Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonung

  • Natürlich ändert sich ein Gedicht als Gedicht nicht durch seine Vertonung. Was meinem Verständnis nach BBF und meine Wenigkeit weiter oben zu sagen versuchten, war eher, ob und inwieweit man zum einen Schwächen oder wenigstens als altmodisch wahrgenommene Züge eines Gedichtes häufig aufgrund einer auf irgendeine Weise berückenden oder mitreißenden Vertonung, bereitwillig ausblendet, wenn man sich der Vertonung aussetzt.
    Zum andern, da bleibt es bisher aber bei einer Andeutung BBFs im anderen thread resp. "Mondnacht", wie eine Vertonung die Wirkung eines Textes (in wiederum noch zu erläuternder Weise) "schwächen" können kann.


    Dennoch bleibt der Text ein Aspekt der Vertonung. Der Text von "Der Hirt auf dem Felsen" ist ziemlich sicher auch aus seinerzeitiger Perspektive eher mies zu nennen (auf die Gefahr hin, Klawirr zu einer das Gegenteil zeigenden Analyse zu provozieren), das Lied ist nichts weniger als herausragend und es wäre nicht ebenso grandios, wenn die Sängerin auf "ahahaha" vokalisieren oder durch eine zweite Klarinette ersetzt würde ;)
    Die Stimmung, die Emotionen, das Naturszenario, alles, was das Gedicht bestenfalls mittelmäßig, aber eher in Form von Klischees beinhaltet, kommt
    in der Musik zum Ausdruck.


    Als jemand, der eher selten Gedichte liest (u.a. weil er der Ansicht ist, dass sie, jedenfalls die meisten, vorgetragen werden müßten), stehe ich bis auf weiteres zu meiner "Intensivierungshypothese". Eine gelungene Vertonung schwächt den Text nicht ab, sondern intensiviert ihn in vieler Hinsicht. Im "Lindenbaum" kommt z.B. in der Klavierbegleitung nicht nur das Rauschen (was sich dann zum Blasen des eisigen Windes wandelt) vor, sondern auch zur romantischen Symbolsprache gehörende Hörnerklänge usw. vor. Die ganze Winterreise ist voll von solchen Sachen, dazu noch die gestischen Motive, die mehr oder weniger zügiges Gehen, Tropfen des Schmelzwassers usw. verdeutlichen. Die Natur, die die Stimmung des Wanderers spiegelt (oder zu ihr kontrastiert) wird in der Musik auf mehreren Ebenen dargestellt.


    Mich würden aber natürlich Beispiele dafür interessieren, wo jemand den Eindruck hat, ein Gedicht verlöre (nicht als Gedicht schlechthin, sondern als Teil des Liedes) durch die Vertonung. Reich-Ranicki hat das IIRC mal über "Ein Jüngling liebt' ein Mädchen" von Heine/Schumann behauptet. Aber MRR hat die doppelte Ironie der Vertonung nicht verstanden. (Wenn ich nicht irre, diskutiert Martin Geck dieses Lied in dem von Bernd/Zwielicht irgendwo erwähnten Band zur Musik des 19. Jhds.).


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo JR,


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Natürlich ändert sich ein Gedicht als Gedicht nicht durch seine Vertonung. Was meinem Verständnis nach BBF und meine Wenigkeit weiter oben zu sagen versuchten, war eher, ob und inwieweit man zum einen Schwächen oder wenigstens als altmodisch wahrgenommene Züge eines Gedichtes häufig aufgrund einer auf irgendeine Weise berückenden oder mitreißenden Vertonung, bereitwillig ausblendet, wenn man sich der Vertonung aussetzt.
    Zum andern, da bleibt es bisher aber bei einer Andeutung BBFs im anderen thread resp. "Mondnacht", wie eine Vertonung die Wirkung eines Textes (in wiederum noch zu erläuternder Weise) "schwächen" können kann.


    Dem habe ich auch gar nicht widersprechen wollen. Im Gegenteil! Es geht einfach nur darum, daß ein Gedicht und der aus diesem Gedicht extrahierte Liedtext (selbst wenn »Gedicht« und »Liedtext« dem Wortlaut nach textidentisch sind) zwei unterschiedliche paar Schuhe sind. Ein mehr oder weniger schwaches Gedicht kann als Liedtext funktionieren – die Vorlage für einen Liedtext kann unter Umständen sogar vollkommen unpoetisch und undichterisch sein und dennoch als Liedtext funktionieren. Man denke nur an L. Bernsteins Liederzyklus »La bonne Cuisine«, in dem 5 (allerdings stilisierte) Kochrezepte vertont sind. Brilliante Klavierlieder! – als »Gedichte« funktionieren die Texte aber nach wie vor nicht.
    Bei dem Müller bin ich mir da nicht so sicher. Ich halte die Gedichte der Winterreise zwar nicht gerade für die Speerspitze der romantischen Lyrik, aber meilenweit unter romantischem Durchschnitt rangieren sie eben auch nicht. Und das dichterische Handwerkszeug hat Müller sehr wohl beherrscht, manches ist ja sogar relativ subtil und gut gearbeitet (das übersieht man schnell, wenn man immer nur auf der Suche nach der »Aussage« ist). Mehr habe ich in meinem aufgeblasenen Beitrag auch gar nicht deutlich machen wollen.



