Man liest oft, Fugati aus der Zeit der Wiener Klassik erlaubten nicht mehr kontrapunktische Höhenflüge wie zur Zeit Bachs, auch wird die perfekteste Realisation von Polyphonie in die Zeit der Renaissance datiert. Dies entspricht meinem Weltbild, dass jede Epoche gleichzeitig gegenüber der vorherigen neue Qualitäten entwickelt aber auch alte verliert.
Nun bin ich kürzlich mit Vertretern eines anderen Weltbildes in die Haare geraten und habe daraufhin mich gesammelt und ein paar Noten hervorgekramt sowie mir die Begriffe überlegt und bin zur Bestätigung meines Weltbildes gekommen.
Was kann also bedeuten, die polyphone Meisterschaft in der Klassik könne der älteren das Wasser nicht reichen? Inwiefern kann ein Stück in Bezug auf die polyphone Setzart meisterlicher sein als ein anderes? Was ist Polyphonie?
Klassischerweise bedeutet Polyphonie, dass mehrere Stimmen gleichzeitig erklingen, die autonom sind, aber dennoch bestimmte Regeln des Zusammenklangs befolgen (vor allem Regeln betreffend der Vorbereitung und Auflösung von Dissonanzen, die insbesondere streng sind, wenn die Dissonanz auf einen betonten Moment fällt).
Was geht nun von Palestrina über Bach bis Mozart den BACH runter? Die Regeln, welche den Zusammenklang betreffen, wandeln sich zwar ein wenig, sind aber wohl kaum Ursache davon, dass man von Niedergang sprechen kann. Also muss es an den Stimmen, ihrer Autonomie oder Qualität liegen.
Nun nehme man zur Beurteilung EINE EINZELNE STIMME des Benedictus der Missa Papae Marcelli, EINE EINZELNE STIMME der 2. Fuge des wohltemperierten Klaviers und EINE EINZELNE STIMME der Schlussfuge in der Coda der Jupitersymphonie her (Stücke können natürlich durch andere ersetzt werden, sind aber als Höhepunkte angesehen).
Ich habe mir jeweils die oberste Stimme genommen und am Klavier vorgespielt - und zwar von vorne bis hinten. Das war eine Offenbarung.