erhellend dahingehend, dass sie zeigen, dass wir vor dem Hintergrund der romantischen Tradition vielleicht die expressivistischen Komponenten in Bruckners Musik allzu leicht überhören, die sicher nicht so dominierend sind, aber eben auch da. Deswegen gefällt mir einmal mehr Abbado. Er schafft wie immer eine Balance. Bei ihm ist das Expressive so eine Art Durchbruch und Ausbruch - das Schöne aber bleibt. :) :hello:

    Lieber Holger, mir ist Mrawinsky auch sehr wichtig. Und ich habe viele seiner Aufnahmen in meiner Sammlung. Er hat mich aber immer auch dazu herausgefordert, Alternativen zu seinen Deutungen heranzuziehen. Nur Mrawinsky, das ging bei mir nicht. Das gilt auch für Bruckner 9. Nun suchte ich immer ein Buch, eine seriöse Biographie über ihn. Wo finde ich zum Beispiel ausführlicher dargestellt, dass er das kommunistische Regime ablehnte? Das ist mir in dieser Deutlichkeit nicht bewusst. Ich nahm ihm bislang als einen Künstler war, der zwar Distanz zur Macht hielt, wenn es darauf ankam, sich aber als Bürger zur Sowjetunion bekannte. So wie Schostakowitsch, mit dem er eng verbunden war. Schließlich war er Träger einer der höchsten Auszeichnungen - des Leninpreises.

    Lieber Rüdiger,


    Christian B. hatte neulich einen Link zu einem Mrawinsky-Film verlinkt, wo das sehr eindrucksvoll herauskommt. Das war mir auch neu! :)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Schließlich war er Träger einer der höchsten Auszeichnungen - des Leninpreises.

    Volkskünstler der UdSSR (1954)

    Held der sozialistischen Arbeit (1973)

    Lenin-Preis (1961)

    Stalin-Preis 1. Klasse (1946)

    Orden der Oktoberrevolution (1983)

    Orden des Roten Banners der Arbeit (1957)

    Orden der Völkerfreundschaft (1978)

    Orden des Ehrenabzeichens (1939)

    50 Jahre Chefdirigent des Akademischen Symphonieorchesters der Leningrader Philharmonie


    Hochdekorierter als Mrawinski kann ein sowjetischer Künstler kaum sein, dessen Renommee von Stalin bis Gorbatschow unbestritten war. Vielleicht aber wollte man das im Westen anders sehen, um das eigene Gemüt zu beruhigen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hochdekorierter als Mrawinski kann ein sowjetischer Künstler kaum sein, dessen Renommee von Stalin bis Gorbatschow unbestritten war. Vielleicht aber wollte man das im Westen anders sehen, um das eigene Gemüt zu beruhigen.

    Das hat nichts mit dem Westen zu tun. In dem biographischen Film kommen seine russischen (!) Freunde und andere russische Künstler zu Wort. Selbst bei Gorbatschov blieb seine tiefe Abneigung gegenüber dem Sowjet-Regime erhalten. Er glaubte nicht an eine Besserung. Er war aristokratischer Herkunft und die Familie hatte eine besondere Position im Zarenreich. Natürlich hat er seine Abneigung gegen das Sowjetregime nie öffentlich gezeigt. Sonst wäre er im Gulag gelandet.

  • Lieber Holger,


    aber es war doch gerade Deine These, dass sich Abbado hier mit dem Accelerando in der Nachfolge von Mrawinsky befindet (was ich eher nicht glaube)? Wozu dann der Vergleich?


    Zur Struktur: ich finde, dass der erste Satz der Symphonie geradezu klassisch angelegt ist - abgesehen davon, dass es drei Themen in der Exposition gibt und dass die Reprise mit dem Seitenthema einsetzt. Und die Art der Durchführung ist schon auch sehr besonders. Aber die Anlage insgesamt ist sonst streng aufgebaut - wenn man sie einmal begriffen hat.


    Viele Grüße, Christian

  • Ich danke für die aufmunternden Worte und hoffe so zu schreiben, dass man es gut verstehen kann.

    Manche Passage habe ich mehrmals lesen müssen, und manches bleibt mir unverständlich.

    Lieber La Roche,


    immer gerne nachfragen :)



    Bei Wagner ist die Ausdrucksästhetik eingebunden in eine Ästhetik nicht nur des Schönen, sondern des Erhabenen. Das Erhabene ist etwas, was das Schöne transzendiert. In seinem Übermaß und Unmaß eines Über-Großen und Unendlichen ist es ja das, was die Maßhaftigkeit des Schönen prinzipiell aufhebt.

    Lieber Holger,


    ich finde, das ist ein ganz wichtiger Satz.

    Wenn ich an den eigenen Stil denke, den ich satztechnisch und als Organist gefunden habe, dann muss ich tatsächlich sagen, dass mich eben dieses Erhabene fasziniert.

    Das ist es, was ich immer suche, etwas das nobel und edel ist.

    Jetzt frage ich mich natürlich, ob wir jetzt eigentlich dasselbe meinen, wenn wir vom Erhabenen sprechen.


    Ich empfinde so manchen Blechbläsersatz im Choralstil bei Bruckner als "erhaben". Und da gebe ich gerne zu, dass diese Sätze vor allem dann erhaben wirken, wenn die vorhergehende Musik unruhig, eher dissonant und fahl klang. Bruckner gebraucht oft das Mittel der Einstimmigkeit im Unisono, d.h. das Orchester spielt die gleichen Noten, nur eben in Oktaven. Manchmal macht er es so, dass er in einer Passage hauptsächlich den Grundton, die Quinte und die Quarte erklingen lässt, welche ja nichts anderes als eine Quinte in Inversion ist.

    Dadurch entsteht ein fahler, mystischer Eindruck. Danach kommt dann ein vollstimmiger Blechbläsersatz, der Kraft und Wärme ausstrahlt. Das ist so ähnlich, wie wenn man auf Sylt bei Windstärke 6 im Strandkorb sitzt. Am Himmel gibt es Wolken aber auch blaue, wolkenlose Phasen. Wenn die Wolke da ist, sieht das aufgewühlte Meer bedrohlicher aus, und der als kalt empfundene Wind verstärkt den "grauen" Eindruck. Dann kommt sie endlich wieder, die Sonne. Ach ja, wie warm es plötzlich auf der Haut wird, gerade wenn man vorher im Wasser war. Man fühlt sich so, als wenn man in eine warme Decke gehüllt wird. Alles wird in herrliche Farben getaucht, und das graue bedrohliche Meer sieht nun gleißend schön, auch im Kontrast zwischen tiefblau und dem strahlenden Weiß der mächtigen Brandungswellen.

    Der Unterschied wird aber durch den Wechsel zwischen Wolke und Sonne wesentlich deutlicher als bei einem reinen Wolken- oder Sonnentag.


    Dann gibt es die, wie ich sie nenne, "angenehmen Dissonanzen". Man kann sie einerseitzs explizitz als "schönen Schmerz" mit Vorhalten hören, die sich gemäß der klassischen Harmonielehre aufzulösen haben. Aber es gibt auch dissonante Akkord-Beimischungen, die dann wunderbar klingen, wenn das "Voicing", also die Stimmführung sie so weit auseinanderlegt, dass sie dennoch angenehm klingen. Sie müssen sich nicht zwangsläufig auflösen. In gewissen Situationen kann auch eine Quarte im Sopran gut klingen, wenn im Bass schon die Durterz erklingt, was eigentlich ein No-Go wäre.

    Ich kann hier keine eigenen Notenbilder einstellen, sonst könnte ich es zeigen.


    Der Punkt dabei ist: Erhaben und expressiv hängen zusammen, so wie eben reine Farben als unnatürlich empfunden werden.

    Musikalisch gesehen ist es dann entweder ein Nacheinander ( horizental) oder sogar ein Miteinander ( vertikal).

    Durch die Beimischungen werden reine "Farben" im Satz gebrochen.

    In Norwegen gibt es ja die Holzhäuser. Sie werden nie in reinen Farben des Regenbogenspektrums gestrichen, weil sie dann als Störung innerhalb der gebrochenen Farben der Natur empfunden würden. Das habe ich jetzt aus Werbeprospekten der Firma Jotun gelernt... ^^


    Als sehr "erhaben" empfinde ich z.B. das Vorspiel zum Tannhäuser, vor allem der Anfang mit den Blechbläsern, und gerade, wenn es so wie hier gespielt wird:


    MC0yMzQ5LmpwZWc.jpeg


    ( ich habe die CD nicht bei JPC gefunden)


    Nun könnte man sagen, dass es da doch konsonant und "nur schön" anfängt. Das stimmt aber so nicht. Die wahre Schönheit ist auch mit Dissonanzen und Gewürzen versehen, zwar nicht ganz so offensichtlich, aber doch vorhanden. In Takt 5 etwa hat man schon einen "tverrstand" ( so heißt es auf Norwegisch, kenne den deutschen Ausdruck nicht. Direkt übersetzt: Querlage oder Querstand), d.h. er wechselt direkt nacheinander, ohne irgendwelche dominantische Modulationen, von Fis-moll nach Fis-Dur - herrlich, in diesem Fall.

    Dann in Takt 6 springt er unvorbereitet auf die Septime im Bass. Du hast dann H-Dur mit A im Bass. Diese Septime wurde aber nicht vorbereitet. Auch dieses nicht Vorbereiten ist im strengen Choralsatz des Barock verboten. Die Septime A ist zum Grundton H durchaus dissonant, denn die Umkehrung dieses Intervalls ergibt eine große Sekunde - ein dissonantes Intervall.

    Im weiteren Verlauf des Stücks geht es immer so weiter - du wirst mit angenehmen Dissonanzen überströmt.

    Es klingt schön und ist doch dissonant. Auch deshalb klingt für mich dieses Vorspiel "erhaben". Er täuscht harmonische Zusammenhänge vor, die eine Sekunde später sich als anders gemeint entpuppen. Was einem für Chromatik und Dissonanzen da untergeschoben werden, merkt man nicht, weil er immer wieder zwischendurch auf harmonische Konventionen des frühen Barock zurückkommt, so dass man einen Eindruck von "reiner" und "heiliger" Musik bekommt. Technisch gesehen schiebt er einem aber ständig Beimischungen unter, wodurch - meiner Meinung nach- der Eindruck des Erhabenen umso kräftiger wird. In diesem "Unterschieben" liegt das Geheimnis, welches uns zur Manipulation der Gefühle durch Wagner hinführt.


    Bruckner sog diese Ideen Wagners wie ein Schwamm auf, und ich kann ihn da gut verstehen. Wie ich schon sagte, hat er diese in seine Welt integriert, wodurch eine andere, sehr eigene Musikwelt entstand. Wenn es nun um die Interpretation des Dirigenten geht, so meine ich, dass man bei der Klangschönheit bleiben kann, weil der Notentext an sich schon genug harmonische Gewürze enthält. Man soll diese Gewürze einfach arbeiten lassen, sie aber nicht extra herausdrängen, weil sie im Zusammenhang ihre wahre Wirkung entfalten.

    Das ist wie bei einem guten Essen. Zuviel Salz ist nicht gut...

