Das Rezitativ in der Instrumentalmusik

  • Hallo, allerseits,


    da habe ich noch ein kleines Thema, das mich beschäftigt:


    Was sollen die Rezitative in verschiedenen Werken Beethovens ?


    Dabei denke ich vor allem an das Rezitativ, das Thema in der Sonate Op. 31/2, 1 Satz, das noch einmal im 3. Satz, dem Arioso dolente von Op. 110 auftaucht.


    Immer habe ich es mit der Florestanszene in Verbindung gebracht, so etwa mit den Worten "Welch ein Dunkel hier, welch grauenhafte Stille".


    Aber - weder in all dem, was ich über die betreffenden Sonaten gelesen habe, noch in der Musik von Fidelio taucht es auf - oder habe ich es überhört?
    Es paßt für mich einfach, denn die "Sturm-Sonate", geschrieben in der Zeit des Heiligenstädter Testamentes, könnte schon eine Reflexion auf die Ängste sein.
    Genauso, wie ich die Sonate Op. 110 immer mit dem Gedanken im Hinterkopf höre, es sei die Vearbeitung des Todes von Josephine Brunswick, (man kann gelesene Bücher schlecht verdrängen, hier Goldschmidt und Tellenbach).
    OK, daß ist nicht wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis. Aber irgendwie für mich stimmig.


    Wer weiß, weshalb dieses Rezitativ dort ist, was da rezitiert wird ?


    Ein anderes Beispiel ist die Oboenpassage im ersten Satz der 5. Symphonie.


    Ich kann mir vorstellen, daß es nicht nur bei Beethoven so etwas gibt


    Auf die Beiträge bin ich gespannt.


    Mit lieben Gruß aus Bonn :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Salü,


    ein tolles Thema!


    Mangels Zeit hier noch ein paar Beispiele aus dem Instrumentalmusikbereich, in dem quasi-Rezitative vorkommen:


    Joseph Martin Kraus: Streichquartett E-Dur, 2. Satz
    Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert Nr. 4, 2. Satz


    Letztgenanntes scheint eine besonders ausgearbeitete Form des instrumentalen Rezitativs zu sein. Auch in einem der Steichquartette Joseph Haydns befindet sich m. W. eine solche Stelle, Johannes Roehl kann bestimmt sagen, in welchem - mir fällt es gerade nicht ein. Nochmal bei Haydn kommt etwas ähnliches in einer A-Dur-Klaviersonate vor [genau Bezeichnung habe ich jetzt nicht parat]: Der erste Satz A-Dur geht sehr direkt in einen rezitativischen Mittelsatz, der [richtig erinnert?] in cis-Dur mit der Terz [eis] im Bass beginnt, über.


    Ich mag solche Stellen besonders gerne - warum, weiß ich auch nicht.


    Sicher fallen mir im Laufe der nächsten Stunden noch weitere ein...


    Es grüßt ein vielbeschäftiger


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Hallo Ulli,
    Du hat ein "Frust-Ablassungs-Thread" gestartet. Den hast Du gar nicht nötig, denn, wenn man sich mal traut, etwas in die Tamino-Welt zu setzen, dann bekommt man eine aufmunternde Antwort von Dir. Das möchte ich Dir dankend mal sagen.


    Du hat recht, der 2. Satz des 4. Klavierkonzertes ist auch so etwas. Irgendwo habe ich gelesen, es sei die Zwiesprache von Orpheus mit Cerberus, na ja.
    Ich habe es immer als eine Zwiesprache zwischen Mann und Frau gehört, übrigens ist meiner Meinung nach ein ähnliches Strickmuster im 2. Satz des Violinkonzertes zu finden - und im ersten Satz der Klaviersonate Op. 56, da aber ein hübscher Zank, der dann mit der Besänftigung des Mannes endet.


    Die anderen von Dir genannten Stellen werde ich mir anhören.


    Lieben Gruß aus Bonn

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Was das genau bedeuten soll, muß man wohl von Fall zu Fall entscheiden. (ziemlich klar ist es nur in der 9. Sinfonie, wo ja noch ein vokales Rezitativ folgt, die Bässe "weisen die Fragmente der vorhergehenden Sätz zurück")
    In op.31,2 bin ich diesbezüglich völlig unsicher, in op.58 gibt es die Deutung des Orpheus, der die wilden Tiere zähmt, klar dürfte eine "Gegnerschaft" von Klavier und Orchester sein.
    Bei op.110 hat man einen Bezug zur Passion (u.a. weil das Arioso dolente an "Es ist vollbracht" aus der Johannespassion erinnert) hergestellt.


    Weitere Stellen bei Beethoven:
    - op.130, Cavatina "beklemmt"
    - op.131, der 3. Satz ist eine Art rezitativissche Überleitung zum Variationensatz
    - op.132, zwischen dem alla marcia und dem Beginn des Finales
    (Mendelssohn macht das in seinem a-moll-Quartettganz ähnlich)
    - Auch das "Muß es sein" in op. 135 könnte man nennen.


    Bei Haydns Quartetten gibt es etliche langsame Sätze, die ebenfalls Rezitative (oder so was ähnliches) enthalten, op.20,2 geht in die Richtung, noch deutlich ist IIRc eins aus op.17 (G-Dur) und vermutlich noch einige weitere (so gut habe ich die nicht im Kopf, in Feders Büchlein nachsehen).


    Eine sehr prägnante Stelle ist außerdem der Anfang des Finales von Haydns Sinfonia Concertante!


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zu diesem Thema fällt mir spontan Bachs "Chromatische Fantasie und Fuge" ein, wo ein umfangreiches Rezitativ die Fantasie abschliesst und zur Fuge überleitet. Kannte Beethoven möglicherweise dieses Werk?


    Das Oboensolo in der 5. Sinfonie geht sicher in Richtung Rezitativ, es fehlen aber die sonst üblichen Begleitakkorde (wenn ich mich richtig erinnere).


    :hello: Andreas

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  • Die Bedeutung solcher Rezitativ-Szenen nachträglich zu ermitteln dürfte sicher schwer bis unmöglich sein - mit Sicherheit haben sich die Komponisten dabei etwas gedacht (gibt es zu solchen Stellen evtl. auch mal überlieferte Äußerungen oder schriftliche Zitate der betreffenden Komponisten?).


    Z. B. wollten sie mit Sicherheit mit dieser für die Zuhörer direkt nachzuvollziehenden Reminiszenz an die Welt der Oper und der Vokalmusik verdeutlichen, wie nah das eine oder andere Instrument an die menschliche Stimme herankommt.


    Ein schönes Beispiel ist die Rezitativ-Stelle aus Weber 2. Klarinettenkonzert kurz vor Ende des 2. Satzes - die Klarinette erinnert, umgeben von den rezitativtypischen Floskeln der Streicher derart frappant an eine Gesangsstimme, die hier leidenschaftlich etwas deklamiert, dass sich mir diese Mutmaßung einfach aufdrängt:
    Der Klarinettist kann hier unter Beweis stellen, wie täuschend echt er eine menschliche Stimme in ihrem Ausdruck und ihrer Phrasierung in dieser typischen Gesangsszene nachzuahmen versteht.


    Das mag etwas einseitig klingen und das Soloinstrument zu sehr auf Stimm-Imitation festlegen, aber man liest ja immer wieder, wie sehr dieses Menschliche-Stimmen-Nachahmen-Wollen die Instrumentenbauer (und Komponisten) angespornt hat.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Zitat

    Original von Stabia


    Wer weiß, weshalb dieses Rezitativ dort ist, was da rezitiert wird ?


    Liebe Stabia,


    wirklich wissen kann das niemand, denn Beethoven selbst hat sich nicht dazu geäußert. Was wir wissen ist, dass Instrumentalrezitative eine lange eigenständige Tradition haben (ein älteres Beispiel, das mir noch einfällt, ist ein ganzer Satz in einer Gambensonate e-moll von Telemann): Spaß an der Nachahmung der menschlichen Stimme, wie MarcCologne meint, gehört ganz bestimmt zu den Beweggründen so etwas zu Komponieren, ebenso aber auch die Tradition der musikalischen Rhetorik, die Musik als eine Klangrede begreift. Ich würde solchen Klangreden aber keine konkreten Texte oder Inhalte unterlegen wollen, denn gerade das Unkonkrete, Traumhafte an solchen Rezitativen macht für mich den Reiz an der Sache aus.


    Liebe Grüße


    Amateur

    Dem Amateur ist nichts zu schwör.

  • Das stimmt schon, allerdings - warum das gleiche Rezitativ nach so vielen Jahren dazwischen.


    Es muß etwas ganz bestimmtes für Beethoven ausgesagt haben. Wir werden es nicht erfahren, aber es ist für mich wieder ein Indiz, daß seine Musik sein Ventil war, seine Empfindungen, Gedanken auszudrücken.


    Rezitative dieser Art - sie sind immerhin etwas nicht häufg vorkommendes - scheinen das individuellste zu sein, was ein Komponist schreibt.


    Mit Gruß aus Bonn :hello: :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • Unbedingt anhören: Schostakowitsch, Streichquartett Nr. 2 A-Dur op 68. Der zweite Satz ist überschrieben mit "Rezitativ und Romanze". Der erste Teil, das Rezitativ, ist eine endlos anmutende "schwebende" Fantasie, die von der Ersten Violine vorgetragen wird, während die übrigen Instrumente dazu einen leisen, fast mystisch und unwirklich anmutenden Klangteppich aus lang angehaltenen Akkorden liefern. Die Musik erinnert mich an ein Gebet.


    Viele Grüße
    Frank

  • Hallo,


    Bach hat auch in der berühmten d-moll Fuge BWV565 gegen ende eine Stelle mit "Recitativo" überschrieben. Eine sehr schöne, virtuos anmutende Stelle, in welcher Bach die Polyphonie gegen eine unbegleitete"Solostimme" tauscht.


    LG
    Raphael

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  • Salü,


    Mozart fehlt noch in der Aufzählung: Beispielsweise der Schluß [T. 127ff.] des 2. Satzes des Es-Dur-Klavierkonzertes KV 271.


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Salü,


    eine wirklich ausgedehnte "Rede" befindet sich in Haydns Streichquartett G-Dur op. 17 Nr. 5 [Hob. III:29], im 3. Satz Adagio.


    :jubel: :jubel: :jubel:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von raphaell
    Hallo,


    Bach hat auch in der berühmten d-moll Fuge BWV565 gegen ende eine Stelle mit "Recitativo" überschrieben.


    Wer?


    Bach hat sicher Stellen in seinen Instrumentalwerken mit "Recitativo" überschrieben. BWV 903 käme da in Frage, aber die "Epidemische" sicher nicht. Bach hat da gar nichts geschrieben.

  • Hi,


    weiß eigentlich jemand, was das rezitativische Bass-Solo im Finale von Beethovens 9ter Sinfonie zu bedeuten hat? Hat man sich dazu den Text, der später dazu auch gesungen wird vorzustellen oder etwas anderes? Gibt es dazu Meinungen oder gar Wissen?


    Interessant fand ich auch den Einwurf aus dem Scherzo inmitten des "Rezitativs"...


    Grüßle aus B-Town*


    :hello:


    Ulli



    *auf der Fahrt hierher habe ich natürlich die 9te hören müssen, in der neu vorgelegten Einspielung von Christoph Spering.

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Hi,


    weiß eigentlich jemand, was das rezitativische Bass-Solo im Finale von Beethovens 9ter Sinfonie zu bedeuten hat? Hat man sich dazu den Text, der später dazu auch gesungen wird vorzustellen oder etwas anderes? Gibt es dazu Meinungen oder gar Wissen?


    Die Semantik der Stelle scheint mir doch relativ klar zu sein und war m.W. auch nie groß umstritten (wobei ich das bei der überbordenden Rezeptionsgeschichte nicht belegen kann - daher eher Meinung als Wissen ;)):


    Also: "Schreckensfanfare" des Orchesters. Dann die Kontrabässe mit dem Thema, dem später die Worte "O Freunde, nicht diese Töne" unterlegt werden - man geht kaum fehl, wenn man auch schon der rein instrumentalen Version diese Bedeutung zuerkennt. Dann aber erneut die unerwünschten Töne bzw. die "Schreckensfanfare". Beim zweitenmal gelingt es den Bässen, den Tumult zu beruhigen. Jetzt werden Lösungen angeboten, wie es weitergehen kann - und zwar in Gestalt der Hauptthemen der ersten drei Sätze, die angespielt werden. Jedesmal "verwerfen" die Bässe das angebotene Thema, mal recht harsch und eindeutig (nach dem Scherzo-Motiv), mal eher sanft (nach dem Adagio-Thema). Aus der Reaktion auf das Adagio-Thema entsteht in den Holzbläsern andeutungsweise das Freudenthema - ein vierter "Vorschlag", der von den Bässen freudig begrüßt, dann übernommen und ausgeführt wird.


    Wenn dann schließlich nach dem mehrfachen, immer gesteigerten instrumentalen Durchlauf des Freudenthemas wieder die Schreckensfanfare hervorbricht, reichen die Kontrabässe zu endgültigen Durchsetzung der Freude nicht aus - deshalb kommt die menschliche Stimme zum Einsatz (sinnigerweise der Bass). Wagner sah mit dieser Stelle schon (etwas voreilig) das Ende der rein instrumentalen Sinfonie eingeläutet.


    Das war jetzt leicht vereinfacht dargestellt, aber ungefähr dürfte es schon hinkommen.



    Viele Grüße


    Bernd

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  • So, und jetzt kommt noch etwas Wissen :D:



    In seinen Skizzen hat Beethoven die Passage mit Texten unterlegt.



    Beim ersten Kontrabassrezitativ: Heut ist ein feierlicher Tag, dieser sei gefeiert mit/durch Gesang und Tanz.


    Nach dem Zitat des Beginns des ersten Satzes: O nein, dieses nicht, etwas anderes gefälliges ist es, was ich fordere.


    Nach dem Zitat des Scherzo-Themas: Auch dieses nicht, ist nur Possen ... sondern nur etwas heiterer ... etwas schöners und bessers.


    Nach dem Zitat des Adagio-Themas: Auch dieses (nicht) es ist zu zärtl. etwas aufgewecktes (?) muß man suchen wie die ... ich werde sehn daß ich euch selbst etwas vorsinge alsdann stimmt nur nach.


    Bei der ersten Andeutung des Freudenthemas in den Holzbläsern: Ha, dieses ist es. Es ist nun gefunden Freude...


    (zitiert nach: Dieter Hildebrandt, Die Neunte, München/Wien 2005, S. 148f.)



    Diese Eintragungen haben natürlich selbst einen skizzenhaften Charakter, zeigen aber doch deutlich, wohin die Reise gehen soll...



    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Stabia,


    Zitat

    Original von Stabia
    Dabei denke ich vor allem an das Rezitativ, das Thema in der Sonate Op. 31/2, 1 Satz, das noch einmal im 3. Satz, dem Arioso dolente von Op. 110 auftaucht.


    Immer habe ich es mit der Florestanszene in Verbindung gebracht, so etwa mit den Worten "Welch ein Dunkel hier, welch grauenhafte Stille".


    Aber - weder in all dem, was ich über die betreffenden Sonaten gelesen habe, noch in der Musik von Fidelio taucht es auf - oder habe ich es überhört?


    die von Dir genannten Stellen habe ich jetzt zwar nicht im Ohr, aber ich habe den Verdacht, dass es sich nicht um das selbe Rezitativ handelt. Jedenfalls klingen Rezitative immer sehr ähnlich, selbst noch bei Wagner. Dabei denke ich gerade an Siegmund in der 3. Szene des 1. Akts der Walküre nach "Ein Schwert verhieß mir der Vater" und bevor Sieglinde dazu kommt - z. B. als da was am Stamm der Esche blinkt. Selbst die mit, wenn ich mich recht entsinne, recitativo bezeichneten Stellen im Streichtrio von Arnold Schönberg erinnern an den alten Rezitativ-Tonfall.


    Viele Grüße


    :hello: