Natürlich ändert sich ein Gedicht als Gedicht nicht durch seine Vertonung. Was meinem Verständnis nach BBF und meine Wenigkeit weiter oben zu sagen versuchten, war eher, ob und inwieweit man zum einen Schwächen oder wenigstens als altmodisch wahrgenommene Züge eines Gedichtes häufig aufgrund einer auf irgendeine Weise berückenden oder mitreißenden Vertonung, bereitwillig ausblendet, wenn man sich der Vertonung aussetzt.
Zum andern, da bleibt es bisher aber bei einer Andeutung BBFs im anderen thread resp. "Mondnacht", wie eine Vertonung die Wirkung eines Textes (in wiederum noch zu erläuternder Weise) "schwächen" können kann.
Dennoch bleibt der Text ein Aspekt der Vertonung. Der Text von "Der Hirt auf dem Felsen" ist ziemlich sicher auch aus seinerzeitiger Perspektive eher mies zu nennen (auf die Gefahr hin, Klawirr zu einer das Gegenteil zeigenden Analyse zu provozieren), das Lied ist nichts weniger als herausragend und es wäre nicht ebenso grandios, wenn die Sängerin auf "ahahaha" vokalisieren oder durch eine zweite Klarinette ersetzt würde
Die Stimmung, die Emotionen, das Naturszenario, alles, was das Gedicht bestenfalls mittelmäßig, aber eher in Form von Klischees beinhaltet, kommt
in der Musik zum Ausdruck.
Als jemand, der eher selten Gedichte liest (u.a. weil er der Ansicht ist, dass sie, jedenfalls die meisten, vorgetragen werden müßten), stehe ich bis auf weiteres zu meiner "Intensivierungshypothese". Eine gelungene Vertonung schwächt den Text nicht ab, sondern intensiviert ihn in vieler Hinsicht. Im "Lindenbaum" kommt z.B. in der Klavierbegleitung nicht nur das Rauschen (was sich dann zum Blasen des eisigen Windes wandelt) vor, sondern auch zur romantischen Symbolsprache gehörende Hörnerklänge usw. vor. Die ganze Winterreise ist voll von solchen Sachen, dazu noch die gestischen Motive, die mehr oder weniger zügiges Gehen, Tropfen des Schmelzwassers usw. verdeutlichen. Die Natur, die die Stimmung des Wanderers spiegelt (oder zu ihr kontrastiert) wird in der Musik auf mehreren Ebenen dargestellt.
Mich würden aber natürlich Beispiele dafür interessieren, wo jemand den Eindruck hat, ein Gedicht verlöre (nicht als Gedicht schlechthin, sondern als Teil des Liedes) durch die Vertonung. Reich-Ranicki hat das IIRC mal über "Ein Jüngling liebt' ein Mädchen" von Heine/Schumann behauptet. Aber MRR hat die doppelte Ironie der Vertonung nicht verstanden. (Wenn ich nicht irre, diskutiert Martin Geck dieses Lied in dem von Bernd/Zwielicht irgendwo erwähnten Band zur Musik des 19. Jhds.).
viele Grüße
JR