    Oder ein anderes Beispiel aus der Pfeifenwelt: es gibt den Perique, einen Pfeffertabak. Man kann ihn tatsächlich nicht pur rauchen, das würde keiner durchstehen. Aber als kleine Beimischung kann er sich sehr gut machen.

    Das ist eine romantische, wagnerische Ästhetik, die etwa der Monteverdis oder der des Barocks entgegensteht. Harnoncourts Lebenswerk besteht ja darin, dass herauszuarbeiten.


    Man könnte sich generell fragen, wieso die schönste Musik der Menschheit immer auch einen traurigen Hintergrund haben muss. Tod, Leid, Trost und Erlösung.... da denkt man gleich an die Matthäus-Passion, das Deutsche Requiem, oder eben auch an Bruckners Symphonien.

    Wirklich expressiv wirkt die musikalische künstlerische Wahrheit, wenn sie mit dem Schönen und der Ästhetik kombiniert wird, nicht wenn da ein Gegensatz aufgebaut wird. Wahrheit muss nebenbei gesagt auch nicht immer hässlich sein - es gibt auch die Gute und positive Wahrheit.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)


  • aber es war doch gerade Deine These, dass sich Abbado hier mit dem Accelerando in der Nachfolge von Mrawinsky befindet (was ich eher nicht glaube)? Wozu dann der Vergleich?


    Zur Struktur: ich finde, dass der erste Satz der Symphonie geradezu klassisch angelegt ist - abgesehen davon, dass es drei Themen in der Exposition gibt und dass die Reprise mit dem Seitenthema einsetzt. Und die Art der Durchführung ist schon auch sehr besonders. Aber die Anlage insgesamt ist sonst streng aufgebaut - wenn man sie einmal begriffen hat.

    Lieber Christian,


    ich habe mich bislang einfach nicht intensiv mit diesem Satz beschäftigt, werde das aber zumindest ansatzweise nachholen. Versprochen! ;)


    Ich hatte ja auf Kurths Unterscheidung von "Form" und "Formung" hingewiesen. Bruckner ist einerseits klassisch geprägt und andererseits durch Wagner. Dadurch bekommt die klassische Formarchitektur einen anderen Sinn. Es ist nicht mehr so einfach wie bei einem klassischen Thema, das erst "gesetzt" wird und dann entwickelt sich daraus etwas in der Durchführung. Bei Bruckner passiert die Entwicklung schon vorher, deren Resultat dann die Themensetzung ist. Das sind die Brucknerschen Einleitungen. Peter Gülke spricht da von "Mündungen". :hello:


    Später mehr - auch zu Glockentons wunderbarem Beitrag!


    Schöne Grüße

    Holger

  • Es ist nicht mehr so einfach wie bei einem klassischen Thema, das erst "gesetzt" wird und dann entwickelt sich daraus etwas in der Durchführung. Bei Bruckner passiert die Entwicklung schon vorher, deren Resultat dann die Themensetzung ist.

    Ja, das ist in der Exposition gut nachzuvollziehen: Das erste Thema entwickelt sich und offenbart sich erst nach und nach in seiner ganzer Pracht. Beim Gesangsthema ist es anders.

    Trotz dieser Entwicklung von Themen in der Exposition gibt es dann durchaus eine Durchführung, in der diese unterschiedlichen Themen auf eine neue Weise verarbeitet werden.

    Ich hatte weiter oben dazu auch eine Analyse verlinkt, die ich sehr schlüssig finde.


    Viele Grüße

    Christian

  • ich finde, das ist ein ganz wichtiger Satz.

    Wenn ich an den eigenen Stil denke, den ich satztechnisch und als Organist gefunden habe, dann muss ich tatsächlich sagen, dass mich eben dieses Erhabene fasziniert.

    Das ist es, was ich immer suche, etwas das nobel und edel ist.

    Jetzt frage ich mich natürlich, ob wir jetzt eigentlich dasselbe meinen, wenn wir vom Erhabenen sprechen.

    Lieber Glockenton,


    ja ^^ - meine Beschäftigung mit dem "Erhabenen" ist letztlich auch von der Frage der ästhetischen Theorie motiviert, weil ich ja noch ein Buch über die musikalischen Ausdrucksprobleme herausbringen will. Ich finde speziell die Kategorie des "Erhabenen" in der Musikästhetik zwiespältig, vielleicht sogar in gewissem Sinne eine Verlegenheit.


    Viel klarer ist es in der bildenden Kunst. Das Erhabene ist das, was durch seine die menschlichen Maße übersteigenden Größe die "schönen Formen" sprengt - zur Formschönheit gehört immer die Grenze. Das Erhabene entgrenzt aber. Mit der Kategorie des Erhabenen lässt sich das Grenzenlose, die Formen Sprengende nun nicht nur privativ werten, sondern positiv. So ist z.B. in erhabenen Seebildern die Natur ganz groß und der Mensch ganz klein dargestellt. In der Musikästhetik hat man dann die Ästhetik des Erhabenen benutzt, um damit Musik zu rechtfertigen und nicht bloß als formlos unschön werten zu müssen, welche die Formen sprengt und Formkonventionen auflöst. Im 18. Jhd. war das der freie und expressivistische Stil von C. Ph. E. Bach.


    Bei Wagner wird das nun zur Retourkutsche - das zeigt sein Streit mit dem großen Ästhetiker Ediuard Hanslick. Wagner wirft Hanslick Oberflächlichkeit vor - seine Formschönheit gelange nicht in die Ausdruckstiefe der Erhabenen. Da kontert nun Hanslick aber ziemlich gut: Hanslick polemisiert gegen die "verrottete Gefühlsästhetik". Das wird meist missverstanden, als ob er einer Gefühllosigkeit das Wort rede. Nein! Hanslick bestreitet überhaupt nicht, dass die Musik wie keine andere Kunst überwältigende Gefühlswirkungen haben kann und hat. Nur sagt er: Musik kann Wirkungen erzielen, aber Gefühle eben nicht ausdrücken. Und weil die Musik keine Gefühle tatsächlich ausdrückt, sondern nur auf das Gefühl wirkt, sind diese Wirkungen auch nicht ästhetisch relevant. Ästhetisch relevant ist allein die Erfassung der musikalischen Form. Das ist dann der sehr rigoristische und konsequente "Formalismus" Hanslicks. Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick. Und konkret hält er dann dem "erhabenen Stil" Wagners vor, dass es da einfach nur um die psychologisch erklärbare aber ästhetisch letztlich irrelevante Wirkung, den puren Nervenkitzel nämlich, geht. Diese Wagner-Kritik findet sich dann bei Nietzsche (Wagner wolle Wirkung und nichts als Wirkung) oder in Thomas Manns hoch ironischer (und sehr selbstironischer) Tristan-Novelle. ^^ Das ist der Knackpunkt. Das Erhabene und Religiöse, was sich damit verbindet - ist das alles nur eine nur psychologisch begründete Suggestion eines Hörers, der das in die Musik nur hineinprojiziert? Kann die Musik das "Erhabene", Heilige, Religiöse wirklich ausdrücken?


    Bei einem Gemälde ist das anders: Ich sehe ja die erhabene Größe der Natur, sie ist das, was im Bild tatsächlich dargestellt ist. Aber wie will man das nun in einem Musikstück zeigen, dass die Musik diese Erhabenheit wirklich ausdrückt? Wohlgemerkt glaube ich nicht, dass Hanslick Recht hat! Nur ist er verdammt schwer zu widerlegen! ^^ Wagner selbst hat dagegen letztlich kein schlüssiges Argument, obwohl sein Ansatz, eine Ausdrucksästhetik der Musik zu begründen, sehr bedeutend ist.


    Ich empfinde so manchen Blechbläsersatz im Choralstil bei Bruckner als "erhaben". Und da gebe ich gerne zu, dass diese Sätze vor allem dann erhaben wirken, wenn die vorhergehende Musik unruhig, eher dissonant und fahl klang.

    Beim schweren Blech Bruckners kann ich das "Erhabene" schon nachvollziehen - gerade weil es so gar nicht schön klingt. Es wirkt kollossal, mächtig, den Hörer niederdrückend und erdrückend. Das gehört ja zum Erhabenen, dass es den Menschen durch seine übermächtige Größe klein macht und niederdrückt. Genau damit haben viele Hörer, die zu Bruckner schwer Zugang finden, aber ihre Probleme. Bei Mahler ist es anders. Mahlers 7. ist Bruckner wohl am nächsten - Mahler hat zweifellos Bruckner studiert, ihn ja auch dirigiert. Aber das schwere Blech im 1. Satz von Mahlers 7. klingt dann doch schlanker, romantischer, stimmungshafter, eben "schön". Bruckner dagegen ist schon knorrig... :D Was Du mit der Kontrastwirkung so schön beschreibst, ist natürlich zwingend! Ich muss hier meine Schwäche zugeben, dass ich ein unverbesserlicher romantischer Ästhet bin und mir Mahler letztlich mehr liegt als Bruckner in dieser Hinsicht... ^^

    Nun könnte man sagen, dass es da doch konsonant und "nur schön" anfängt. Das stimmt aber so nicht. Die wahre Schönheit ist auch mit Dissonanzen und Gewürzen versehen, zwar nicht ganz so offensichtlich, aber doch vorhanden.

    Ja - aber dann sind wir bei der Ästhetik des Hässlichen und der Dekadenz (gemeint jetzt als ästhetische Richtung). Da wird wiederum die Dissonanz zur Würze der Konsonanz, um die Nerven zu reizen. Ohne das gäbe es keinen Scriabin. Bei Thomas Mann ist das seine ironische Beschreibung der Wirkung eines Chopin-Nocturnes. Da muss ich auch betonen, dass ich zwar evangelisch bin, aber ein sinnenfroher Rheinländer. Mir ist in dieser Hinsicht der rheinische Katholizismus mit seiner Sinnen- und Lebensfreude sehr sympathisch. Puritanismus mag ich gar nicht, trinke gerne Bier und esse fein gewürztes Essen und liebe dekadente Musik... ^^

    Im weiteren Verlauf des Stücks geht es immer so weiter - du wirst mit angenehmen Dissonanzen überströmt.

    Es klingt schön und ist doch dissonant.

    Ja - siehe oben. Genau da ist aber die Frage, wie wir auf diesem Wege zum Erhabenen kommen, ohne in einer Ästhetik des Hässlichen steckenzubleiben.

    Man soll diese Gewürze einfach arbeiten lassen, sie aber nicht extra herausdrängen, weil sie im Zusammenhang ihre wahre Wirkung entfalten.

    Das ist wie bei einem guten Essen. Zuviel Salz ist nicht gut...

    Sehr schön! Ganz genau: Dekadenz lebt von dem Mischungen und Unbestimmtheiten! ^^

    Oder ein anderes Beispiel aus der Pfeifenwelt: es gibt den Perique, einen Pfeffertabak. Man kann ihn tatsächlich nicht pur rauchen, das würde keiner durchstehen. Aber als kleine Beimischung kann er sich sehr gut machen.

    Das ist eine romantische, wagnerische Ästhetik, die etwa der Monteverdis oder der des Barocks entgegensteht. Harnoncourts Lebenswerk besteht ja darin, dass herauszuarbeiten.

    Ich wusste gar nicht, dass es Pfeffertabak gibt. Ich bin allerdings kein Raucher! Sehr schön!