    Zitat

    Dennoch bleibt der Text ein Aspekt der Vertonung. Der Text von "Der Hirt auf dem Felsen" ist ziemlich sicher auch aus seinerzeitiger Perspektive eher mies zu nennen (auf die Gefahr hin, Klawirr zu einer das Gegenteil zeigenden Analyse zu provozieren), das Lied ist nichts weniger als herausragend und es wäre nicht ebenso grandios, wenn die Sängerin auf "ahahaha" vokalisieren oder durch eine zweite Klarinette ersetzt würde ;)
    Die Stimmung, die Emotionen, das Naturszenario, alles, was das Gedicht bestenfalls mittelmäßig, aber eher in Form von Klischees beinhaltet, kommt in der Musik zum Ausdruck.


    Also, die Gefahr brauchst Du nicht zu fürchten. Ist mir viel zu anstrengend. Und außerdem: einmal am Tag zu denken, ist doch wohl völlig ausreiched, oder? :D
    Aber im Ernst: das sehe ich ganz genauso - deswegen glaube ich ja eben auch, daß ein »Gedichttext« als »Gedicht« einerseits und ein »Gedichttext« als »Liedtext« andererseits eigentlich nicht mehr unbedingt ganz viel miteinander gemein haben. Der Text von »Der Hirt auf dem Felsen« bleibt als »Gedicht« weiterhin ein mieses Gedicht, auch wenn er als Liedtext perfekt funktioniert.


    Zitat

    Als jemand, der eher selten Gedichte liest (u.a. weil er der Ansicht ist, dass sie, jedenfalls die meisten, vorgetragen werden müßten), stehe ich bis auf weiteres zu meiner "Intensivierungshypothese". Eine gelungene Vertonung schwächt den Text nicht ab, sondern intensiviert ihn in vieler Hinsicht.


    d'accord! Siehe zum Beispiel auch »La bonne Cuisine«... ;)


    Zitat

    Mich würden aber natürlich Beispiele dafür interessieren, wo jemand den Eindruck hat, ein Gedicht verlöre (nicht als Gedicht schlechthin, sondern als Teil des Liedes) durch die Vertonung. Reich-Ranicki hat das IIRC mal über "Ein Jüngling liebt' ein Mädchen" von Heine/Schumann behauptet. Aber MRR hat die doppelte Ironie der Vertonung nicht verstanden. (Wenn ich nicht irre, diskutiert Martin Geck dieses Lied in dem von Bernd/Zwielicht irgendwo erwähnten Band zur Musik des 19. Jhds.).


    viele Grüße


    JR


    Mir fällt kein Beispiel dafür ein , daß ein Gedicht durch seine Vertonung gelitten hätte. Wie auch? Es ist natürlich theoretisch möglich, daß ein Komponist komplett am Stimmungsgehalt eines Textes vorbeikomponiert. Wahrscheinlich schafft es ein solches Lied dann aber nicht wirklich ins Repertoire.


    Ganz herzlich,
    Medard


    p.s. MRR hat bisweilen etwas seltsame Ansichten - allerdings glaubt er ja auch die Literaturgeschichte habe vornehmlich zwischen Goethe und Thomas Mann stattgefunden - nebst eines dumpfen Vorspiels mit einem vereinzelten Ausreißer nach oben (Shakespeare) und eines traurigen Nachspiels des unaufhaltsamen Niedergangs.

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Mich würden aber natürlich Beispiele dafür interessieren, wo jemand den Eindruck hat, ein Gedicht verlöre (nicht als Gedicht schlechthin, sondern als Teil des Liedes) durch die Vertonung. Reich-Ranicki hat das IIRC mal über "Ein Jüngling liebt' ein Mädchen" von Heine/Schumann behauptet. Aber MRR hat die doppelte Ironie der Vertonung nicht verstanden. (Wenn ich nicht irre, diskutiert Martin Geck dieses Lied in dem von Bernd/Zwielicht irgendwo erwähnten Band zur Musik des 19. Jhds.).



    Stimmt! Ich hab's gleich nochmal nachgelesen (Martin Geck, Von Beethoven zu Mahler, Reinbek 2000, S. 188ff.) und zitiere auszugsweise:


    ... Unpersönliche Erzählform und unprätentiöse Ausdrucksweise [sollen in Heines Gedicht] den Eindruck erwecken, man brauche diese Alltagsgeschichte nicht allzu tragisch zu nehmen, am Ende fällt jedoch die Maske: Das Herz bricht entzwei. Was im Gedicht an rhetorischer Ironie nur angelegt ist, arbeitet Schumann deutlich heraus: Munter und ungerührt musiziert er drauflos, als ob er zu einem - im Nachspiel etwas aus den Fugen geratenden - Tänzchen aufspiele oder ein heiteres Couplet begleite. Hört man das Lied, ohne auf die Worte zu achten, oder nur mit der ersten Textzeile im Kopf, so muß man meinen, es handele sich um eine optimistische Darstellung draufgängerischer Liebe. Allein in der vorletzten Gedichtzeile wird für einen Augenblick deutlich, daß die Musik genau das Gegenteil von dem meint, was sie sagt. [...]


    Doch zumal am Ende wahrt Schumann weit mehr Distanz als Heine. Dieser appelliert ja massiv an Mitgefühl und Moral: Der Anfang klingt zwar heiter, doch das Ende ist schrecklich. Diesen 'Überfall' auf das Publikum macht Schumann nicht nur nicht mit, sondern sogar rückgängig. Er gestattet der Singstimme nur ein einziges, winziges Schwanken, nämlich auf die eher neutral klingenden Worte "wem sie just passieret": Wenn Heine zu seiner bitteren Schlußpointe "dem bricht das Herz entzwei" ansetzt, ist Schumann schon wieder auf dem doppelten Boden des Optimismus; die Welt tanzt über den einzelnen hinweg, der an ihrer Ungerührtheit zu zerbrechen meint, und bleibt doch des Tanzens wert. Steckt Heine ganz in seinem Text, fordert er zur Identifikation auf, so steht Schumann über dem Lied: Erst wenn dieses verklungen ist, gibt er den Hörern Gelegenheit zu realisieren, was da 'passiert' ist - Heine zum Quadrat.



    Mir spricht Geck aus dem Herzen; ich habe nie nachvollziehen können, wie man Schumann (und Schubert) nachsagen konnte, sie hätten die Ironie Heines nicht verstanden - das war ja nicht nur MRR (der sich allerdings nun wirklich das falsche Lied ausgesucht hat), sondern dieses Vorurteil zieht sich durch die ganze moderne Rezeptionsgeschichte. In einem Detail würde ich Geck aber trotzdem widersprechen: das "winzige Schwanken" Schumanns erstreckt sich - zumindest was das vorgeschriebene Ritardando betrifft - nicht nur auf die vorletzte, sondern auch auf die letzte Zeile des Gedichts.


    Geck bringt anschließend noch einen interessanten Hinweis auf den Frühlingstraum aus der Winterreise: Während die Verse des Gedichts gleichmäßig fließen würden, erhebe sich Schubert im Sinne Tiecks mit romantischer Ironie über den Stoff: Die mozartisch-idyllisch ausgepinselte Frühlingsidylle (à la Komm, lieber Mai) werde durch den nachfolgenden, extrem zerklüfteten Teil ("Und als die Hähne krähten") entlarvt, die Kluft zwischen den Frühlings- und den Eisblumen erscheine so als unüberbrückbar.


    Ein etwas anders gelagertes Beispiel ist mir noch eingefallen: In Gretchen am Spinnrade setzt sich Schubert bekanntlich über Goethes Text hinweg, indem er das Lied nicht in der Ekstase von Liebe/Tod enden lässt ("an seinen Küssen vergehen sollt"), sondern Gretchen mit den Versen "Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer" wieder in die Stimmung und Lage des Gedichtanfangs zurückversetzt. Während sich das Ende bei Goethe unendlich vom Beginn des Gedichts entfernt hat, bringt Schubert am Ende einen Moment der Ernüchterung, des sinnlosen Kreislaufs ein (der ja in der Metapher des Spinnrads vorgegeben ist - ein Aspekt, der von Schubert schon in der Klavierbegleitung sehr stark gemacht wird).



    Viele Grüße


    Bernd

  • Um mal aus meiner speziellen Perspektive konkret zu werden: Einige hier wissen ja, dass ein paar Gedichte von mir zurzeit vertont werden. Und damit sind für mich durchaus auch die Befürchtungen verbunden, die ich weiter oben schon angesprochen hatte.


    1. Möglichkeit: Das Gedicht ist schlecht, die Vertonung ist aber so gut, dass das nicht mehr auffällt. Sicher eine wünschenswerte, wenn auch für mich nicht sehr schmeichelhafte Möglichkeit.


    2. Möglichkeit: Das Gedicht ist gut, die Vertonung schlecht. Auch nicht gerade optimal für mich, denn womöglich würde mein Text dadurch trivialisiert, falsch interpretiert oder was weiß ich.


    3. Möglichkeit: Text gut, Vertonung gut. Wort und Musik verschmelzen dann zu etwas Anderem, Neuem. Sehr schön, aber: Was wird dann aus meinem Text? Wird dann aus einem Gedicht, das für sich steht und stehen sollte (ich schreibe nach meinem Verständnis keine Liedtexte), wird dann aus dem Gedicht etwas Halbes, das erst durch die Musik vollständig wird?


    So in etwa meine Befürchtungen. Aber vielleicht müsste man das dann konkret im Einzelfall ansehen und überlegen. Was im Moment noch nicht spruchreif ist.


    Mit Gruß von Carola


    PS. Eine Möglichkeit habe ich noch vergessen: Gedicht schlecht, Vertonung auch schlecht - dann wird der Lauf der Zeit das Problem von selbst erledigen...

  • Liebe Carola, deine Überlegungen finde ich besonders interessant und bin sehr gespannt, was am Ende deine Erkenntnis sein wird! Und wenn Du alfreds Vergleich mit den Trauben, die zu Sekt oder Wein(oder Rosinen :]) werden, für dich annimmst?
    Wenn du überhaupt schon dein Einverständnis zu einer Vertonung gibst, dann ist doch die Vorstellung dass in Synthese mit der Musik etwas ganz Neues und ohne den Text nicht Möglcihes daraus entsteht, eher faszinierend, oder?


    Klingsor, der hier shon wunderschöne Gedcihte veröffentlciht hat, hat etliche davon sogar in einem Konzert bereits gesungen gehört. Lieber Klingsor, wie war das für dich als Dichter? Eine doppelte interpratation durch Komponist und Sängerin.


    Zu der MRR-Geschichte möchte ich noch etwas sagen. Zum einen ist es nciht wahr, dass für ihn die Literaturgechichte bei Th Mann aufhört. Er hat bereits zahlreiche zeitgenössche Schriftsteller hochgelobt.


    Zum anderen gebe ich euch was "Ein Jüngling liebt ein Mädchen" angeht zwar ganz recht, führe aber ien anderes Beispiel aus der Dichterliebe an:"Ich hab im Traum geweinet"
    Dies ist eines der Beispiele, die meines Erachtens durch Vertonung eher verlieren könnten und überhaupt ist die Gefahr bei Heine besonders gross, da seine romantische Ironie ein gehöriges Mass an romantischer Musik-Distanz braucht, um nicht unterzugehen. Bei "Ich hab im Traum geweinet" hat Schumann das in meinen Augen nciht überzeugend geschafft. Das Lied an sich ist sehr gut, aber der Text wird evtl falsch umgesetzt. Da die Doppelbödgikeit nciht nur zwei-sondern mehrdeutig ist, bin ich mir aber selbst sehr unsicher und stelle das mal zur Diskussion.


    Ich hab im Traum geweinet,
    ich träumte du lägest im Grab
    ic hwachte auf und die Träne
    floss noch von der wange herab.


    Ich hab im Traum geweinet,
    ich träumt du verliessest mich
    ich wachte auf und ich weinte
    noch lange bitterlich.


    Ich habe im Traum geweinet,
    ich träumte du wärst mir noch gut
    ich wachte auf und noch immer
    strömt meiner Tränen Flut.


    Für mich eines der abgründigsten Gedichte, die Heine je geschrieben . Hier kommt seine romantische Ironie in aller Schärfe zur Geltung. Normalerweise erwartet man die umgekehrte Steigerung. Die Tränen strömen am schlimmsten beim Gedanken, die Gemlibte könne tot sein. aber nein, nur ein Tränchen ruft das hervor. So richtig furchtbar ist erst der Gedanke, sie könne das lyrische Ich noch lieben. Und da stellt sich doch die Frage: warum?
    Schumann vertont das ganz klar als romantische Steigerung zur letzten Strophe hin Der resignative Charakter kommt aber m.E. auch wunderbar zur Geltung.
    Ich frage mich , wie Schumann das letztlich verstanden hat und ob das wirklich auch Heines Intention war??????


    Ansonstten bleibe auch ich weiterhin bei der Veredelungstheorie. "Schlechte"(für meinen Geschmack!) Gedichte wie die von Richard Strauss zum grossen Teil gewählten, werden durch die Vertonung zu neuen Kunstwerken und schlimmstenfalls sogar erst erträglich. Und Medard hat mit seiner Aussage, dass Gedichte eine bestimmte Vers-Klangqualität und innerformale Struktur ganz unabhägig vom Inhalt haben mussen haben müssen, um vertonungsfähig zu werden, ganz sicher Recht. :yes:


    Das ist jetzt wohl ein bisschen vie lauf einmal an Stoff, aber ich hatte heute sehr wenig Zeit zu schreiben und so hat sich einiges angesammelt in diesem Thread.
    Fairy Queen

  • Carola


    Es gibt weitere Möglichkeiten


    4) Möglichkeit
    Gedicht und Lied sind sehr gut - aber das Endergebnis gefällt bloß DIR NICHT.


    Das ist meiner Meinung nach die größte Gefahr.
    Letztlich setzt sich dieser aber jeder Autor aus.
    Die Verfilmunmg der Werke Agatha Chiristies mit Margreth Rutherford waren geradezu eine Vergewaltigung der Bücher - zumindest in den Augen der Autorin - dennoch haben gerade sie viel zum Ruhm der Bücher beigetragen.


    Selbst wenn ein Gedicht NICHT vertont wurde, muß es sich doch immer wieder Fehlinterpretationen durch den Vortragenden gefallen lassen.
    In manchen Fällen jedoch ist es möglich, daß Facetten des Werkes zum Ausdruck kommen, die der Autor selbst nicht bewusst erkannt hat.



    An sich zeigt sich die Qualität eines Werkes in seiner Unzerstörbarkeit:
    Mozarts Sinfonien bleiben immer beeindruckend - egal ob Böhm,Klemperer, Harnoncourt oder Norrington sie interpretieren.


    HEUTIGE Vertonungen- dies sei Dir zum Troste gesagt - orientieren sich in der Regel an anderen Idealen als jene vor nahezu 200 Jahren. Stand damals die Musik eines Liedes im Vordergrund, so ordnet man die Musik heutzutage dem Text unter, und benutzt sie, um den Text zu unterstreichen. Dadurch kann der textliche Inhalt an Konturenschärfe gewinnen - leider meist auf Kosten der Klangschönheit.


    Eine letzte Möglichkeit gibt es noch:


    Zusammenarbeit mit dem Komponisten, wobei man gelungene Stellen lobt, anderes verwirft und um Umarbeitung bittet.


    Als Ulli auf meine Bitte hin ein Klavierkonzert schrieb, haben wir uns in groben Zügen darauf geeinigt, welche Konzerte mir als Vorbild vorschwebten, bzw welche Parameter mir wichtig waren. (Der zweite Satz wurde 3 mal komponiert) Herausgekommen ist ein auftrumpfendes Werk, mit Pauken, sehr glänzend orchestriert und mit Themen von hohem Wiedererkennungswert. Ich glaube wir sind BEIDE zufrieden damit.


    Diese Möglichkeit steht Dir natürlich auch offen - wobei es Komponisten geben wird, die da nicht mitspielen.


    Einer Verbreitung, bzw Veröffentlichung musst Du aber sowieso nicht zustimmen....


    mfg
    aus Wien


    Alfred


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    "Schlechte"(für meinen Geschmack!) Gedichte wie die von Richard Strauss zum grossen Teil gewählten, werden durch die Vertonung zu neuen Kunstwerken und schlimmstenfalls sogar erst erträglich.


    Ein kleiner Nebenaspekt:


    Durch die Vertonungen habe ich viele Autoren kennengelernt, mit denen ich mich dann intensiver beschäftigt habe. So bin ich tatsächlich zu Mörike über die Vertonungen von Wolf gekommen.


    Manchmal bleiben aber auch Autoren fast nur noch durch die dazugehörigen Lieder bekannter Komponisten in Erinnerung, sie sind - meiner Meinung nach zu Unrecht - so gut wie vergessen.


    Das trifft auch auf Richard Dehmel zu, ein sehr bekannter Dichter des Fin de siècle, der heute eigentlich nur noch als Autor von einigen Strauss-Liedern bekannt ist.


    Für mich ist die Beschäftigung mit dem Thema "Lied" also auch immer eine Erweiterung meiner Kenntnisse im Bereich der Lyrik.



  • Liebe Fairy Queen,


    eines meiner Lieblingslieder (nicht nur) aus der Dichterliebe...


    mit der "mehrbödigen Doppelbödigkeit" hast Du m.E. völlig recht - bereits das Gedicht selbst hat mehrere gegenläufige Ebenen. Zum einen wird der Anlass für das Weinen (scheinbar) immer harmloser, zum anderen gibt es im Bezug auf die Art des Weinens durchaus eine Steigerung: zuerst fließt nur eine Träne, dann wird bitterlich geweint, schließlich strömen ganze Tränenfluten. Wenn man das "zusammendenkt", kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass es sich gar nicht um einen Widerspruch handelt, sondern um eine fatalistische, schwarze Pointe: Das Weinen als Reaktion auf Tod und Verlassenwerden ist schlimm, aber bleibt trotzdem im Rahmen des Gewohnten - wenn aber auch das am meisten Ersehnte nichts hervorruft als Tränen, dann gibt es selbst in der Fiktion keine Erlösung mehr (mir ist klar, dass es noch andere Optionen der Deutung in Bezug auf die Tränenfluten am Ende gibt, aber die scheinen mir viel konventioneller zu sein).


    Das Wort "Erlösung" benutze ich absichtlich, weil das Gedicht auch eine metaphysische, konkret christologische Ebene hat (am deutlichsten durch das "bitterliche Weinen" der zweiten Strophe markiert). Diese Anspielungen ziehen sich ja quer durch die Gedichte Heines, in Schumanns Dichterliebe ist das vierte Lied "Wenn ich in deine Augen seh" ein Parallelstück zu "Ich hab im Traum geweinet": auch hier die paradoxe Pointe, dass das lyrische Ich "bitterlich" weinen muss, als ihm die Angebetete ihre Liebe gesteht.


    In dem Lied manifestiert sich also "romantische Ironie" von der schwärzesten, quasi nihilistischen Sorte. Was macht Schumann?


    - Er lässt die Stimme über weite Strecken unbegleitet "psalmodieren" und greift damit den metaphysischen, religiösen Aspekt auf.


    - Er verdoppelt die im Gedicht angelegte Steigerung zu dritten Strophe hin durch verstärkte Dynamik und melodische Emphase - aber es ist eine Steigerung, die nicht abklingt, sondern (nach einer ganz kurzen, täuschenden Dur-Wendung) auf ihrem Höhepunkt einfach abgebrochen wird und ins Nichts zurücksinkt.


    - Er komponiert in bisher nicht dagewesener Weise das Schweigen, das Nichts: Wenn man eine Interpretation hört, die die unglaublich langen Pausen wirklich auszählt (wie z.B. Blochwitz/Jansen auf EMI) und sie nicht zurückstutzt, dann wirkt das Lied wie eine Todesstille, in die ab und zu ein paar Takte Musik hineinklingen. Dringlicher kann man m.E. die alle Erlösung verweigernde, nihilistische Ebene des Gedichts nicht "vertonen".


    Klar könnte man das Gedicht auch anders interpretieren - man könnte es auch anders komponieren als Schumann. Ob Schumann die "Intention" Heines trifft (wenn es eine solche überhaupt gibt), halte ich für nebensächlich. Er legt jedenfalls mögliche Bedeutungsebenen frei - und was für welche!



