Wolfgang Gruhles „Streichquartett Lexikon“ (Triga, Gelnhausen, 3. Auflage 2005) führt bei Franz Schubert 18 Werke für Streichquartett an, darunter eine vor 1811 entstandene Ouvertüre D 8a, ein paar „Deutsche Tänze“ D 86 sowie D 89-91, den Streichquartettsatz c-Moll D 103 – und 15 mit offenbar von früherer Zählung übernommenen Nummern versehene Werke, wobei das Quartett Nr. 7 (D 94) chronologisch (da wahrscheinlich 1811 komponiert) zwischen 1 und 2 eingeordnet wird. Nr. 10 (D 87, 1813, lange Zeit mit 1824 datiert) hingegen nimmt die Position von Nr. 7 ein. Die Deutsch-Verzeichnisnummern stimmen durch neuere Forschungsergebnisse auch nicht durchgehend mit der Chronologie der Entstehung der Werke überein. Bei der Gesamtaufnahme des Stuttgarter Melos Quartetts (6 CDs, DGG Collectors Edition 463 151-2), die in neun verschiedenen Monaten von November 1971 bis März 1975 im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle entstand, fanden alle Werke außer D 8a, D 86 und D 89-91 Berücksichtigung. In der Folge finden die von Monika Lichtenfeld für die Erstveröffentlichung der Box auf LP im Jahr 1975 zusammengetragenen Daten, die auch in der Collectors Edition vermerkt sind, bei den Anmerkungen zu den einzelnen Werken Berücksichtigung. Wenn sie vollständig (erhalten) sind, umfassen Franz Schuberts Streichquartette vier Sätze, der zweite davon ist der langsame Satz, der dritte ein Menuett (selten Scherzo). (Nur in D 18 steht das Menuett an zweiter Stelle.)
Hier meine subjektiven Höreindrücke beim Anhören der CDs aus dieser Box:
Franz Schubert verwischt in seinem unerschöpflichen Themenreichtum oft die Grenzen zwischen den Abschnitten einzelner Sätze so musikalisch-musikantisch, dass man bald nicht mehr gewillt ist, die Strukturen herauszuhören. Man ergibt sich dem Fluss und den Überraschungen der Musik. Man hört sich in einer Zwischenwelt fest, die einen gleichzeitig ganz intensiv in ihren Bann zieht und die Gedanken nur allzu gern abschweifen lässt. Dann wird die Musik „selbstverständlich“, genauso wie sie „unbegreiflich“ bleibt, dann wirkt sie ins Unterbewusstsein, lässt aber immer wieder mit markanten Motiven, zwischen (vermeintlicher?) Biedermeier-Gemütlichkeit, Fugatokunst und völlig überraschenden harmonischen Wendungen aufhorchen. Es öffnen sich himmlische Ewigkeiten, bisweilen aber auch extrem gefährliche Klüfte. Schuberts Musik ist so „angenehm“ und im selben Augenblick so „schmerzerfüllt“ wie keine andere. Haydn, Mozart, Beethoven sind da, und doch kann die meiste Musik Schuberts nur von diesem komponiert, nein besser: gesungen worden sein. Die Psychologie der Melodie erschließt sich, öffnet sich, erschüttert den Hörer dann mit den Begleitmustern, die ihr beigefügt sind.
Schuberts Jugendwerke, wie einhellig betont wird für Hausmusik ideal geeignete, technisch nicht zu anspruchsvolle Streichquartettliteratur, einige bis ins 20. Jahrhundert hinein völlig unbekannt, nach den Aufführungen im Schubertschen Familienkreis wie einige andere Werke von Schubert auch knapp am völligen Vergessenwerden (zum Teil verschollen geglaubter Sätze) vorbeigeschrammt, lassen eine nahezu unheimliche Reife der Komposition hören.
Schon die innige Andante-Einleitung des ersten Quartetts, des 1810 oder 1811 komponierten Streichquartetts in verschiedenen Tonarten D 18 (Nr. 1), die in „Schicksalsschläge“ mündet, offenbart das Einmalige dieses Franz Schubert. Der Presto vivace-Satz in Moll verströmt eine ganz eigene Stimmung – das ist Schuberts Zwischenwelt. Es folgen ein „Biedermeier-Menuett“ und ein inniger Andante-Satz sowie als Ausklang ein Presto. Was für eine „Vorgabe“ eines jungen Genies!
Das Streichquartett C-Dur D 32 (Nr. 2) entstand im September und Oktober 1812. Ein Wunder ist das nach dem eröffnenden Presto-Satz folgende 6/8-Andante in a-Moll mit seiner Siciliana-Melodie der Geige. Das Werk schließen ein Allegro-Menuett und ein Allegro con spirito ab.
Das von 19.11.1812 bis 21.2.1813 komponierte Streichquartett B-Dur D 36 (Nr. 3) lässt in der Durchführung des ersten Satzes aufhorchen, mit einem Stimmungswechsel, einer „Stille aus dem Wirbel heraus“ – Schuberts Zwischenwelt, einmal mehr! Auch das anschließende Andante „hat sein Geheimnis“. Satz 3 ist wieder ein Menuett. Satz 4 ein Allegretto.
Ein Geniestreich ist das von 3. bis 7.3.1813 komponierte Streichquartett C-Dur D 46 (Nr. 4) mit seiner düster-absteigenden Adagio-Einleitung, mit seinem heftigen Allegro con moto, seiner wunderbar ausgeweiteten „Wiegenlied“-Melodie des zweiten Satzes, seinem Menuett, das wie ein Scherzo von Beethoven daher kommt, dessen Trio aber unverkennbar schubertisch-musikantisch ist, und mit seinem heiter-spritzigen Finale.
Sind die Mittelsätze des von 8. bis 16.6.1813 komponierten, am 18.8.1813 beendeten Streichquartetts B-Dur D 68 (Nr. 5) wirklich für immer verloren? Der erste Satz ist „klassischer“ Schubert, der zweite erhaltene „wie ein Haydn-Finale“.
Der Musikfreund kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn er hört, was Franz Schubert zwischen 22.8. und September 1813 zum Namenstag seines Vaters am 4.10. komponiert hat: das Streichquartett D-Dur D 74 (Nr. 6) ist ganz, ganz wunderbare klassische Musik, alle vier Sätze (Allegro man non troppo, Andante, Allegro-Menuett und Allegro)!
Das im November 1813 entstandene Streichquartett Es-Dur D 87 op. posth. 125 Nr. 1 (Nr. 10), lange Zeit als erst 1824 entstanden datiert (daher vielfach als Nr. 10 gezählt), bietet schöne weitläufige Schubert-Klassik, im zweiten Satz ein großes Adagio und ein spritziges Prestissimo-Scherzo sowie ein genauso spritziges Allegro-Finale.
Das Streichquartett D-Dur D 94 (Nr. 7), man weiß nicht ob es 1811 oder 1812 entstanden ist, vermutet aber die Erstaufführung 1814 im Hause Schubert, erscheint ähnlich dem vorigen Werk von einmaliger, inniger, kunstvoller Schlichtheit durchzogen.
Den Quartettsatz c-Moll D 103, ein von Alfred Orel ergänztes Fragment, hat Franz Schubert im April 1814 komponiert. Die übrigen Sätze sind wahrscheinlich verschollen. Grave, dann ein Allegro – auch hier gibt die Musik nicht ihr „Geheimnis“ preis. Nicht zum letzten Mal überraschen einige Zäsuren in Schuberts Werk.
Reifer, vergeistigter (als die bisherigen vollständigen Streichquartette), von pastoralem Grundton getragen hört sich das Streichquartett B-Dur D 112 op. posth. 168 (Nr. 8 ) an, das Schubert zwischen 5. und 13.9.1814 aufschrieb. Der erste Satz ist ein Allegro man non troppo, der zweite ein Andante sostenuto, der dritte ein Allegro-Menuett und das Finale ein Presto-Satz.
Ungewohnt „klassisch streng“ mutet das von 25.3. bis 1.4.1815 komponierte Streichquartett g-Moll D 173 (Nr. 9) an. Berührend schön – wieder einmal – erklingt hier etwa der melodische Einfall des zweiten Satzes, eines Andantino. Und wie Schubert diese Melodie weiterspinnt! Schubert ist ein einmalig innig komponierendes Genie. Immer wieder!
1816 entstand das Streichquartett E-Dur D 353 op. posth. 125 Nr 2 (Nr. 11), wieder „Wiener Klassik“ von Franz Schubert.
Und dann ist da der irgendwie unheimlich fließende Quartettsatz c-Moll D 703 (vielfach gezählt als Nr. 12) vom Dezember 1820. Ein Sprung von der Jugend, von der kompositorisch reifen Jugend zur noch geheimnisvolleren, unerklärlicheren, noch selbstverständlicheren und noch labyrinthisch nicht fassbareren Schubert-Zeit danach.
Die drei großen Werke der allzu frühen späten Schubert-Jahre sind noch weiter gespannt als die bisherigen, sie dauern 37 („Rosamunde“) bis 50 Minuten („G-Dur“, mit Wiederholung der Exposition im ersten Satz).
Von Februar bis Anfang März 1824 schuf Franz Schubert sein Streichquartett a-Moll D 804 op. 29 Nr. 1 (Nr. 13). Es wurde als einziges Streichquartett zu Lebzeiten Schuberts komplett in einem offiziellen Konzert aufgeführt, am 14.3.1824 im Saal „Zum Roten Igel“ im Musikverein Wien vom Schuppanzigh-Quartett. Der erste Satz ist ein „Geheimnis in a-Moll“, das ist Musik an der Grenze, der Hörer wird, lässt er sich ganz hineinfallen in diese Welt, ganz auf sich selbst zurückgeworfen, es stellen sich „die letzten Fragen“. Das bekannte Thema des Andante-Satzes kennt der Schubert-Freund auch aus der Zwischenaktmusik Nr. 3 zu „Rosamunde. Fürstin von Cypern“ D 797 und als Variationsthema zum Impromptus für Klavier op. posth. 142 Nr. 3 D 935. Wieder dieses „Geheimnis“ – im Allegretto-Menuett. Im Allegro moderato-Finale darf es aber auch Zuversicht geben.
Das im März 1824 komponierte Streichquartett d-Moll D 810 (Nr. 14) „Der Tod und das Mädchen“ hat bereits einen Thread (Stand 6.9.2007):
Franz Schubert: Streichquartett d-moll D 810 - Der Tod und das Mädchen
Genauso das Streichquartett G-Dur D 887 op. posth. 161 (Nr. 13):
Franz Schubert: Streichquartett G-Dur D 887
Die ersten Aufnahmen des wunderbar innig, impulsiv und musikantisch aufspielenden Melos Quartetts - eine wie ich finde ideale Aufnahme zum Kennenlernen der Werke, obwohl nicht alle Wiederholungen gespielt werden! - aus dem Jahr 1971 (D 18, 32, 36) vermitteln fast noch ein Mono-Klangbild. Erst danach werden die vier Instrumente im Stereosound weiter aufgefächert.
Vielleicht kann dieser neue Thread (der erste, den ich mich zu eröffnen getraue) dazu animieren, über weitere Gesamtaufnahmen der Schubert-Quartette zu schreiben, oder auch über Einzelaufnahmen einiger Werke, für die noch kein Einzelthread vorhanden ist, oder über die Werke allgemein, über ihre Eigenheiten und Zwischenwelten.
Herzlicher Gruß
Alexander