    Wirklich expressiv wirkt die musikalische künstlerische Wahrheit, wenn sie mit dem Schönen und der Ästhetik kombiniert wird, nicht wenn da ein Gegensatz aufgebaut wird. Wahrheit muss nebenbei gesagt auch nicht immer hässlich sein - es gibt auch die Gute und positive Wahrheit.

    Das Modell des Expressionismus ist ja der Schrei (das berühmte Bild des Norwegers Edward Munch), d.h. ein ungefilterter Gefühlsausbruch ohne jegliche ästhetische Glättungen in seiner ganzen Härte und Gewalt, nur aus "innerer Notwendigkeit". Schönberg benutzt das Bild von der gespannten Feder, die sich entspannt, indem sie aufgeht. Der Schrei ist eine Verzerrung und auch nicht schön (ein schmerzverzerrtes Gesicht). Das ist anders als bei den schönen Tränen und der schönen Trauer, dem Schmerz als Tröster (Gustav Mahler). Beides gibt es also, den schönen Schmerz wie auch die expressionistische Ausdrucksgeste, die ihre innere Wahrheit hat ohne jegliche Ästhetisierungen. ;)


    Das soll erst einmal reichen, was ich jetzt hier ausgegossenen habe aus meiner Denkwerkstatt... ^^


    Liebe Grüße

    Holger

  • Das ist der Knackpunkt. Das Erhabene und Religiöse, was sich damit verbindet - ist das alles nur eine nur psychologisch begründete Suggestion eines Hörers, der das in die Musik nur hineinprojiziert? Kann die Musik das "Erhabene", Heilige, Religiöse wirklich ausdrücken?

    Frage 1: nein

    Frage 2: ja, ich bemühe mich da jeden Sonntag, genau das zu tun.


    Ich versuche es auch zu begründen, lieber Holger:



    Nur sagt er: Musik kann Wirkungen erzielen, aber Gefühle eben nicht ausdrücken. Und weil die Musik keine Gefühle tatsächlich ausdrückt, sondern nur auf das Gefühl wirkt, sind diese Wirkungen auch nicht ästhetisch relevant. Ästhetisch relevant ist allein die Erfassung der musikalischen Form. Das ist dann der sehr rigoristische und konsequente "Formalismus" Hanslicks. Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick. Und konkret hält er dann dem "erhabenen Stil" Wagners vor, dass es da einfach nur um die psychologisch erklärbare aber ästhetisch letztlich irrelevante Wirkung, den puren Nervenkitzel nämlich, geht. Diese Wagner-Kritik findet sich dann bei Nietzsche (Wagner wolle Wirkung und nichts als Wirkung) oder in Thomas Manns hoch ironischer (und sehr selbstironischer) Tristan-Novelle.

    Zunächst einmal: wer kennt vom Herrn Hanslick irgendein kleines musikalisches Werk? Oder gar ein großes Musikwerk?

    Kann sich der Mann auch nur im entferntesten mit dem Über-Genie Richard Wagners messen?

    Bruckner erkannte als Musiker, was für ein Kaliber Wagner war. Er war ihm - manche sagen sogar bis zur Peinlichkeit- vollkommen "erlegen" und verhielt sich ihm gegenüber "unterthänig".

    Bruckners heutige Anhänger finden oft, dass er das gar nicht nötig gehabt hätte, sicher nicht ganz zu unrecht. Andererseits ist Bruckners grenzenlose und fachlich sehr untermauerte Bewunderung Wagners auch mehr als berechtigt.

    Wer war nun ein E. Hanslick? Ein sehr brillianter Intellektueller, ja, durchaus. Aber wenn es um den Zugang zum inneren Wesen der Musik geht, ist er im Verhältnis zu Leuten wie Brahms (den er ja stützte), Bruckner oder Wagner - sorry- nur ein Winzling, vor allem wenn es um die Frage geht, Gefühle verschiedener Art musikalisch ausdrücken zu wollen.

    Was er hier betrieb, ist in meinen Augen eine semantische Haarspalterei, die um ihrer selbst oder um der Polemik Willen angezettelt wurde.

    Allein deshalb neige ich sehr stark dazu, in dieser damaligen Auseinandersetzung dem praktischen Vollblutmusiker Richard Wagner voll und ganz rechtzugeben.


    Was ist denn schon "ästhetisch relevant"?

    Für mich ist Wagners (und Bruckners) Ästhetik mehr als relevant. Den Überlegungen eines Hanslicks hingegen kann ich da nicht allzu viel Relevanz zusprechen.

    Nur sagt er (Hanslick): Musik kann Wirkungen erzielen, aber Gefühle eben nicht ausdrücken. Und weil die Musik keine Gefühle tatsächlich ausdrückt, sondern nur auf das Gefühl wirkt, sind diese Wirkungen auch nicht ästhetisch relevant. Ästhetisch relevant ist allein die Erfassung der musikalischen Form. Das ist dann der sehr rigoristische und konsequente "Formalismus" Hanslicks. Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick.

    Was sind denn für diesen Hanslick überhaupt "Gefühle", und wie drückte er sie aus, wenn er denn welche hatte?

    Der Mann stand sich m.E. mit seiner scharfen Intellektualität durchaus selbst im Wege. Ärgerte er sich, dass die Innovationen Wagners nicht vorher über seinen Schreibtisch gingen?

    Wenn er sagt, dass "ästhetisch relevant" allein die "Erfassung der Form" sei, dann vermute ich eine gewisse Verkopfung in seiner Rezeption. Wenn man etwas als ästhetisch empfindet ( !) , sind das nicht auch Gefühle oder nur Überlegungen?

    Das Gesicht einer wunderschönen Frau entspricht ja durchaus ästhetischen Idealen, wie z.B. Proportion. Gleiches gilt für Autos, sogar für Hifi-Geräte, auf denen der Blick des Genießers stundenlang verweilen kann. Doch geht dem Gefühl zunächst einmal formale ästhetische Analyse voraus? Nicht immer, wie ich meine.

    Ich habe ja selbst als Kind und Jugendlicher mit großen Gefühlen z.B. die Beethoven-Symphonien mit einem Jecklin-Float-Kopfhörer auf dem Kopf alle x-Mal durcherlebt, ja durchlitten. Nach der 9. ( natürlich mit Karajan...) musste ich anschließend regelmäßig in die Badewanne....

    Dabei möchte ich behaupten, dass ich damals von der symphonischen Form nicht allzu viel verstanden und erfassen konnte, weil ich vielleicht erst ab 12 Jahren anfing, überhaupt so etwas wie Sonatensatzform mit Exposition, Durchführung, etc. auch intellektuell zu verstehen.

    Hanslick argumentierte hier meiner Vermutung nach so, weil er mit Wagners fließender Art des Komponierens auf Kriegsfuß stand. Wagners Harmonik moduliert frei, erweckt Erwartungen und enttäuscht sie positiv; statt der Sonatensatzform gibt es Leitmotive, und in Sachen Oper hat er - danke dafür, lieber Richard- die damals schon anachronistische Nummernoper abgeschafft.

    Die Franzosen des 18. Jahrhunderts haben ähnlich verächtlich auf die eruptive italienische Musik des Barocks geschaut. Diese "vulgären Italiener" hatten ja nicht diese Tänze, die in ihrer Symmetrie einem barocken Prachtgarten vergleichbar sind. Denen fehlte wohl die französische Kültür... ;)


    Was hätte denn Wagner noch erzielen sollen, wenn nicht Wirkung? Belehrung, gar Störung oder Irritation? Nun, der Hanslick war ja irritiert. Dass man immer gestört werden muss, um sich eines Besseren belehren zu lassen, das meinen ja heute viele. Manche kleben sich da sogar auf Berliner Haupstraßen fest, eine Methode, bei der aus meiner Sicht der Schuß höchstwahrscheinlich nach hinten losgeht. Aber das wollen wir hier nicht vertiefen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es gut wäre, wenn eine Musik wirkungslos wäre.


    Es auch eine Frage, wie eine Musik gehört wird. Wer nicht Gehörtraining studiert hat, oder es dann später nicht mehr praktiziert, der gibt möglicherweise bei der intellektuellen Erfassung der Harmonik Wagners schnell auf. Sollte er dabei trotzdem nicht unmusikalisch sein, dann gerät er damit emotional in die Hände des Komponisten, was dessen Absicht war. Das Gesamtkunstwerk aus Bühne und Schauspiel etc. tut ein Übriges: der Intellekt des Publikums wird nicht in gelehrter Art Weise (wie mit einer Fuge) gefüttert, sondern die Emotionen der Leute werden mit direktem Zugang zum Unbewussten gekonnt gelenkt und maximiert ( heute funktioniert es eher seltener, weil immer weniger Leute überhaupt ein Gehör haben).

    Durch all das sah Hanslick die Tradition der europäischen Kulturmusik stark gefährdet, was ihn möglicherweise polemisch werden ließ. Wenn er, wohl durch seinen Intellekt seinen eigenen Gefühlen schon entfremdet, von "verrottetet Gefühlsästhetik" sprach, dann begab er sich damals auf das kellertiefe Niveau des ebenfalls Hoch-Intellektuellen Goethe, der Schuberts Vertonungen seiner Texte durchaus ablehnte und irgendwelchen anderen viertklassigen Komponisten tatsächlich aus ästhetischen Gründen den Vorzug gab.

    Im Fach Musikgeschichte hat uns unsere Professorin den "Erlkönig" in der von Goethe bevorzugten Fassung vorgespielt, danach die bekannte Vertonung Schuberts. Den Namen des anderen Komponisten habe ich jetzt vergessen, und das bedaure ich auch nicht. Es war ein harmloser, netter Singsang, der, im wahrsten Sinne des Wortes, im Rahmen, in der Form blieb.

    Wie konnte der Mann, der diesen mächtigen Text verfasste, nur so eine belanglose Vertonung bevorzugen, bei der alles in schöner langweiliger Ordnung vor sich hin dudelte?

    Ich nehme an, weil Goethe zwar nicht unmusikalisch war, aber das wahre Feuer der Musik nicht wirklich in ihm brannte. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen" hätte man dem guten Johann Wolfgang in diesem Fall zurufen müssen. Er konnte mit der - bei mir jedenfalls- immer wieder Betroffenheit und Gänsehaut auslösenden Musik Schuberts wohl wenig anfangen.


    Nun kannte ich auch einen älteren Freund ( schon verstorben) der beim Thema Bruckner-Symphonien auch gerne von der Erfassung der "Forrrrm" redete.

    Immerhin liebte er seinen Bruckner ( von dem ich noch gar nichts verstand) während es ja für einen Hanslick nicht gut genug war, dass Bruckner die alte Form der Symphonie durchaus zur Anwendung brachte. Aus der Sicht Hanslicks hat Bruckner wahrscheinlich die traditionsreiche symphonische Tradition mit wagnerischem Gift kontaminiert.

    Auch in Foren liest man immer wieder, dass man doch die Form bei Bruckner gut heraushören müsse. Gerne wird dann Günter Wand angeführt, der sich ja durchaus zum Ziel setzte, Bruckner als Symphoniker darzustellen, "ohne Weihrauch", wie er -leider- selbst auch sagte.

    Zum Glück hat Bruckner so komponiert, dass auch bei Wand noch genügend Weihrauch in der Luft schwebte, ob er es denn wollte oder nicht. Weihrauch duftet wunderbar, und wenn man mich fragt, was die wichtigsten Arbeiten sind, die ein Mann verrichten kann, dann sage ich: entweder die Gestik etwa eines Thielemann beim Bruckner-Dirigieren, oder die Ernsthaftigkeit eines Priesters, mit der z.B. in der Basilica of the National Shrine of the Immaculate conception, Washington D.C. während des Eingangschorals der Altar inzensiert ( beräuchert ) wird.

    Es scheinen sinnlose Tätigkeiten zu sein, die aber mit tiefstem Ernst und hochkonzentriert ausgeführt werden. Ich finde das wichtiger als Autos reparieren oder vertickern zu können.

    Hier transzendiert etwas, hier entsteht eine geheimnisvolle Verbindung zum nicht Profanen, zur mystischen, unsichtbaren Welt.


    Und die Sache mit der auch so bedeutsamen Form ist auch zweifelhaft: Bruckner benutzt rhythmische Motive, erst langsam, dann mit halb so großen Notenwerten. Die wiederholt er dann zuweilen sehr oft - ja wie oft eigentlich? Das hat zwar eine innere Symmetrie, wenn man sich die sich entwickelnden Blöcke anschaut, folgt aber mehr einer expressiven Gesetzmäßigkeit als der starren Sonatensatzform. In diesen Wiederholungen und Steigerungen liegt eine Urkraft. Man könnte an eine Gruppe Affen denken, die einen gewissen Laut austoßen. Dann fallen andere mit ein, dann wird es schneller und immer lauter. Man schaukelt sich hoch....bis es zu einem mehr oder weniger katastrophalen Ausbruch kommt. So etwas gibt es auch in der Natur, z.B. bei Vulkanen. Ja, auch der menschliche Sexualakt ist gar nicht so weit davon entfernt.


    Nun könnte man sagen, dass all dieses Archaische und Animalische doch alles Mögliche ausdrücke, bloß nicht Erhabenheit, gar Heiligkeit.

    Da muss ich mit der katholischen Lehre antworten: aus Gottes Sicht ist der Sexualakt ein sich gegenseitiges Hingeben von Mann und Frau. Der Mann sagt zur Frau: Mein Leib für Dich - und umgekehrt.

    Die Eucharistie ist dem tatsächlich auf eine mystische Weise wesensverwandt: Christus gibt sich voll und ganz seiner Braut (der Kirche) hin. Das geht soweit, dass der gläubige Katholik mit dem Empfang der Eucharistie Gott "ißt." "Dies ist mein Leib"...."Das ist mein Blut".

    Darüber hat auch Ratzinger Erhellendes geschrieben....


    Diese hochheilige Vereinigungsmystik bestätigt mir, was ich schon seit vielen Jahren empfand, nämlich dass die musikalischen Neuerungen Wagners -im Tristan-Vorspiel herrlich introduziert und im Parsifal vollständig implementiert- durchaus geeignet waren und sind, religiöse Dinge zum Ausdruck zu bringen. Der Bruckner hat das jedenfalls erkannt und sein inneres Sehnen, diese Dinge zum Ausdruck bringen zu wollen, in seiner Klangwelt realisiert.


    Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick.


    Es mag herausfordernd sein, dem intellektuell entgegenzuhalten. Doch klingt es so, als wenn mit mir etwas nicht stimme, weil ich einen gewissen Akkord (z.B. fis-moll über Dis) als ambivalent und mystisch empfinde, weshalb ich ggf. die Hilfe eines Psychologen bräuchte, weil ich meiner nüchternen ästhetischen Beurteilungskraft beraubt zu sein scheine.

    Ein paar Takte aus Bruckners oder Wagners Musik sollten aber reichen, solche Betrachtungen als unsinnig beiseite zu legen.

    Jeder Musiker will Emotionen vielfältigster Art ausdrücken. Wenn Musik - nach Hanslick- an sich keine Emotionen ausdrücken kann, dann fragt man sich, warum dann die Komponisten in ihrer grassierenden Verirrung immer und immer wieder "expressivo" in die Noten geschrieben haben.

    "Ich falle gerade innerlich zusammen, meine Hoffnungslosigkeit erdrückt mich" - wenn einer das in Tönen ausdrücken konnte, dann war es wohl Schubert.

    Und das erhebende Gefühl, eine hehre Götterburg zu betrachten, dort oben, auf dem Berge (Wälder befinden sich darunter...) - wer konnte diese Noblesse, dieses Edle, Hehre, ja Heilige besser in Tönen zum Ausdruck bringen als Wagner, eben mit dem herrlichen Blechbläsermotiv aus dem Rheingold?


    Nun müssen wir aufpassen, dass wir hier nicht zu sehr in allgemeine Betrachtungen abschweifen.


    Ich beziehe mich also auf das grimmige Scherzo der 9. von Bruckner.

    Anfangs hört man leise in den Bläsern einen bedrohlich klingenden Cis-Moll- Quint-Sext-Akkord. Erst erscheint er in einem Anapäst-Rhythmus, dann bleibt er liegen. Über dem liegenden Akkord hört man nun Akkordbrechungen von oben nach unten, durch die hohen Streicher im Pizzikato vorgetragen. Die tiefen Streicher antworten darauf in umgekehrter Arpeggiorichtung.

    Das Spielchen wird auf eine neue Ebene gehoben, nach oben transponiert, dann kommen noch ein paar Takte mit Achtelfiguren, danach ein sich wiederholendes Motiv aus zwei Tönen bestehend, welches wie ein Zweierpaar klingt, aber eigentlich hemiolisch aus dem 3/4-Takt entsteht. Eine kurze Pause, und dann bricht auf einem Bb7 4# mit Terz D im Bass im Forte-Fortissimo die Hölle los.


    Das wäre eine kurze Formanalyse, aber was höre/empfinde ich da? Der gefährliche Moll-Quint-Sextakkord im Anapäst-Rhythmus setzt die Szene für das dräuende Gefühl eines nahenden Unheils. Wie vor einem Gewitter wirkt das tropfende Pizzikato als Vorboten von Schlimmeren. Durch das Hochtransponieren der Szene ( im wagnerschen Stil) wird das Gefühl der Gefährlichkeit verstärkt. Man ahnt, dass hier etwas kommt, was nicht aufzuhalten ist. Bei den Legato-Achtelnoten könnte man an anschwellende Bäche denken, darüber warnende Rufe von Vögeln.

    Dann kommt die Katastrophe doch schneller als erwartet - wahrscheinlich hat Bruckner schon den Klimawandel und das Ahrtal vorausgesehen.

    Erst stampft das Orchester brutal und unisono auf dem D, dann kommt dieser Bb7 4# mit Terz D im Bass, der sich nach klassischer Lehre eigentlich nett und sittsam nach Eb-Dur auflösen müsste. Macht er aber nicht!

    Die Stelle klingt mir gar nach einer Vorabschattung von Heavy-Metal-Musik für ein Orchester.

    Aus religiöser Sicht könnte man an drohende Zornschalen aus der Offenbarung denken, die dann ein Engel schneller als vorher geahnt ausgießt. Man kann also bei der Stelle an ein Gewitter, aber auch an das Gericht Gottes denken, was bei einer Bruckner-Symphonie vielleicht gar nicht so abwegig wäre.

    Gerade diese Stelle wird in ihrer rohen Naturgewalt in meinen Ohren in der Aufführung mit Karajan und den Wiener Philharmonikern ( DVD/ YouTube-Film, siehe oben) am "besten", d.h. Horror auslösend, gespielt. Später, mit den Berlinern, ( s.o.) ist das dem alten Dirigenten nicht mehr so geglückt - warum auch immer.


    Ich möchte im Grundsatz noch einmal betonen, dass ich aufgrund vieler wunderbarer Hörerfahrungen die Bruckner-Arbeit Günter Wands sehr schätze und liebe, nicht dass das jemand falsch versteht. Gerade hörte ich mit ihm die 4. und die 5. Bruckners - wunderbare Hörerfahrungen. Wer sich ernsthaft für Bruckner interessiert, kommt an Wand nicht vorbei.



    Gruß:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zu Hanslick kann und ich will ich nichts beitragen, bzgl. des zuvor diskutierten Begriffs "Erhabenheit" möchte ich ergänzend auf den einflussreichen Text von Schiller "Über das Erhabene" hinweisen, ohne dessen Kenntnis meines Erachtens ein Gespräch über diesen Begriff kaum Sinn macht, da Schiller diesen Begriff entscheidend mitgeprägt hat. Schiller grenzt sich in dieser Schrift von Kant ab und erweitert seine eigene Dramentheorie und in der Folge auch seine Werke um eine entscheidende Dimension - Schiller war es ja gegeben, seiner Theorie äußerst wirkungsmächtige Dramen folgen zu lassen. Aber das muss hier nicht weiter verfolgt werden.


    Zurück zu Bruckner, das finde ich persönlich viel spannender.


    Angeregt von Glockenton habe ich übers Wochende viele Aufnahme gehört und zunehmend auch die oben verlinkte Strukturanalyse hinzugezogen. Ich wundere mich ein bisschen, dass auf die Frage nach der kompositorischen Struktur des ersten Satzes hier kein Fachmann einsteigt, ich muss mir das ja erst mühsam erarbeiten. Zumal es hier doch Erstaunliches zu entdecken gibt, ich bin jedenfalls nun regelrecht hingerissen, wie Bruckner komponiert hat und mit welcher Weitsicht er bspw. in der Durchführung die Themen miteinander verknüpft. Ja ich habe sogar den Eindruck, dass er die drei Themenblöcke der Exposition bereits mit Blick auf die spätere Ineinanderverschränkung in der Durchführung komponiert hat (!), erzielen die Themen wunderbar miteinander verbunden doch nochmals eine gesteigerte Wirkung. Wenn man einmal begriffen hat, was er da macht und wie passgenau das zusammenwirkt, löst das geradezu einen Gänsehautfaktor aus. Aber wie gesagt, ich muss mir das mühsam erschließen und möchte nun doch nach einem Fachmann fragen, der uns vielleicht besser erklären kann, was hier strukturell alles passiert? Und faszinierned ist dann auch, wie die Reprise mit dem Seitenthema einsetzt, nicht mit dem Hauptthema. Wohingegen Teile des Eingangsthemas überhaupt erst in der Coda wieder verwendet werden, wodurch dann ihre fulminante Wucht entsteht! Da kann ich nur sagen: Der Mann hatte einen Plan! (Und Teil dieses Plans war gewiss auch ein vierter Satz. So sehr ich die letzte Rekonstruktion - von Rattle toll eingespielt - schätze, sie ist einfach nicht auf der Höhe und hat nicht die Dichte der vorherigen Sätze.)


    Viele Grüße

    Christian

  • Hallo Christian B.,


    man kann viel analysieren und versuchen zu verstehen. Da gibt es sehr verschiedene Ansätze: Strukturanalyse, Themen, funktionsharmonische Analyse, akkordische Analyse, Stimmführungen, Orchestrierung und Klangfarben, die rhythmische Ebene, Versuche in den Themen usw. Bedeutungen zu erkennen. Es gibt da sehr viel mehr, als immer nur über die Form zu reden.