    Viele Grüße


    Bernd

  • Lieber Zwielicht, von Herzen Dank für diese tolle Analyse! :jubel:
    Ich liebe dieses Lied ganz besonders und gerade wegen seiner Mehrdeutigkeit fasziniert es mich so sehr. Ich stelle mir z.B. vor, dass der Liebedne, der sich von seiner unglücklcihen Liebe kurieren will, schon den Gedanken an deren neues Aufflammen nciht ertragen kann, weil dann die ganze Sch.... wieder von vorne anfängt.Oder dass er vielleicht inzwischen echte Aggressionen gegen die unwürdige Geliebte entwickelt hat oder ihr einfach seine geistige Überlegenheit und neue Unabhägigkeit beweisen will, die in Wirklichkeit nur Schall und Rauch ist, we l er sie trotz alledem immer noch liebt oder oder oder. 1001 Deutungsmöglichkeit.
    Ich kann dir in einem Punkt aber(noch) nciht folgen und das ist die christologische Bedeutungsebene, die du darin siehst. Wenn ich lese "bitterlich geweinet" fällt mir zwar sofort Petrus ein, der bei seinem dreifachen Verleugnen von Jesus am Ende vor Reue "bitterilch weinete" aber ich frage mich, worin Du Heines Verbindung zur christlichen Bildsprache hier ansetzt ?(
    Was den allerschwärzesten romantischen Nihilsmus angeht, kann ich mir den bei Heine durchaus genauso vorstellen, bei Schumann allerdings weniger. Man nehme sich nur das Nachspiel der Dichterliebe vor......
    Ich bin der Ansciht, dass Schumann ein wunderbares Werk geschaffen hat, den teilweise richtig bösartigen Heineschen Text aber zu romantisch-konventionell interpretiert.


    Fairy Queen

  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    Ich kann dir in einem Punkt aber(noch) nciht folgen und das ist die christologische Bedeutungsebene, die du darin siehst. Wenn ich lese "bitterlich geweinet" fällt mir zwar sofort Petrus ein, der bei seinem dreifachen Verleugnen von Jesus am Ende vor Reue "bitterilch weinete" aber ich frage mich, worin Du Heines Verbindung zur christlichen Bildsprache hier ansetzt ?


    Liebe Fairy Queen,


    genau: "bitterliches" Weinen bezieht sich auf Petrus - das ist von jedem Zeitgenossen so verstanden worden (und diese Entschlüsselung bereitet ja auch heute keine Schwierigkeiten). Solche biblischen Zitate und Chiffren sind in der europäischen Literaturgeschichte extrem häufig und werden dabei oft sehr konventionell verwendet - nicht so bei Heine, der diese Konvention oft schon reflektiert-spöttisch einsetzt oder die christlichen Bezüge ins Gegenteil wendet.


    In den Gedichten, die Schumann für seinen Zyklus ausgewählt hat, lässt sich das an mehreren Stellen zeigen: im vierten Lied irritiert schon die Zeile "wenn ich mich lehn an deine Brust, kommt's über mich wie Himmelslust" - der alte Dualismus himmlische vs. irdische Liebe kommt zum Tragen, die eigentlich erwartete irdische Sinnenlust wird erstaunlicherweise transzendiert. Schließlich am Ende des Gedichts das "bitterliche" Weinen als Reaktion auf die Worte "Ich liebe dich" - offenbar geht es nicht nur um Liebeskummer. Der deutlichste Hinweis auf die Vertauschung der "irdischen Liebe" mit dem christlichen Kult erfolgt im Lied "Im Rhein": in einem Marienbild im Kölner Dom entdeckt der Liebende die Züge der Geliebten (nicht zufällig wird das Gedicht mit der Metapher der Spiegelung eingeleitet). Später kommt dann noch der Eva-Topos hinzu ("die Schlang, die dir am Herzen frisst" in "Ich grolle nicht"). Usw.


    In diesem Sinne lässt sich m.E. auch "Ich hab im Traum geweinet" ein christologischer Subtext entnehmen: das Liegen im Grab und das "Verlassen" im Zusammenhang mit "bitterlichem Weinen" evozieren christliche Bilder - man könnte das angesprochene "Du" auch mit Christus identifizieren. Der Vers "mir träumt, Du wärst mir noch gut" und die tränenreiche Reaktion darauf wäre dann ein Hinweis auf die Vergeblichkeit, vom christlichen Glauben Trost zu empfangen. Es geht eben nicht nur um Liebeskummer, sondern auch um Abschied von der Religion, um missglückte Ersetzung der Religion durch den Kult der romantischen Liebe, um"metaphysische Unbehaustheit" (oder irgendwas ähnlich Hochtrabendes, mir fällt gerade nichts besseres ein :D).


    Ihr dürft mich jetzt hauen und der "Überinterpretation" zeihen :D - mir scheint es aber ein ganzes Verweissystem in Heines Liebeslyrik zu geben, in dem so etwas angelegt ist.



    Zitat

    Was den allerschwärzesten romantischen Nihilsmus angeht, kann ich mir den bei Heine durchaus genauso vorstellen, bei Schumann allerdings weniger. Man nehme sich nur das Nachspiel der Dichterliebe vor......
    Ich bin der Ansciht, dass Schumann ein wunderbares Werk geschaffen hat, den teilweise richtig bösartigen Heineschen Text aber zu romantisch-konventionell interpretiert.


    Schumann betont sicher andere Ebenen als Heine (die Musik hat eben auch einerseits weniger, andererseits mehr Möglichkeiten als das Wort) - aber romantisch-konventionell finde ich ihn nicht, schon gar nicht in der Dichterliebe. Er reißt mindestens ebenso sehr Abgründe auf wie Heine. Auch das Nachspiel des letzten Liedes: Hier setzt Schumann auf die Musik als Reich des "Unsagbaren" (auch das ein romantischer Topos) - was in Worten nicht mehr gesagt werden kann, das löst die (Instrumental-!)Musik in totale und nicht dechiffrierbare Vieldeutigkeit um.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Dieser schöne Thread ruht seit langer Zeit.


    Hört man Kunstlieder ist man stets mit der engen Verknüpfung des Gedichtes mit der Vertonung beschäftigt.

    Helmut Hofmann hat in seinen tiefgründigen Analysen erhellende Einsichten geliefert, die ich nicht missen möchte


    Ich möchte auf eine wichtige Webseite hinweisen, wenn es um die Textgestalt geht.


    lieder.net


    Diese Webseite wird äusserst sorgfältig betreut und geführt. Veränderungen an der Textgestalt, die Komponisten vornehmen, gibt der Betreiber genauestens an. Existieren Übersetzungen in andere Sprachen, wird dies dokumentiert. Die editorischen Angaben von Gedichtquelle und Kompositionen lassen keine Wünsche offen.


    Ein Beispiel:


    Das Gedicht Du bist wie eine Blume von Heinrich Heine (Buch der Lieder, in Die Heimkehr, Nr. 47) kenne ich in der Vertonung von Robert Schumann. Es findet sich in Myrten Op. 25 und ist dort die Nummer 24. Es nahm mich wunder, ob der Komponist etwas im Gedicht verändert hat.



    Schumann hatte nichts verändert. Erstaunt war ich, wie viele Vertonungen es von diesem Gedicht gibt.


    https://www.lieder.net/lieder/get_text.html?TextId=7483

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber moderato meines Erachtens ist schon gesagt worden, das durch die Vertonung eines Gedichtes ein neues Kunstwerk entsteht, eben das Lied! Die Frage, was Gedichte gewinnen, ist damit eigentlich beantwortet. Sie ändern sich halt nicht, schlechte bleiben schlechte und gut eben gute :).


    Man kann natürlich die Frage stellen, ob schlechte Gedichte Beiträge zu großartigen Liedern geben können. In der Winterreise hat man das Beispiel, wo zumindest schwächere Lyrik Teil des berühmtesten Liederzyklus überhaupt ist, der für mich auch einer der besten ist .... Es ist ein wenig, wie in der Oper. Ich liebe die Zauberflöte, würde aber das Libretto als Text für sich kaum ernst nehmen können ....


    Was mir beim Lesen der vielen Threads unseres Kollegen Helmut Hofmann auffiel, ist die Tasache, dass durch das Zusammenkommen von Musik mit dem lyrischen Text, der Komponist sich hin und wieder gezwungen fühlt, den Text (als Liedtext) zu modifizieren. Meistens ist das eine Verschlechterung der Lyrik als solcher, im Zusammenhang mit dem Lied manchmal aber aus rhythmischen Gründen nötig. Rhythmusbrüche, die in der Sprache alleine ein Bild evozieren, tun das eben im Lied nicht notwendigerweise auch.

  • Franz Schubert(1797-1828) hat oft Gedichte von Freunden vertont. Durch ihn sind sie bekannt geworden und sind dem Vergessen entrissen. Er war immer auf der Höhe der Zeit und hat Gedichte zeitgenössische Dichter gewählt. Poetische Texte von Goethe, Schiller, Heine, Rellstab hat er wegen ihrer Qualität gewählt. Müllers Winterreise hat Schubert zum unerreichten Höhepunkt des Liedgesanges inspiriert.


    Aufschlussreich ist, was er zuweilen aus den Strophen nicht vertont hat. Das zeugt stets von seinem hohem Geschmack und dient der Steigerung der Aussage.


    Ein Beispiel:


    Winterabend von Karl Gottfried von Leitner (1800-1890) ist nicht ein Höhepunkt der Lyrik. Vertont hat es Schubert im Todesjahr 1828: D. 938. 1835 wurde es veröffentlicht.



    In den grün eingefärbten Teilen sind es musikalische Gründe. Im violett markierten Teil wird durch das Weglassen die Aussage des Liedes gesteigert, das Mondlicht erhält mehr Gewicht. Unpassendes wird vermieden. Die Wiederholung der blauen Zeilen dienen der Steigerung, die Dynamik wird dem Text gemäss zurückgenommen.


    Es ist so [still und]1 heimlich um mich,

    Die Sonn' ist [unter]2, der Tag entwich.

    Wie schnell nun heran der Abend graut! -

    Mir ist es recht, sonst ist mir's zu laut.

    Jetzt aber ist's ruhig, es hämmert kein Schmied,

    Kein Klempner, das Volk verlief, und ist müd;

    Und selbst, daß nicht raßle der Wagen Lauf,

    Zog Decken der Schnee durch die Gassen auf. :ll


    Wie tut mir so wohl der selige Frieden!

    Da sitz' ich im Dunkel, ganz abgeschieden,

    So ganz für mich; :ll - nur der Mondenschein

    Kommt leise :ll zu mir in's Gemach

    [herein.

    Brauche mich aber nicht zu geniren,

    Nicht zu spielen, zu conversieren,

    Oder mich sonst attent zu zeigen]3.


    Er kennt mich schon, und läßt mich schweigen,

    Nimmt nur seine Arbeit, die Spindel, das Gold,

    Und spinnet stille, webt und lächelt hold, :ll

    Und hängt dann sein schimmerndes Schleiertuch

    Ringsum an Gerät und Wänden aus.

    Ist gar ein stiller, [lieber]4 Besuch,

    Macht mir gar keine Unruh' im Haus'.

    Will er bleiben, so hat er Ort,

    Freut's ihn nimmer, so geht er fort. :ll


    Ich sitze dann stumm im Fenster gern',

    Und schaue hinauf in Gewölk' und Stern.

    Denke zurück, ach! weit, gar weit,

    In eine schöne, [verschwund'ne]5 Zeit.

    Denk' an Sie, an das Glück der Minne, :ll

    Seufze still', und sinne und sinne. - :ll


    1 Schubert: still so

    2 Schubert: unten

    3 Schubert: gestrichen

    4 Schubert: ein lieber

    5 Schubert: verschwundene

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Dieser schöne Thread ruht seit langer Zeit.

    Und dass er das tut, hat seinen guten Grund:

    Die im Thread-Titel aufgeworfene Frage fand in dem nachfolgenden, in der argumentativ-gedanklichen Substanz übrigens bemerkenswerten, Diskurs rasch eine den Sachverhalt genau treffende Antwort. Hier nämlich:

    Hm, eigentlich glaube ich, daß diese Frage keine richtige Antwort wird finden können – schlicht weil die Frage falsch ist. »Gedichte« gewinnen nichts durch ihre Vertonung – und sie verlieren genauso wenig. Ich denke, daß Ulli eigentlich die Sache messerscharf getroffen hat: Die Vertonung eines Gedichts ist nicht länger das Gedicht, sondern eine Interpretation, eine Lesart als »neues Kunstwerk« – ein Kunstwerk, das sich vollständig von der Vorlage emanzipiert hat und unabhängig ihr bestehen muß.

    Noch nicht in der Berliner Schule, wohl aber von Beethoven und erst recht von Schubert an beinhaltet die Vertonung eines Gedichts die Interpretation seiner poetischen Aussage, womit also ein eigenständiges musikalisches Kunstwerk entsteht, das neben das poetische tritt, dieses damit in keiner Weise in seiner Existenz tangiert, vielmehr, gleichsam neben ihm stehend, von dessen Text lebt. In dieses Kunstwerk fließt die Art und Weise ein, wie der jeweilige Komponist diesen Text rezipiert, gelesen und verstanden hat, wobei also immer ein eminent subjektiver Faktor in die Liedmusik Eingang findet. Der kann im Grad seiner Subjektivität so hoch sein, dass sich in der Liedmusik die existenzielle Betroffenheit des Komponisten durch den Gehalt und die Aussage des lyrischen Textes ausdrückt. Das ist nicht bei allen Komponisten in gleicher Weise der Fall, wächst aber im Verlauf der Geschichte des Kunstliedes zunehmend an und gewinnt an Bedeutung.


    Es käme nun also, wenn man diesen Thread auf sinnvolle, einen Ertrag bringende Weise fortsetzen sollte, darauf an, an ausgewählten Beispielen zu zeigen, wie sich die Interpretation eines lyrischen Textes in der jeweiligen Liedmusik darstellt.

    Mit einem Beitrag, der aus einem Link zur Musik, einem Auflisten des zugehörigen Textes und dem Aufzeigen der möglicherweise vom Komponisten vorgenommenen Eingriffe (Kürzungen, Eigentext, Wiederholungen usw.) in diesen besteht, kann es nicht getan sein.

    Es sei denn, man würde über die Gründe für einen solchen Eingriff reflektieren. Das aber kann nur im Zusammenhang und auf der Grundlage einer mehr oder wenig stark ins strukturelle Detail gehenden analytischen Betrachtung der Liedmusik geschehen.


    Die damit verbundene Mühsal wollten die - bis auf zwei übrigens allesamt inzwischen inaktiven - Teilnehmer an diesem Thread offensichtlich nicht auf sich nehmen. Und so ist er eben eingeschlafen und ruht seit langer Zeit.

  • Lieber Helmut Hofmann


    Es ruhen im Forum etliche Threads, die es wert sind beachtet zu werden. So auch dieser. Ich beschäftige mich täglich mit der Restaurierung des Erscheinungsbildes des Forums. In diesem Thread waren keine Verbesserungen nötig. Meist setze ich einen neuen Beitrag, damit der Reichtum des Forums, der im Verborgenen ruht, sichtbar wird. Im besten Falle wird der Faden aufgegriffen und neue Beiträge werden geschrieben.


    Viele der Forumsmitglieder, die sich in diesem Thread beteiligt hatten, sind als inaktiv vermerkt.

    Eine Diskussion erschöpft sich und gerät aus dem Blickfeld.


    Im Forum beteiligt sich jeder nach seinen Möglichkeiten. Das zeichnet seine Vielfalt aus. Deine Analysen zeugen von intensiver Beschäftigung mit der Materie Liedgesang und Sprache. Sie zähle ich zu den Perlen des Tamino-Forums. Nicht alle besitzen dein Wissen, verfügen über die Zeit, die nötig ist für eine Vertiefung. Auch sind nicht alle im Besitz der Liedpartituren, um eine begründete Analyse vornehmen zu können. Es ist mir bekannt, dass du dir die Zeit erübrigen musst, dich im Forum einzubringen.


    Ich finde es wert, genau hinzuhören und sich mit der Gattung Kunstlied auseinanderzusetzen. Im Thread "Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonung" wurde manches Bedenkenswertes geäussert, das sich erschliesst, wenn man die Strecke der Beiträge liest. Die Sprache in der Form der Poesie kommt in den Fokus. Du hast dies in deinem Beitrag treffend beschrieben.


    Wenn man die Schönheit des Genres Kunstlied lieben und schätzen lernt, ist viel erreicht.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928