    Darüber können die entsprechenden Leute mit Sicherheit Bücher schreiben - nur über diese Symphonie.

    Was dabei herauskommt, ist meistens: hier macht er dies und hier macht er das. Man könnte sich den Mund fusselig reden über die Dichte der vielen Dinge, die in wenigen Takten gleichzeitig geschehen. Das Schöne mit der Musik ist ja, dass sie für sich selbst sprechen kann und durchaus viele Dinge auf einmal musikalisch mitbekommen kann, für deren Beschreibung man sehr viel Papier bräuchte.


    Eine Frage können die Analysen aber nicht beantworten: wie ist er denn da bloß drauf gekommen? Wäre es anders, dann könnte man ja "mal eben" mit entsprechendem Fachwissen ausgestattet, so eine gleichwertige Symphonie ganz im Bruckner-Stil schreiben. Das kann man aber nicht, denn dafür ist er ja nicht irgendwer, sondern eben Bruckner.


    Für mich sind diese Analysen sehr wertvoll, aber nicht nur, um dann die Symphonie bewusster hören zu können, sondern um davon für das eigene Schreiben von Noten etwas zu lernen.

    Gerade gestern spielte ich ein kurzes Orgelintro zu einem Gradualpsalm, den ich auch für Solisten, Chor und Orgel arrangierte.

    Bei diesem Intro habe ich mir die Freiheit genommen, den "Kunstgriff" mit dem einsamen liegenden Ton des Anfangs der 9. und dem darauffolgenden "Tatda" sozusagen als Hinweis für Kenner zu spielen, danach kam dann in der Orgel der rhythmisch-harmonische und melodische Hinweis auf das, was folgen sollte. Auch in den Versen dieses Responsoriums habe ich die Worte des Psalmentextes mit brucknerschen/wagnerschen Harmonisierungen/Stimmführungen in der Orgel begleitet. Hätte ich keinen Parsifal oder keine Brucknersymphonie gehört und ein bisschen analysiert "was er da eigentlich macht", dann wäre mir diese Welt wohl ganz verschlossen.


    Zum versteckten Hinweis für die Kenner: Niemand aus der Gemeinde hört das, nur meine Frau, die auch Musik studiert hat, Solistin ist und die ich darauf aufmerksam machte.

    Aber es ist für mich ein großer Gewinn, davon zu lernen. Wenn man als Musiker gerne so oder so klingen möchte, dann sind diese Analysen schon wichtig, weil sie einem Prinzipien geben, die hinter bestimmten klanglichen Ergebnissen stehen, die man selbst so gut findet.

    Da ich früher viel im Barockstil und Frühbarockstil arbeitete ( mache ich immer noch, kommt ja auch auf den Choral etc. an) ist für mich die Beschäftigung mit der speziellen Art verschiedener romantischer Komponisten eine sehr reizvolle Herausforderung. Am interessantesten finde ich den romantischen Stil der Komponisten Brahms, Bruckner und Wagner.


    Ich spreche von der sehr individuellen Art romantische Musik zu schreiben, weil es eben nicht so war wie etwa bei Schütz, Schein oder Scheidt ( oder den Kirchenmusikern der Renaissance), dass man sich sehr klar an einen Stil gehalten hat, wodurch es schwieriger ist, auf Anhieb zu hören, von wem die Musik gerade geschrieben wurde.

    In der Romantik indes waren die stilistischen Unterschiede viel größer und individueller. Man kann sagen, dass jeder seine "eigene Romantik" schrieb. Zwischen Brahms und Bruckner gibt es z.B. die Verbindung, dass die Polyrythmik sie magisch anzog, z.B. 3 gegen 2 gleichzeitig oder hintereinander ( der Bruckner-Rhythmus, bekannt aus dem ersten Satz der Vierten). Aber 4 gegen 3 und andere, noch wildere Dinge sind da durchaus üblich. Zwischen Bruckner und Wagner gibt es eine starke Verbindung in Bezug auf harmonische Fortschreitungen, Sequenzen, Instrumentation.....viel!

    Für mich ist die Art, wie diese drei Herren die Töne setzen konnten, eine Fundgrube, durchaus süchtig machend.


    Hier habe ich eine relativ eingängige Filmanalyse gefunden. Man kann auf dem Klavier ein bisschen die Dinge nachvollziehen, die da geschehen.




    Gruß :hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Frage 1: nein

    Frage 2: ja, ich bemühe mich da jeden Sonntag, genau das zu tun.

    Lieber Glockenton,


    das kann ich sehr gut verstehen, nur beantwortet das finde ich nicht die Frage, warum das so sein kann. Wir reden ja nicht von einer Haydn- oder Bruckner Messe in einem liturgischen Kontext, wo von vornherein klar ist, dass das religöse Musik ist, sondern von säkularer Instrumentalmusik, die im Konzertsaal außerhalb der Kirche aufgeführt wird. Bezeichnend kann man von einer "traurigen Melodie" oder "klagenden Melodie" sprechen, aber - allein sprachlich klingt das schon seltsam - nicht von einer "religiösen Melodie". Offenbar kann Musik nicht auf dieselbe unmittelbar nachvollziehbare Weise ein religiöses Gefühl ausdrücken, wie sie eine Klage und Trauer ausdrücken kann. Da ist finde ich besteht doch schon ein Erklärungsbedarf.

    Zunächst einmal: wer kennt vom Herrn Hanslick irgendein kleines musikalisches Werk? Oder gar ein großes Musikwerk?

    Kann sich der Mann auch nur im entferntesten mit dem Über-Genie Richard Wagners messen?

    Warum muss er das denn? Wagner war ja nicht nur Komponist, sondern versuchte sich auch als Musiktheoretiker und Musikästhetiker, der dann u.a. Schopenhauer zu Hilfe nahm, um seine Auffassungen zu begründen. Da kocht Wagner genauso mit fremdem philosophischem Wasser, wie wenn Eduard Hanslick Grundgedanken von Johann Friedrich Herbart aufnimmt und muss sich deshalb auch als Theoretiker an Hanslicks Niveau messen lassen. ^^

    Was ist denn schon "ästhetisch relevant"?

    Für mich ist Wagners (und Bruckners) Ästhetik mehr als relevant. Den Überlegungen eines Hanslicks hingegen kann ich da nicht allzu viel Relevanz zusprechen.

    Ich versuche mal zu erklären, warum Hanslick für mich ästhetisch sehr relevant - und sogar unverzichtbar - ist. Das erste ist der musiktheoretische Hintergrund. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass Musik Gefühle ausdrücken will. Die Auslegung von Musik wurde Jahrhunderte von der musikalischen Rhetorik geprägt - Johann Mattheson: Musik ist eine "Klangrede und Tonsprache". Die Rhetorik kennt noch keine Gefühle im modernen Sinne des subjektiven Ausdrucks von Innerlichkeit, sondern nur Affekte. Und die haben einen genau festgelegten Ausdrucksgehalt, der wie ein Code funktioniert, den jeder versteht. Die barocke Figurenlehre hat das als Katalog formuliert. Der Passus duriusculus z.B. (noch Mahler verwendet ihn etwa in der 6. Symphonie) hat eine genau festgelegte Ausdrucksbedeutung. Im 18. Jhd. entdeckt man jedoch die Subjektivität (Daniel Schubart: "... seine Ichheit in der Musik heraustreiben!"). Aus dem Affekt und seiner Typisierung wird ein subjektives Gefühl und entsprechend der Ausdruck individualisiert. Das bedeutet aber, dass der musikalische Gefühlsausdruck eben auch etwas verliert: die typisierte Bestimmtheit des Affekts, welche die Allgemeinverständlichkeit und Nachvollziehbarkeit eines Ausdrucksgehalts garantierte. Alle Romantiker reden einhellig davon, dass musikalische Gefühle "unbestimmt" bleiben - eben weil sie keine bloßen Affekte mehr sind. Also versucht man das dann zu kompensieren durch die beliebten sehr bildhaften programmatischen Auslegungen, wo dann alles Mögliche durch "Einfühlung" in die Musik hineinprojiziert wird, damit die Gefühle ihre Unbestimmtheit verlieren. Genau das ist das, wo Hanslick dann fragt: Was gehört wirklich zum Inhalt eines Musikstücks, das, was Musik darstellen und ausdrücken kann, und was ist nur Projektion, mit seinen Worten: bleibt "außermusikalisch"? Wenn man diesen musikhistorischen Hintergrund mit einbezieht, versteht man Hanslick eigentlich nur.


    Ein besonders groteskes Beispiel ist die Eroica-Rezeption in Deutschland. Nur weil Beethoven seine 3. Symphonie ursprünglich Napoleon gewidmet hat, interpretiert man sie schon zu Beethovens Lebzeiten programmatisch als Schlachten-Musik. Entsprechend wird sie dann im deutschen Nationalismus zum Opfer von sehr militaristischen und weltanschaulich-kulturkämpferischen Projektionen: die Kriegserlebnisse des 1. und 2. Weltkriegs werden munter in Beethoven hineininterpretiert und es u.a. für gewiss gehalten, dass Beethoven den langsamen Satz auch als Kampfpause in einer tobenden Schlacht empfunden haben muss. Die berühmte Beethoven-Interpretin Elly Ney, eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus, schreibt in den 40iger Jahren sogar, dass man bei Beethovens Heldensymphonie die Stukas (Sturzkampfbomber) von der Front hören könne. Richard Wagner hat sich auch an dieser Auslegungstradition beteiligt. Er, der gescheiterte Revolutionär, der in die Schweiz geflüchtet war, dirigierte dort die "Eroica" und verfasste das "Züricher Programm". In seiner Einleitung heißt es, wenn man den "Helden" dieser Symphonie wie üblich als Kämpfer verstehe, könne man keinen Genuss bei dieser Musik mehr empfinden. Klar, die Revolution ist 1848 gescheitert und Revolutionäre wie Wagner sind depressiv geworden im Zeitalter der Restauration. Also soll der Hörer mit Hilfe seines Programms, so Wagner - da interpretiert er seine Lektüre von Ludwig Feuerbachs religionskritischer Schrift Das Wesen des Christentums in Beethoven hinein - den "Helden" der Eroica nicht als handelnden Helden, sondern psychologisch-anthropologisch verstehen. Bei Beethoven ginge es nicht um den Krieg, sondern das Heldentum der Liebe. Da ruft man dann - so geht es mir jedenfalls - wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm nach Hanslick. Was ist hier noch "spezifisch-musikalisch" und was schlicht und einfach nur "außermusikalisch"? Ich bin jedenfalls außerstande, die "Eroica" als Schlachtenmusik zu hören und als Wagners Heldentum der Liebe kann ich sie auch nicht vernehmen. ^^


    Was sind denn für diesen Hanslick überhaupt "Gefühle", und wie drückte er sie aus, wenn er denn welche hatte?

    Der Mann stand sich m.E. mit seiner scharfen Intellektualität durchaus selbst im Wege. Ärgerte er sich, dass die Innovationen Wagners nicht vorher über seinen Schreibtisch gingen?

    Das Spannende ist, dass man erfährt, wenn man Hanslicks Kritiken zu Wagner-Opern liest, dass Hanslick das Neuartige bei Wagner sehr präzise beschrieben hat. Er hatte also sehr wohl einen Sinn dafür. Nur hat er das ästhetisch verworfen. Im 19. Jhd. stritt man sehr dogmatisch um normative ästhetische Ideen. Der zum Klassizismus neigende Ästhetiker Hanslick konnte das nicht gut heißen, gesehen hat er Wagners revolutionäre Eigenarten sehr wohl.


    Hanslicks Kritik an der Gefühlsästhetik ist eigentlich sehr einleuchtend - weswegen man, insbesonders wenn man sich mit Musikästhetik beschäftigt wie ich -, nicht darum herumkommt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. In Mignons Lied aus Goethes Wilhelm Meister ("Kennst Du das Land wo die Zitronen blühn...") geht es um die Italiensehnsucht. Liszt hat das vertont. Hanslicks Einwand ist: Wenn ich nun einmal den Text vergesse und nur die Musik quasi als Lied ohne Worte höre, dann kann nur die Musik als Musik nicht mehr vermitteln, dass es hier um die Sehnsucht nach Italien geht. Die Italiensehnsucht ist kein Ausdrucksgehalt der Musik - der entsteht erst in Verbindung mit dem Text. Das kann man schwerlich widerlegen bzw. man muss sich sehr anstrengen, hier gegen Hanslick wirklich triftige Argumente vorzubringen. :D

    Wenn er sagt, dass "ästhetisch relevant" allein die "Erfassung der Form" sei, dann vermute ich eine gewisse Verkopfung in seiner Rezeption.

    Auch da hilft einem die Musikgeschichte. Im 18. Jhd., geprägt durch die Empfindsamkeit, hat man die Musik nur wirkungsästhetisch betrachtet. Musik sollte "das Herz rühren". Die Wirkung von Musik stand im Vordergrund, nicht das, was sie ist. Deswegen wurde sie auch gegenüber bildender Kunst und Literatur abgewertet. Hanslick hat die Musik aufgewertet, indem er zeigte, dass sie einen Inhalt hat, also etwas darstellt, und nicht nur in ihrer Wirkung auf das Gemüt aufgeht. :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • bzgl. des zuvor diskutierten Begriffs "Erhabenheit" möchte ich ergänzend auf den einflussreichen Text von Schiller "Über das Erhabene" hinweisen, ohne dessen Kenntnis meines Erachtens ein Gespräch über diesen Begriff kaum Sinn macht, da Schiller diesen Begriff entscheidend mitgeprägt hat.

    Lieber Christian,


    um Schiller kommt man in der Tat nicht herum - auch in der Schrift Über das Pathetische gibt es mit Blick auf Laokoon eine lange Ausführung über das Erhabene. Die Frage ist aber letztlich, was das musiktheoretisch bringt.


    Ich hoffe, ich schaffe es bei meinem vielen Aufgaben diese Woche, den langen Sonatensatz der 9. komplett zu hören! ^^ :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    ich habe nicht damit angefangen, den Begriff der "Erhabenheit" im Zusammenhang mit Musik zu verwenden ;-)


    Der Begriff kommt meines Erachtens ja auch gar nicht aus der Musiktheorie, sondern wurde vor allem über die oben genannten Schriften im bildungsbürgerlichen und geisteswissenschaftlichen Diskurs rezipiert.


    Glockenton Vielen Dank für den Link zu der Filmanalyse, das finde ich sehr gut aufbereitet!


    Ich möchte für mich abschließend noch auf zwei Aufnahmen hinweisen, die neben Wands bekannter Aufnahme mit den Berlinern - die nichts von ihrer Kraft eingebüsst hat - meines Erachtens sowohl interpretatorisch als auch klanglich begeistern und der mir zu schwärmerischen und violinlastigen Karajan-Live-Aufnahme (1976) einen analytischeren, aber nicht weniger zwingenden Zugang zu dieser Symphonie ermöglichen - die Bläser aus Pittsburgh muss man gehört haben (!!!) und Bloomstedts frühe, ungemein stringente Aufnahme übertrifft die späte Version aus Leipzig:


    81MBEyChnpL._UF1000,1000_QL80_.jpg


    Viele Grüße

    Chrisitan

  • Lieber Holger,


    danke für diesen interessanten und lehrreichen Beitrag!


    Mir kam schon weiter oben der Gedanke, ob wir hier nicht zu sehr abschweifen, da es nicht spezifisch etwas mit der Interpretation der 9. Bruckners zu tun hat. Aber interessant ist es!


    Ich will versuchen, nur eine kurze Dinge aufzugreifen, um zu antworten:



    Bezeichnend kann man von einer "traurigen Melodie" oder "klagenden Melodie" sprechen, aber - allein sprachlich klingt das schon seltsam - nicht von einer "religiösen Melodie".


    Und dennoch ist auch in der Instrumentalmusik die Spielanweisung "religioso" von Komponisten verwendet worden.

    Offenbar kann Musik nicht auf dieselbe unmittelbar nachvollziehbare Weise ein religiöses Gefühl ausdrücken, wie sie eine Klage und Trauer ausdrücken kann. Da ist finde ich besteht doch schon ein Erklärungsbedarf.

    Staunen, Bewunderung, Hingabe, Anbetung - das kann Instrumentalmusik durchaus ausdrücken. Wenn man während der Kommunion oder der eucharistischen Anbetung Orgel spielt, dann sollte man z.B. unterlassen, den Radetzky-Marsch zu intonieren...;)

    Es können Hymnen sein, wohlgemerkt ohne Text. Gewisse tranquillo-Bläsersätze bei Bruckner gehen auch in so eine Richtung. Es ist sicher auch kein Zufall, dass hier, aber auch in der ganzen Welt der Begriff "Klangkathedrale" fällt, wenn man über Bruckners Symphonie Nr. 9 im Allgemeinen und über Giulini/WPO/DG im Besonderen spricht.

    Es muss nicht die Melodie sein, die etwas Religiöses ausdrückt, sondern es sind auch die verwendeten Harmonien, die dazu beitragen können. Mich interessiert das Mysterium. Wissend, dass Worte nicht ausreichen, um ihm näher zu kommen, bin ich der Auffassung, dass die Musik hier sehr unterstützend wirken kann.

    Wenn Du Dir die Harmonien des Vorspiels zum 3. Akt des Parsifals anhört, dann verstehst Du vielleicht, wie Mystik in Musik ausgedrückt werden kann.

    Aber Du hast durchaus recht: es gibt einen Erklärungsbedarf, dem ich von der Schärfe meines Intellekts her nicht wirklich nachkommen kann.

    Das Gute an der Welt der Musik und ihren Wirkungen ist doch, dass das Unerklärliche bleibt. Wäre das nicht so, würde ich die Musik wahrscheinlich als "das kenne ich schon" und als uninteressant abtun.

    Es ist in meinen Augen ein Irrweg zu versuchen, die letztlich doch unerklärlichen Dinge die beim Improvisieren/Komponieren, Spielen und Hören der Musik entstehen können,mit Hilfe der armselige Welt der Buchstaben erklären zu wollen. Das greift immer zu kurz. Man kann z.B. die chemische Zusammensetzung von Gewürzgurken ( ich liebe sie) analysieren, ihren Nährwert beschreiben, ihre Herstellung erklären ( ich lege die selber ein....) Man kann auch erklären, wie die Nase und die Zunge bei der Rezeption des Geschmacks zusammenwirken.

    Wer nun eine solche umfangreiche verbale Beschreibung über Gewürzgurken gelesen hat und noch nie so etwas aß - hat der auch nur eine Ahnung, wie es sich anfühlt, da hineinzubeißen und das zu essen? Ich denke nein. Von mir aus könnte ich hier auch Mangos oder bayrische Brezeln anführen....

    Warum muss er das denn? Wagner war ja nicht nur Komponist, sondern versuchte sich auch als Musiktheoretiker und Musikästhetiker, der dann u.a. Schopenhauer zu Hilfe nahm, um seine Auffassungen zu begründen. Da kocht Wagner genauso mit fremdem philosophischem Wasser, wie wenn Eduard Hanslick Grundgedanken von Johann Friedrich Herbart aufnimmt und muss sich deshalb auch als Theoretiker an Hanslicks Niveau messen lassen.

    In diese Falle hätte Wagner eben besser nicht tappen sollen...

    Vom inneren Wesen der Musik wusste Wagner unfassbar viel, Hanslick hingegen sprach/schrieb darüber, so wie Astronomen über das Universum schreiben, während z.B. Captain Picard oder Captain Janeway ( Star Trek) aus eigener Erfahrung wissen, wie es da draußen wirklich aussieht. Wäre Wagner ein Wanderer/Wotan, dann wäre Hanslick ein Mime, der vom Göttlichen keine Ahnung hat, noch nicht einmal das Schwert schmieden kann - ach nein, er wäre noch nicht einmal das.


    Das mit der barocken Affektenlehre, Mattheson und den Figuren hast Du richtig angeführt, auch im Verhältnis zur Romantik. Für mich sind das fließende historische Übergänge, keine Brüche, also mehr Evolution als Revolution.

    Ich habe mir ja in meiner Harnoncourt-Begeisterung als 12-Jähriger den Mattheson geholt und versucht den zu verstehen - versucht, wohlgemerkt.


    Deinen Gedanken zur Eroica kann ich zum großen Teil zustimmen, möchte aber gerne ergänzen, dass aus meiner Sicht auch die Eroica eine Art Scharnierfunktion hat, wie so Einiges von Beethoven. Sie ist einerseits hoch-rhetorische Musik, wobei Beethoven an die Grenzen dessen geht, was Rhetorik sein kann. Hier wird nicht mehr auf gelehrt-gesittete Art und Weise ein vielseitiger Vortrag mit Pro- und Contra im Sinne Matthesons gehalten, sondern da wird geradezu gebellt, rebelliert und unmittelbar eigene Erschütterung entlang des Zeitstrahls der stattfindenden Musik gelebt.

    Mit Hilfe der ehemals barocken Klangrede ist eben dieselbe mit dem Mittel der beethovenschen Agitation nach und nach auf dem Wege, abgeschafft zu werden, was am deutlichsten in der 9. vollzogen wird, die wiederum als Vorbild für so manche romantisch Komposition diente, z.B. auch für den Anfang der Bruckner Nr. 9, die ja auch - kein Zufall- in d-moll beginnt.

    Ich höre in der Eroica, der 5. 6. und 9. auf jeden Fall Vorabschattungen der romantischen Musik. Die romantischen Komponisten kannten ihren Beethoven gut - alles hängt zusammen, so wie es auch sogar bei Wagner in der Meistersinger-Ouvertüre Anklänge an die barocke Allemande gibt ( ich höre da z.B. die C-Dur Ouvertüre für Orchester von Bach mit heraus).

    Es ist nicht so, dass Wagner eine komplett neue Musik erfunden hätte, sondern er hat das Vorhandene auf eine neue und moderne Art anders zusammengefügt, während z.B. Brahms für seine Art der Romantik die traditionellen Formen heranzog und damit irgendwie auch zu einem Abschluss brachte.

    Eine rein rückwärtsbezogene Interpretation der Eroica, also mit Darmsaiten und "mit-ohne Vibrato" empfinde ich von daher als einseitig, weil es auch die andere Seite gibt, ob das Beethoven bewusst war, oder nicht. Diese Symphonie enthält für mich nicht nur den Aufruhr, das Revolutionäre, sondern eben auch das Erhabene, Vollmundige, Wuchtige in romantischer/wagnerischer Vorabschattung.


    Hanslick hat die Musik aufgewertet, indem er zeigte, dass sie einen Inhalt hat, also etwas darstellt, und nicht nur in ihrer Wirkung auf das Gemüt aufgeht.

    Ich konnte Deinem Beitrag aber nicht entnehmen, was er denn positiv gesehen als Inhalt der Musik ansah, sondern eher negativ gesehen das, was seiner Meinung nach, Musik alles nicht leisten könne. Was wäre denn lt. Hanslick der Inhalt der Musik, wenn er dabei die Wirkungen unberücksichtigt ließe? Die Form? Wie traurig wäre das denn....?


    Was ist denn eigentlich Musik? Es sind Schallwellen, Bewegungen in der Luft. Wer Harddiskrecording - so wie ich- betreibt, der kennt sie, die Wellenformen, die von der digitalen Audio-Workstation auf dem Bildschirm ausgewiesen werden.

    Andere kennen vielleicht die Mikroskopaufnahmen einer LP. Da wird eine Tonabnehmernadel auf den Hindernisslauf durch die sichtbaren Erhebungen und Vertiefungen geführt, die analog zu den Schallwellen der Luft gestaltet sind.

    Wissenschaftlich gesehen ist genau DAS Musik, nicht mehr. Ist es wirklich das, worüber wir uns hier alle so aufregen?


    Wenn ein Roboter einer fernen Alien-Zivilisation mit einem Raumschiff uns erreichen würde und dann anfinge, dieses Phänomen "Musik" zu untersuchen, dann würde er wohl zunächst diese Schallwellen als solche mit hoher technischer Genauigkeit analysieren. Wahrscheinlich würde er nicht vom "Doppelgänger" aus Schuberts Schwanengesang betroffen sein, nicht bei "An der schönen blauen Donau" das Tanzbein schwingen oder bei Durufles Requiem religiöse Gefühle erleben.

    Diese Schallwellen, die ja der Oberfläche des bewegten Meeres nicht unähnlich sind, lösen bei uns aber eben diese Wirkungen aus. Warum das so ist, kann man nur in Ansätzen erklären.

    Da muss man dann einen Ton in seine Bestandteile zerlegen. In einem auf dem Klavier angeschlagen C ist auch die Quinte G enthalten, etwas ferner dann auch die Terz E. Da haben wir einen konsonanten C-Dur-Akkord, der für uns als angenehm empfunden wird, weil die nächsten mitschwingenden Obertöne schon im Grundton C enthalten sind.

    Das alles aber erklärt noch nicht die wundersamen Wirkungen der Musik. Wenn man also Wagner vorwarf, dass es ihm nur auf Wirkungen angekommen sei, dann müsste man zurückfragen: " auf was denn sonst?" Intellektuelles Erkennen des Gerippes ( der Form) ?

    Auch bei Wagner gibt es eine Form, die allerdings anders ist, als es vorher der Fall war. Leitmotive zu verwenden ist ja auch eine "Form" in der Hinsicht, dass man überhaupt etwas (wieder)erkennen kann, was ja auch richtig und natürlich ist.

    Die ganze Wagner-Harmonik basiert auf schon in vorherigen Jahrhunderten erkannten und eingesetzten Wirkungen von Konsonanz, Dissonanz, Modalität oder Leittönigkeit, mit allen Täuschungen und allen Zweideutigkeiten, die ja gerade das Gute sind. Als ich eine Zeit lang jeden Tag den Anfang der Götterdämmerung hörte, empfand ich die Farbe der Musik als "Grün-Grau" irgendwie als zwielichtig. Eben das wollte Wagner ja erreichen, weil die Farben einer Landschaft in der Dämmerung immer grauer und mehrdeutiger werden. Da kann ich mich nur verneigen.


    Wie viele Intellektuelle haben sich nicht über den Tristan-Akkord den Kopf zerbrochen und versucht, diesen irgendwie mit ihren alten Regeln und Erklärungsmustern ( mehr war es nie) mit ihrem viereckigen Schubladendenken zu erfassen? Man kann diesen Akkord und seinen Ausdruck musikalisch sehr wohl erfassen, durchaus auch, in dem man verfolgt, wohin die einzelnen Stimmen hingeführt werden ( will nicht "aufgelöst" sagen). Es kommt darauf an zu erfühlen, wie die Intervalle gegeneinander schwingen.


    Mein Sohn ist gerade in Dänemark/Klitmøller und macht dort Urlaub. Er schickte mir davon einige Fotos.

    Im Moment findet dort gerade ein mächtiger Sommersturm statt. Man kann zwar wissenschaftlich erklären, wie die Wasserteilchen bei Meereswellen eine eliptische Bewegung machen, wie die Wellenbewegung sich fortsetzt, wie die Welle im unteren Teil den Grund des Strandes fühlt und dann im oberen Teil bricht, wie das Weißwasser nach vorne schiebt und die ( gefährliche) Unterströmung das aufgelassene Wasser wieder zurückführt. Aber der echte Eindruck den man hat, wenn man sich in dieser Brandungszone mit 5m (und mehr) hohen Wänden befindet, ist dann eben ein sehr sehr anderer... Ich weiß, wovon ich rede.


    Ebenso wirkt die aufgewühlte Wasseroberfläche absolut zufällig, ja chaotisch. Wellen überlappen sich, fühlen sich von einer Buhne angezogen.....

    Und doch ist alles, was da stattfindet, absolut logisch und folgt den Naturgesetzen. Es erscheint einem paradox.

    Ähnlich ist es mit der Musik. Die Erklärungsmuster - auch die philosophischen- sind vollkommen unzureichend im Verhältnis zu den gewaltigen Erlebnissen, die das Meer jener Schallwellen in uns Menschen auslösen kann. Diese Erlebnisse, diese Wirkungen sind auch individuelle Wirklichkeit.

    Ein Roboter kann nüchtern analysieren und berechnen, aber die lebende Seele des Menschen ruft beim Hören der Musik oder beim Anblick der gewaltsamen Nordsee aus: herrlich - wunderbar! und ist ergriffen, begeistert, betroffen und erfüllt.

    Das zu erklären, ist in der Tat sehr schwer, nahezu unmöglich. Aber es ist ja so, und dabei kann ich es nur belassen.

    Und gerade bei Bruckner und Wagner fühlt es die empfindsame Seele eines Hörers besonders deutlich.


    Hanslicks Kritik an der Gefühlsästhetik mag intellektuell einleuchtend sein. Musikalisch ist sie es nicht.

    Es mag sein, dass er schon musiktheoretisch etwas davon verstanden hat, was Wagner da schrieb. Aber er hat sich nicht darauf innerlich eingelassen, sonst hätte er nicht so gegen Wagner und Bruckner polemisiert.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hanslicks Kritik an der Gefühlsästhetik mag intellektuell einleuchtend sein. Musikalisch ist sie es nicht.

    Es mag sein, dass er schon musiktheoretisch etwas davon verstanden hat, was Wagner da schrieb. Aber er hat sich nicht darauf innerlich eingelassen,

    Ich will nur ganz wenig zu der Diskussion sagen, die ich eigentlich sehr interessant finde. Ich kann, ähnlich wie Holger, die Position Hanslicks gut nachvollziehen, ohne mich gleich mit allem identifizieren zu müssen ...



    Ich konnte Deinem Beitrag aber nicht entnehmen, was er denn positiv gesehen als Inhalt der Musik ansah, sondern eher negativ gesehen das, was seiner Meinung nach, Musik alles nicht leisten könne. Was wäre denn lt. Hanslick der Inhalt der Musik, wenn er dabei die Wirkungen unberücksichtigt ließe?

    Zitat von Eduard Hanslick

    „Einmal festgehalten, daß die Phantasie das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine sekundäre Wirkung auf das Gefühl in jeder Kunst vorkommen.“


    Auszug aus

    Vom Musikalisch-Schönen / Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst

    Eduard Hanslick


    In seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen rekurriert er auf den Begriff der Phantasie als wesentliches Element der ästhetischen Rezeption. Vielleicht noch ein weiteres Zitat aus seiner Schrift


    Zitat von Eduard Hanslick

    „Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgendeine Beziehung zu unserm Fühlen setzen, keines in eine ausschließliche. Man sagt also gar nichts für das ästhetische Prinzip der Musik Entscheidendes, wenn man sie nur ganz allgemein durch ihre Wirkung auf das Gefühl charakterisiert. Ebensowenig etwa, als man das Wesen des Weins ergründet, indem man sich betrinkt. Es wird einzig auf die spezifische Art ankommen, wie solche Affekte durch Musik hervorgerufen werden. Statt also an der sekundären und unbestimmten Gefühlswirkung musikalischer Erscheinungen zu kleben, gilt es, in das Innere der Werke zu dringen und die spezifische Kraft ihres Eindrucks aus den Gesetzen ihres eigenen Organismus zu erklären.“


    Auszug aus

    Vom Musikalisch-Schönen / Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst

    Eduard Hanslick

    Er schließt natürlich eine gefühlsmäßige Wirkung nicht aus. Diese ist aber nur abgeleitet und unspezifisch. Das Beispiel mit dem Wein finde ich ausgezeichnet .... :)

  • Lieber Christian B.


    in die von Dir genannten Aufnahmen habe ich hineingehört.

    Aufnahmetechnisch finde ich die Honeck-CD etwas besser gelungen.

    Ich habe es jetzt "auf die Schnelle" mit dem Beyerdynamics DT1770pro über TIDAL gehört.


    Dass man auch mit diesen Einspielungen von Bruckners Musik sehr begeistert sein kann, ist schon klar.

    Dennoch sprechen sie mich nicht so an, wie es Wand, Giulini und vor allem Karajan bei dieser einen oben genannten Aufführung mit den Wiener Philharmonikern kann.


    Honeck gefällt mir hier etwas besser als Blomstedt.

    Das "Problem" bei ihm ist für mich nur, dass er m.E. zuviel in den Details interpretiert, statt die Musik einfach mehr fließen zu lassen. Da gibt es dann nachvollziehbare Details in den Streicherstimmen, Akzente, etwas mehr dynamisch Vor und Zurück uvm. Aber der Zusammenhang gerät dadurch -tendenziell wohlgemerkt- etwas in den Hintergrund.

    Die Blechbläser treten im Tutti hier und da etwas mehr hervor, was auch etwas mit Stützmikrofonen zu tun haben kann.

    Bei Deiner Lieblingsstelle - kann ich verstehen- finde ich es weniger wichtig, hier gedoppelte Begleitstimmen aus dem Streichersatz vernehmen zu können, als von der Wucht des an dieser Stelle besonders warmen Musikstroms nach vorne getragen zu werden. Auch das Verständnis des Ganzen wird m.E. bei Karajan an dieser Stelle eher erleichtert als erschwert.

    Aber es kommt eben darauf an, was man hören will.


    Blomstedts Aufnahme empfand ich als etwas kraftlos im Verhältnis etwa zu Wandt, Giulini und Karajan. Wenn er die langen Crescendi ansetzt, ist es ja gut, aber beim Übergang der letzten Töne des Crescendos zum dynamischen Höhepunkt/Ziel vermisse ich etwas eine organisch-fließende Bewegung. Das Ziel steht für mich da als neues, lautes Etwas, nicht als organisches Resultat des vorher aufgebauten Crescendos. Wie gesagt, auch hier gilt: Tendenzen! Nicht absolut verstehen.

    Irgendetwas scheint bei ihm in den Ausbrüchen, auch den warm-romantischen, noch etwas schüchtern-vornehme Zurückhaltung geben.

    Als Erlebnishörer wird man - so wie ich es finde- bei Karajan besser mitgenommen.

    Auch bei Blomstedt vermisse ich etwas den großen Zusammenhang.


    Ich will aber diese Einspielungen nicht als schlecht hinstellen. Sie sind auf ihre Weise absolut hochklassig.


    Ob man Karajans Interpretation als "schwärmerisch" bezeichnen kann?

    Ich nenne es eher vollmundig, leidenschaftlich und ganzheitlich. Und das romantische Orchester lebt ja eigentlich vom Teppich, den die Streicher legen.


    Aber so ist es : jeder hat seine Vorlieben ^^


    Gruß:hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Aber so ist es : jeder hat seine Vorlieben ^^

    Ja, das sollte man einander zugestehen, wobei ich es wichtig finde, die Vorlieben zu begründen und auszuführen, wie es hier ja auch zumeist sehr differenziert geschieht.


    Ich muss gestehen, dass ich Karajans Bruckner bisher sehr geschätzt habe, seine beiden späten Aufnahmen mit den Wienern gehören für mich zu den besten Bruckner-Aufnahmen überhaupt, aber auch die Berliner-Einspielungen, zumal im neuen SACD-Remastering (!), fand ich bisher ÜBERWÄLTIGEND. Erst durch Deinen Hinweis, lieber Glockenton, auf die 1976er Einspielung und der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit der Partitur und mit anderen Einspieungen, muss ich diese Vormachtsstellung, die ich HvK hier bislang eingeräumt habe, aus den bereits genannten Gründen - vor allem wegen der Legato-Dominanz der Streicher - revidieren, zumindest was die Neunte betrifft (in allen drei DG-Aufnahmen). Somit hat also Deine durchaus nachvollziehbare Bewunderung für HvKs Bruckner bei mir genau zum Gegenteil geführt.


    Es wäre nun sehr spannend, auch die 7te und 8te daraufhin erneut zu überprüfen, aber dafür habe ich leider keine Zeit - es bedarf unbedingt einen Blick in die Partitur -, meiner Erinnerung nach sind die späten Wiener-Aufnahmen nicht mehr so legato-selig, sondern etwas aufgerauter.


    Für den Anstoß zu dieser befruchtenden Auseinandersetzung und für die immer sehr persönlichen und fachkundigen Beiträge möchte ich mich bei Dir bedanken!


    Viele Grüße

    Christian

  • Staunen, Bewunderung, Hingabe, Anbetung - das kann Instrumentalmusik durchaus ausdrücken. Wenn man während der Kommunion oder der eucharistischen Anbetung Orgel spielt, dann sollte man z.B. unterlassen, den Radetzky-Marsch zu intonieren...

    Lieber Glockenton,


    ja, Stichwort "Anbetung": Liszt-Lamartine La Bénédiction de Dieu dans la Solitude ("Die Anbetung Gottes in der Einsamkeit"). Dann sind wir aber letztlich bei der Frage einer möglichen Kunstreligion, was "Andacht" hier im künstlerischen, spezifisch musikalischen Sinne bedeuten kann. Was von einer christlichen Andachtshaltung kann die Musik vermitteln oder will sie vermitteln? Erschließt sich das nur dem religiösen Menschen oder ist der religiös-metaphysische Sinn der Musik als solcher immanent? Der junge Nietzsche war ja so kühn, das zu behaupten und sprach darüber später selbstironisch als "Artistenmetaphysik". Für diese metaphysische Behauptung habe ich eine gewisse Schwäche... :saint:

    Es können Hymnen sein, wohlgemerkt ohne Text. Gewisse tranquillo-Bläsersätze bei Bruckner gehen auch in so eine Richtung. Es ist sicher auch kein Zufall, dass hier, aber auch in der ganzen Welt der Begriff "Klangkathedrale" fällt, wenn man über Bruckners Symphonie Nr. 9 im Allgemeinen und über Giulini/WPO/DG im Besonderen spricht.

    Es muss nicht die Melodie sein, die etwas Religiöses ausdrückt, sondern es sind auch die verwendeten Harmonien, die dazu beitragen können.

    Das leuchtet mir alles ein, wirft bei mir aber auch viele Fragen auf.

    Das Gute an der Welt der Musik und ihren Wirkungen ist doch, dass das Unerklärliche bleibt. Wäre das nicht so, würde ich die Musik wahrscheinlich als "das kenne ich schon" und als uninteressant abtun.

    Richtig - aber gleichzeitig, das ist das Paradox, weckt sie den Wunsch nach Sinnverstehen.

    In diese Falle hätte Wagner eben besser nicht tappen sollen...

    Als Theoretiker nehme ich Wagner schon Ernst - und halte ihn auch für wirklich bedeutend.

    Vom inneren Wesen der Musik wusste Wagner unfassbar viel, Hanslick hingegen sprach/schrieb darüber, so wie Astronomen über das Universum schreiben, während z.B. Captain Picard oder Captain Janeway ( Star Trek) aus eigener Erfahrung wissen, wie es da draußen wirklich aussieht. Wäre Wagner ein Wanderer/Wotan, dann wäre Hanslick ein Mime, der vom Göttlichen keine Ahnung hat, noch nicht einmal das Schwert schmieden kann - ach nein, er wäre noch nicht einmal das.

    Ich glaube, man kann Hanslick nicht vorwerfen, dass er keine romantische Metaphysik mehr schreiben wollte. Das ist ein moderner Ansatz, der die Frage beantworten will: Was macht das musikalische Erlebnis zu einem ästhetischen Erlebnis?

    Ob man Karajans Interpretation als "schwärmerisch" bezeichnen kann?

    Ich nenne es eher vollmundig, leidenschaftlich und ganzheitlich. Und das romantische Orchester lebt ja eigentlich vom Teppich, den die Streicher legen.

    Ja, aber in der Romantik, gerade bei Wagner, gibt es auch das andere Prinzip der "Deutlichkeit" (Wagners Begriff!). Wagner wollte ja zwischen dem romantischen und dem traditionellen rhetorischen Musikbegriff vermitteln. Das ist sein Begriff der "charakteristischen Melodie", die "Deutlichkeit" fodert und gerade nicht verfließen soll - vorausweisend auf Gustav Mahler (auch er forderte vor allem "Deutlichkeit") sowie Schönberg und Webern (was sie "Faßlichkeit" nennen). Insofern ist die Beachtung nur des Kontinuitätsprinzips bei Karajan schon etwas einseitig. Man kann legitimer Weise auch etwas "deutlicher" die Stimmführungen behandeln bei Bruckner, wie es andere Dirigenten tun.

    Das mit der barocken Affektenlehre, Mattheson und den Figuren hast Du richtig angeführt, auch im Verhältnis zur Romantik. Für mich sind das fließende historische Übergänge, keine Brüche, also mehr Evolution als Revolution.

    Völlig einverstanden!

    Ich habe mir ja in meiner Harnoncourt-Begeisterung als 12-Jähriger den Mattheson geholt und versucht den zu verstehen - versucht, wohlgemerkt.

    Toll! :)

    Deinen Gedanken zur Eroica kann ich zum großen Teil zustimmen, möchte aber gerne ergänzen, dass aus meiner Sicht auch die Eroica eine Art Scharnierfunktion hat, wie so Einiges von Beethoven. Sie ist einerseits hoch-rhetorische Musik, wobei Beethoven an die Grenzen dessen geht, was Rhetorik sein kann. Hier wird nicht mehr auf gelehrt-gesittete Art und Weise ein vielseitiger Vortrag mit Pro- und Contra im Sinne Matthesons gehalten, sondern da wird geradezu gebellt, rebelliert und unmittelbar eigene Erschütterung entlang des Zeitstrahls der stattfindenden Musik gelebt.

    Ja - das wäre ein eigenes sehr interessantes Thema! :)

    Eine rein rückwärtsbezogene Interpretation der Eroica, also mit Darmsaiten und "mit-ohne Vibrato" empfinde ich von daher als einseitig, weil es auch die andere Seite gibt, ob das Beethoven bewusst war, oder nicht. Diese Symphonie enthält für mich nicht nur den Aufruhr, das Revolutionäre, sondern eben auch das Erhabene, Vollmundige, Wuchtige in romantischer/wagnerischer Vorabschattung.

    Das ist auch meine ketzerische Meinung! ^^

    Ich konnte Deinem Beitrag aber nicht entnehmen, was er denn positiv gesehen als Inhalt der Musik ansah, sondern eher negativ gesehen das, was seiner Meinung nach, Musik alles nicht leisten könne. Was wäre denn lt. Hanslick der Inhalt der Musik, wenn er dabei die Wirkungen unberücksichtigt ließe? Die Form? Wie traurig wäre das denn....?

    Modern gesprochen meint Hanslick die "thematisch-motivische Arbeit". Alles dreht sich bei ihm um den Begriff des "Themas".

    Was ist denn eigentlich Musik? Es sind Schallwellen, Bewegungen in der Luft. Wer Harddiskrecording - so wie ich- betreibt, der kennt sie, die Wellenformen, die von der digitalen Audio-Workstation auf dem Bildschirm ausgewiesen werden.

    Andere kennen vielleicht die Mikroskopaufnahmen einer LP. Da wird eine Tonabnehmernadel auf den Hindernisslauf durch die sichtbaren Erhebungen und Vertiefungen geführt, die analog zu den Schallwellen der Luft gestaltet sind.

    Wissenschaftlich gesehen ist genau DAS Musik, nicht mehr. Ist es wirklich das, worüber wir uns hier alle so aufregen?

    Nein - das gehört auch nur in die Tonpsychologie. ^^ Daraus entsteht noch kein musikalischer Sinn.

    Das alles aber erklärt noch nicht die wundersamen Wirkungen der Musik. Wenn man also Wagner vorwarf, dass es ihm nur auf Wirkungen angekommen sei, dann müsste man zurückfragen: " auf was denn sonst?" Intellektuelles Erkennen des Gerippes ( der Form) ?

    Man muss halt alle Aspekte zusammenbringen - Form, Wirkung und Ausdruck. ;)

    Hanslicks Kritik an der Gefühlsästhetik mag intellektuell einleuchtend sein. Musikalisch ist sie es nicht.

    Es mag sein, dass er schon musiktheoretisch etwas davon verstanden hat, was Wagner da schrieb. Aber er hat sich nicht darauf innerlich eingelassen, sonst hätte er nicht so gegen Wagner und Bruckner polemisiert.

    Hanslick ist in der Konsequenz reduktionistisch. Seine Betonung der "Darstellung" der musikalischen Form als eigenständiger musikästhetischer Gesichtspunkt ist aber unhintergehbar, finde ich. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose