"Schöne Stellen"

  • Wie hört man denn als Anfänger? Sowohl als absoluter Einsteiger als auch vielleicht gegenüber Musik eines Komponisten oder einer Stilrichtung, die man noch nicht kennt.
    Ich jedenfalls habe als Einsteiger nach leicht fassbaren Melodien und irgendwie anderweitig packenden Stellen gehört. Daher sind Stücke wie Tschaikowskys Capriccio italienne so beliebte Einsteigerstücke, weil da eine eingängige Melodie die nächste jagt. Längere Werke, wie zB Tschaikowskys 5. Sinfonie oder erst recht die Eroica hatten für mich damals "Durststrecken" zwischen den Lieblingstellen, bei denen ich mich sehr zusammenreißen musste, nicht abzuschweifen, mich mitunter langweilte. Mit der Zeit merkt man dann, dass zwischen den schönen Stellen sich auch noch tolle Musik abspielt. ;)
    Idealerweise nimmt man zB einen gesamten Sinfoniesatz als ein schlüssiges Ganzes wahr. Es gibt deshalb erst einmal eine Spannung zwischen dem Erfassen des Ganzen und der Konzentration auf schöne Stellen. Ich meine aber, dass man natürlich auch als erfahrener Hörer noch manche Stellen besonders empfindet.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich weiß nicht. Klavier- und Orgelunterricht (Beethoven-Sonaten, Bachsche Orgelwerke) und Schulchor (Bach-Motetten und -Kantaten) haben sicher vorgeprägt, aber meine anfänglichen Favoriten waren:


    - Bach: Brandenburgische (v. a. 2+3+5), Ouvertüren, Mt-Passion, h-moll-Messe
    - alles von Mozart mit Harnoncourt
    - Beethoven: Sinfonien
    - Tschaikowsky 6
    - Dvorak 9
    - Mahler 2


    Das alles fand ich sehr spannend, gerade aus formalen Gründen - etwa der Aufbau der Kadenz im Kopfsatz des 5. Brandenburgischen ... oder Tschaikowsky 6. ...


    An "Durststrecken" kann ich mich in jener Zeit eher bei Wagner erinnern ... 2. Aufzug Walküre, oh wie öde ...


    :hello:

  • Zitat

    Wolfram: Alles von Mozart mit Harnoncourt

    Ich darf das aus meiner Sicht, lieber Wolfram, variieren in:


    Alles von Mozart (nicht nur mit Harnoncourt, z. B. auch mit Gulda, Böhm, Gardiner, Pires, Uchida, Brendel, Schiff, Perahia, Marriner, Kirschnereit, Endres, Zacharias, und und und).


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Ich weiß nicht. Klavier- und Orgelunterricht (Beethoven-Sonaten, Bachsche Orgelwerke) und Schulchor (Bach-Motetten und -Kantaten) haben sicher vorgeprägt, aber meine anfänglichen Favoriten waren:


    - alles von Mozart mit Harnoncourt


    Das hast Du alles als "Einsteiger" gehört? Das wäre dann in meinem Jargon wohl keine wirkliche Einsteigerphase mehr. In der begegnet man einer noch halbwegs überschaubaren Menge von Werken.


    Zitat


    Das alles fand ich sehr spannend, gerade aus formalen Gründen - etwa der Aufbau der Kadenz im Kopfsatz des 5. Brandenburgischen ... oder Tschaikowsky 6. ...


    Es kann natürlich sein, dass Du schon immer "aus formalen Gründen" etwas spannend fandest. Ich kenne niemanden sonst, der als Einsteiger (oder überhaupt) hauptsächlich so hört.


    Es ist dann vielleicht so, dass Du ein Hören, das um "schöne Stellen" zentriert ist, nicht kennst. Ich glaube aber, dass die meisten Hörer irgendwann einige Stücke so erlebt haben oder noch erleben und das ganz gut nachvollziehen können, selbst wenn sie inzwischen nicht mehr so hören.

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    (Bob Dylan)

  • Ich höre ausschließlich schöne Musik.


    Etwas präziser: ich höre keine unschöne Musik.


    Nicht jede Stelle in gehörten Stücken muß oder kann "schön" sein, nicht jede Einstellung in Filmen, die mir gefallen, ist gleichermaßen wichtig oder "schön", viele Funktionseinstellungen, die Hintergründe darstellen, und somit den Showdown vorbereiten, sind für sich genommen nicht schön und müssen es auch nicht sein.


    In der Musik kommen die schönen Stellen manchmal völlig überraschend (eine dieser seltenen Stellen ist z.B. bei Villa Lobos, Bachianas Brasileiras, im 2. Satz), meist werden sie aber gut vorbereitet und sind in den Gesamtkontext eingebunden, wie bei soooo vielen Stücken von Bach, Händel und Albinoni, die häufig aus einer scheinbar endlosen Hintereinanderreihung schöner und schönster Passagen bestehen, die von Zwischenpassagen vorbereitet werden.


    Auch in vielen Stücken außerhalb des Barock gibt es schöne Stellen, sie sind allerdings viel seltener und durch den Kontext weniger vorhersagbar - so z.B. die Eingangspassage zum Großen Tor von Kiew, die gewaltig und mitreißend ist, und die vorher durch nichts verraten oder angekündigt wird.


    Nehmen wir z.B. das Cello-Konzert von Elgar, so kann ich im ersten Satz eine Reihe schöner Stellen entdecken, in den weiteren Sätzen allerdings nicht mehr, so daß ich mich beim Hören auf den ersten Satz beschränke, etc. Allerdings höre ich z.B. Atom Heart Mother von Pink Floyd immer ganz, also auch die schlimmsten Passagen kompletter Kakophonie, weil es danach einfach überirdisch schön weitergeht, ich muß also "ich höre keine unschöne Musik" ein wenig relativieren. Aber daß ich mir minutenlang die Ohren volldröhnen lasse, bevor es deann umso schöner wird, ist eine große Ausnahme. Ansonsten werden meist Rosinen gepickt.


    Es überrascht mich allenfalls, daß offenbar nicht alle Klassikhörer an schönen Stellen orientiert sind. Was ist der Nutzen daran, die unschönen Stellen zu erdulden, wenn sie nicht als Hinführung zu den schönen Stellen verstanden werden? Was ist der Sinn daran, einen Waldweg entlangzutrampeln, wenn es nicht mindestens an einer Stelle eine gute Aussicht gibt?

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  • Wenn alles "schöne Stelle" ist, hat der Begriff keinen Sinn mehr.
    Die Stellen "dazwischen" sind natürlich nicht "unschön", nur nicht als so etwas Besonderes herausgestellt. Der Anfänger empfindet sie vielleicht eher als tendenziell nichtssagend. Extremes Bsp., was Wolfram angedeutet hat: Anfang des 2. Aktes Walküre: "endloser", trockener Dialog zwischen Wotan und Fricka (vorher mit Brünnhilde), dagegen am Ende des Aktes "Todesverkündigung" absolut magisch und ergreifend. Jemand, der voll im Ring-Drama drin ist, empfindet den Streit vielleicht nun auch als interessant (weil relevant für die Geschichte usw.), aber er wird vermutlich immer noch die "Todesverkündigung" als erheblich beeindruckender und ergreifender hören.


    Oder: es hat doch wohl jeder in ausgedehnteren Stücken wie Messiah oder Matthäuspassion Lieblingsstücke, aber auch welche, die man zwar o.k. findet, aber nicht groß vermissen würde, wenn sie fehlten. Ich würde mich ziemlich wundern, wenn jemand behaupten würde, ihm gefielen alle Nummern in Messiah gleich gut.
    (So ähnlich ist es mit den "schönen Stellen".)

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  • Wenn alles "schöne Stelle" ist, hat der Begriff keinen Sinn mehr.


    Das wollte ich durchaus nicht sagen. Es gibt in der Klassik haufenweise Musik ohne irgendeine schöne Stelle. Die höre ich dann meist nur einmal.


    Und wenn ich meine, einen Komponisten als notorischen Unschön-Schreiber erkannt zu haben, kommen alle seine Werke auf meine lange schwarze Liste.

  • Das wollte ich durchaus nicht sagen. Es gibt in der Klassik haufenweise Musik ohne irgendeine schöne Stelle. Die höre ich dann meist nur einmal.


    Und wenn ich meine, einen Komponisten als notorischen Unschön-Schreiber erkannt zu haben, kommen alle seine Werke auf meine lange schwarze Liste.


    Das ist ja nun eine besonders originelle Sicht der Dinge.


    Vielleicht könnten wir damit auch unseren geistvollen Klassik-Fremdgeh-Thread oder so fortsetzen.


    :hahahaha: :cursing: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • @ m-mueller: Eulenspiegelst Du jetzt rum, oder weißt Du wirklich nicht, was gemeint ist? Beispiele sind doch schon etliche genannt worden.


    WolfgangZ: ich verstehe den Zusammenhang auch nicht...

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  • Der Zusammenhang zum Fremdgeh-Thread erschließt sich mir jetzt nicht so unmittelbar - oder wird es als "Fremdgehen" gedeutet, wenn man bestimmte Klassikbereiche komplett links liegen läßt?

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  • Nicht jede Stelle in gehörten Stücken muß oder kann "schön" sein... (...Auslassungen von zweiterbass)...In der Musik kommen die schönen Stellen manchmal völlig überraschend ...meist werden sie aber gut vorbereitet und sind in den Gesamtkontext eingebunden...Auch in vielen Stücken außerhalb des Barock gibt es schöne Stellen, sie sind allerdings viel seltener (???Einfügung von zweiterbass) und durch den Kontext weniger vorhersagbar - so z.B. die Eingangspassage zum Großen Tor von Kiew, die gewaltig und mitreißend ist, und die vorher durch nichts verraten oder angekündigt wird.


    Hallo m-müller,


    wenn Du "schöne Stellen" in Verbindung bringen kannst mit "Musik, die emotional stark bewegt", dann wäre Dir dieser Thead zu empfehlen, falls Du ihn nicht schon entdeckt hast.


    Nachdem ich die Eingangsfrage für mich mit ja beantworte, habe ich in Deinem Beitrag Passagen gefunden, die für mich und mein Musikverständnis sehr passend sind.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Für meinen Begriff gibt es kaum eine Musik - wohlgemerkt im klassischen Bereich - die nur "schöne" Musik enthält. Und jeder hat einen anderen Geschmack. Was der eine schön empfindet, stört den Anderen. Und ganz schlimm hat es wohl Wilhelm Busch empfunden.


    Ich finde es durchaus als schön, wenn laute und schräge Töne sich in Wohlgefallen auflösen. Der Zusammenbruch in Mahlers 2. wird ebenso wohlklingend aufgelöst wie das Sterben in Tod und Verklärung. Und in der Sinfonia Domestica zetert und meckert das Weib, die Kinder kreischen - aber dann folgt eine herrliche, schöne Liebesszene. Das kann seitenlang fortgesetzt werden. Schönes und weniger Schönes gehören zusammen, wie im Leben.


    Und wer wird schon das Ende des 1. Satzes der Leningrader Sinfonie als schön empfinden? Aber da muß man durch, denn Schostakowitsch schlägt ja dann versöhnende Töne an. Aber auch die empfindet mancher nicht als schön im eigentlichen Sinne.


    Musik ist eine heilige Kunst!!


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Zit. La Roche: "Für meinen Begriff gibt es kaum eine Musik - wohlgemerkt im klassischen Bereich - die nur "schöne" Musik enthält."


    Ich weiß nicht, ob man das so stehen lassen kann. Natürlich kommt es - und das ist ja die Frage, worauf hier noch keiner eine Antwort gegeben hat - darauf an, was man unter "schöner Musik" versteht. Versteht man darunter eine, die keine dissonanten Brüche aufweist, keinen Zerfall der melodischen Linie oder schroffe harmonische Modulationen, so gibt es sehr wohl Musik, die durchgängig "schön" im Sinne von wohlklingend, eingängig und nicht verstörend ist.


    Ich verweise etwa auf das bei Generationen von Geigern überaus beliebte Violinkonzert op. 64 von Felix Mendelssohn-Bartholdy.

  • Ich weiß nicht, ob man das so stehen lassen kann. Natürlich kommt es - und das ist ja die Frage, worauf hier noch keiner eine Antwort gegeben hat - darauf an, was man unter "schöner Musik" versteht. Versteht man darunter eine, die keine dissonanten Brüche aufweist, keinen Zerfall der melodischen Linie oder schroffe harmonische Modulationen, so gibt es sehr wohl Musik, die durchgängig "schön" im Sinne von wohlklingend, eingängig und nicht verstörend ist.



    Ja lieber Helmut, ich muß mich korrigieren. Es gibt durchaus Stücke, die von Anfang bis Ende einfach "schön" sind. Ich hatte auch mehr den Gedanken, daß auf dissonante Stellen melodische Übergänge folgen und man das dann als besonders schön empfindet. Jeder nach seinem Gehör. Jeder nach seinen Möglichkeiten.


    Und der Mendelssohn, den Du zitiert hattest, der ist eben rundum melodisch, genau wie die Chopin-Klavierkonzerte, das Brahms und das Bruch-Violinkonzert und..........


    Also ist "schön" gleichbedeutend mit "melodisch"?


    Viele Grüße von La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Wir sollten hier unser Verständnis von "Naivität" und "naiv" und das von Adorno auseinanderhalten. Johannes Roehl hat dessen Sendung "Schöne Stellen" hier in die Diskussion eingeführt. Also müssen wir uns mit dessen Ausführungen zum Thema dieses Threads nun einmal auseinandersetzen. Im Kern versteht Adorno unter einer "naiven" Rezeption von Musik einen "unreflektierten", in gleichsam ungebildet kindlicher Weise allein auf den sinnlichen Reiz, nicht aber auf musikalische Strukturen ausgerichteten "Konsum" von klassischer Musik.





    Lieber Helmut,


    was ist daran auszusetzen? Nach Adorno ist ja auch Wagner ein Dilettant und des Letzteren Merkmal der "enthusiastische Respekt".
    Doch sollte nicht die musikalische Struktur als Mittel zum Zweck aufgefasst werden, gerade diesen sinnlichen Reiz zu produzieren? Ist sie vielleicht nur Selbstzweck, ein intellektuelles Spiel der Begabten?
    Wenn wir hier von schönen Stellen sprechen, dann bin ich mir im Klaren darüber, dass dem Anspruch des analytischen Hörers häufig die Erfüllung der strukturellen Erfordernisse genügt.
    Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es nicht zu einer abwertenden, oftmals verächtlichen Haltung gegenüber der sinnlichen, suggestiven Beeinflussung des Hörers durch pure Melodik, Rhythmik oder Repetition führen würde,
    auch wenn diese Elemente keineswegs das Hauptmerkmal eines Werkes sind.


    Wieso eigentlich dieses pro und contra? Könnte man nicht beide Sichtweisen als gleichberechtigt ansehen?


    Die Ansichten Adornos in allen Ehren, aber sind sie nicht mit denen Beckmessers verwandt? :?:

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  • Die Ansichten Adornos in allen Ehren, aber sind sie nicht mit denen Beckmessers verwandt



    Gut gebrüllt, Löwe!!


    La Roche

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    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Also ist "schön" gleichbedeutend mit "melodisch"?


    Wohl eher mit emotional ansprechend - und das ist/kann von Hörer zu Hörer (und auch beim Hörer selber, Tagesform usw.) eben sehr verschieden sein, von der verstandesmäßigen Durchdringung ganz zu schweigen.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Frage von hami1799: "Die Ansichten Adornos in allen Ehren, aber sind sie nicht mit denen Beckmessers verwandt?"


    Das wohl nicht, lieber hami, denn wenn Adorno eines abgeht, dann ist es beckmesserische Kleinkariertheit. Dieser Mann verfügte über eine wirklich umfassende und hochreflektierte musikalische Bildung. Wenn man sich mit seinen einschlägigen Schriften befasst, springt einem das ganz unmittelbar ins Auge.


    Aber in einem hast Du recht, - in Deiner Bemerkung nämlich: "Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es nicht zu einer abwertenden, oftmals verächtlichen Haltung gegenüber der sinnlichen, suggestiven Beeinflussung des Hörers durch pure Melodik, Rhythmik oder Repetition führen würde,..."


    Das ist es nämlich, was man Adorno wirklich vorhalten kann. Seiner Musikästhetik wohnt etwas Elitäres inne. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe ihn als Student noch erlebt und war zugleich angezogen wie abgestoßen von ihm. Angezogenvon seiner Fähigkeit, musikalische und philosophische Fragen und Probleme reflexiv tief auszuleuchten und sprachlich brillant auf den Begriff zu bringen. Abgestoßen von dem elitären Geist, der von ihm und dem Kreis um ihn ausging.

  • Langsam zweifele ich aber doch ein wenig an der Lesefähigkeit einzelner Teilnehmer.
    Wenn Adorno das Hervorheben "schöner Stellen" rundheraus verworfen hätte, hätte er wohl kaum diese Radiosendung gemacht, in der er genau das tut. Gleichzeitig muss man nichts von Adornos Ästhetik teilen, um festzustellen, dass doch offensichtlich jemand, der auf "schöne Stellen" fixiert ist (wie viele Anfänger naturgemäß) und dem Rest der Musik nicht viel abgewinnen kann, sehr viel verpasst, oder?


    Ich weiß wirklich nicht, wie man vernünftig diskutieren soll, wenn anscheinend jegliche Äußerung so gedeutet wird, dass man sich leicht angegriffen und beleidigt fühlen kann. Oder a la Eulenspiegel durch absichtliches Mißverstehen ad absurdum geführt wird.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Zit.: "Langsam zweifele ich aber doch ein wenig an der Lesefähigkeit einzelner Teilnehmer."


    Johannes Roehl möge bitte bedenken, dass er einen Radiovortrag hier in die Diskussion eingebracht hat, den kaum einer kennt. Es wäre vielleicht sinnvoller gewesen, das in der Form zu tun, dass man die Intentionen, die diesem Vortrag zugrundliegen, erst einmal darlegt, damit anderen die Gelegenheit gegeben ist, sich dazu in fundierter Weise zu äußern.
    Es ist wohl nicht ganz angebracht, mit einer solchen Bemerkung, wie der hier zitierten, mangelnde Urteilsfähigkeit zu kritisieren, die unverschuldet ist.

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  • Mein Begriff der „schönen Stellen“ ist nicht gleichbedeutend mit „Stellen, die mir gefallen“.
    Letztere müssen nicht zwingend „schön“ sein, sondern können auch dramatisch, traurig, melancholisch, effektvoll etc. sein. Sie jagen Schauer über den Rücken, lassen den Hörer seufzen, ihn in Schwermut schwelgen oder wecken das Bedürfnis, mitzudirigieren.


    „Schöne Stellen“ – wie die erwähnte in Beethovens op.59/1 oder dem Lindenbaum-Motiv in Mahlers 1. – sind für mich Passagen, die – ich wiederhole mich – transzendierende Wirkung auf mich haben; fast möchte ich sagen, einen Zustand bewußtseinserweiternder Seelenruhe nach sich ziehen. (Ich ringe um passende Worte.)


    Diese Stellen sind viel zu rar gestreut, als dass ich allein ihretwegen klassische Musik hören würde. Gerade zwei solcher Stellen habe ich bisher konrekt benannt, eine dritte fiel mir heute ein. Am Ende des ersten Satzes von Berlioz’ Sinfonie fantastique, die, glaube ich, als Religioso bezeichnet wird:
    http://www.youtube.com/watch?f…page&v=LAGf2eN-EKw#t=273s

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Das, was ich hier über Adornos musikästhetische Grundposition in die Diskussion einbrachte, seine Unterscheidung zwischen „strukturellem“ und „atomistischem“ Hören klassischer Musik nämlich, ist zutreffend.


    In seinem Rundfunkvortrag „Schöne Stellen“ macht er aber eine Art dialektische Wendung gegen diesen eigenen musikästhetischen Ansatz: Er philosophiert über den Zusammenhang vom Teil und dem Ganzen in der Musik – hier nicht wiedergebbar – , und diese musikästhetische Reflexion mündet dann in die Feststellung:


    „Zum richtigen Hören von Musik gehört das spontane Bewußtsein der Nichtidentität von Ganzem und Teilen ebenso hinzu wie die Synthesis, die beides vereint“
    Hiermit ergänzt er theoretisch seinen Ansatz, dass allein strukturelle Rezeption klassischer Musik, die bei der Wahrnehmung des Einzelnen stets das Davor und Danach wahrnehme, in der Lage sei, die „Synthesis“ die dieser eigen ist, im Prozess der Rezeption nachzuvollziehen.


    Und das ist nun sein neuer Ansatz für die musikphilosophische Reflexion über „schöne Stellen“. Diese werden also nicht negativ gesehen, sondern als Ansatzpunkt für eine adäquate Rezeption klassische Musik verstanden, die die „Synthesis“ vom Detail ausgehend hin zu Ganzen vollzieht.


    Er beruft sich mit diesem Ansatz, Dieter Schnebels Reflexionen einbeziehend, auf die „Dissoziationstendenzen“, die spätestens seit Gustav Mahler in der klassischen Musik der Moderne zu beobachten sind, und meint:


    „…So müsste plausiblerweise der Weg zum Verständnis des Ganzen ebenso vom Einzelnen hinauf führen können wie vom Ganzen hinab“
    Und das will er in diesem Vortrag mit seinem Eingehen auf die „schönen Stellen“ leisten. Wie man ihn kennt hat er dafür auch einen schönen Begriff gefunden. Er spricht in diesem Zusammenhang von „exakter Phantasie“:


    „Das Mittel zu solcher Erfahrung (= von klassischer Musik über den hörenden Ansatz am Einzelnen) ist exakte Phantasie. Sie schließt den Reichtum des Einzelnen, bei dem sie verweilt, auf, anstatt mit der ängstlichen Ungeduld, die dem guten Musiker anerzogen ward (…) darüber hinweg zu Ganzen zu hasten.“
    Dann ergänzt er erläuternd:


    „An vielem musikalisch Einzelnen und gar nicht erst, wie der Historismus es möchte, seit der Romantik, haftet eine Farbe, die nicht im Ganzen sich verflüchtigt. Zuweilen neigt man dazu, darin das Beste zu suchen.“


    Damit ist das Konzept, das seinem Vortrag zugrundeliegt, in seinem musikästhetischen Ansatz aufgezeigt. Dem Einzelnen, also hier den „schönen Stellen“ haftet eine „Farbe“ an, die sich im Ganzen nicht verflüchtigt. Indem man diese Farbe zu erfassen versucht, und zwar über die sog, „exakte Phantasie“, vollzieht man die „Synthesis“ der Rezeption klassischer Musik in umgekehrter Richtung sozusagen: Vom Detail hin in Richtung des Ganzen.


    Adorno merkt dazu an:
    „Indem ich Ihnen eine Reihe schöner Stellen vorführe. Erläutere, Ihnen zu erklären suche, mit welchem Grund sie schön genannt werden dürfen, möchte ich sie nicht bloß gegen die notwendige Kritik am vulgären Begriff der schönen Stelle erretten. Ich möchte auch Clichés widerlegen, eine Bresche schlagen zur Sache, durch die Mauere stilgerechter Zurüstungen hindurch.“


    Damit dürfte die Grundlage für eine weiterführende Diskussion auf der Basis dieses Rundfunkvortrages gelegt sein.

  • Die Ansichten Adornos in allen Ehren, aber sind sie nicht mit denen Beckmessers verwandt?


    Lieber hami1799,
    also Beckmesser würde ich nicht mit Adorno in Vebindung bringen, meine Frage würde lauten "Steigt ein elitärer Geist wie Adorno in die geistigen Tiefen emotionalen Musikempfindens hinab?"


    Viele ("tief empfundene") Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit.: "...meine Frage würde lauten "Steigt ein elitärer Geist wie Adorno in die geistigen Tiefen emotionalen Musikempfindens hinab?"


    Meine Hoffnung ist:
    Vielleicht könnte meine Darstellung der Musikästhetik Adornos und der Intentionen, die er mit seinem Rundfunkvortrag verfolgte, dazu beitragen, solche Fragen als inzwischen gegenstandslos und damit als erledigt zu betrachten.

  • möchte ich sie nicht bloß gegen die notwendige Kritik am vulgären Begriff der schönen Stelle erretten


    gesetzt, ein solcher "vulgärer Begriff" existierte - dann steht noch zu befürchten, daß sich Adorno mit seiner Ehrenrettung schöner Stellen jenseits vulgärer Zurechnung nicht gegen dieselbe hat durchsetzen können. Wer die Wirkung des Schönen vulgär nennt, dem ist irgendwie nicht zu helfen.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Ich meine wirklich, wir sollten Adornos Musikästhetik hier in diesem Thread ruhen lassen. Es war ohnehin, wie ich jetzt merke, ein Fehler, sich überhaupt auf sie hier einzulassen. Wenn ich es recht verstanden habe, wollte Johannes Roehl, der Adornos Radiovortrag im Hessischen Rundfunk hier in diesen Thread eingebracht hat, nur auf die "Schönen Stellen" darin bezug nehmen und nicht auf den musikästhetischen Über- bzw. Unterbau eingehen. Es ging ihm wohl nur um den "materialen Anhang".


    Da ich der Meinung war, dass man ohne diesen "Überbau" nicht recht verstehen kann, was Adorno eigentlich will, bin ich meinerseits darauf hier eingegangen. Das hatte zur Folge, dass dauernd Stellngnahmen dazu kamen, die völlig an dem vorbeigingen, was Adorno meint. Es hat keinen Sinn, hier über etwas zu diskutieren, das man nicht wirklich gelesen hat und kennt.


    So ist zum Beispiel, wie ich oben ( Beitrag 52 )versuchte darzustellen, Adornos Begründung dafür, dass er sich auf "schöne Stellen" einlässt, aus meiner Sicht ein ziemliches Bubenstück an dialektischer Spitzfindigkeit. Er muss sich nämlich gegenüber denen rechtfertigen, die seine auf dem Theorem des "strukturellen Hörens" basierende Rezeptionsästhetik kennen. Nach der ist ein "Sich-Einlassen" auf "schöne Stellen" eigentlich ein Fehltritt. Also konstruiert er einen zweiten theoretsichen Ansatz, der auf dem Prinzip der "exakten Phantasie" basiert, die das "Ganze" aus dem "Verweilen beim Reichtum des Einzelnen" erschließt.


    Um jetzt zum Einwand farinellis zu kommen: In diesem theoretischen Konzept Adornos resultiert der "vulgäre Begriff der schönen Stelle" aus jener Form der Rezeption klassischer Musik, die "das musikalisch Schöne" gleichsam aus dem Gesamtwerk ablöst, - es eben nicht, wie die "exakte Phantasie", im Kontext der Faktur sieht, sondern "atomistisch" genießt.


    Aber noch einmal meine Bitte: Adornos Musikästhetik hier außen vor lassen, - solange man nicht mindestens den Rundfunkvortrag gelesen hat.

  • Lieber Helmut,


    mir geht es ja auch gar nicht um Adorno - obwohl ich nach wie vor einen "vulgären Begriff" für eine contradictio in adjecto halte. Gemeint ist wohl ein Vorurteil, also was man etwa in einem zu kurz gegriffenen Verstand unter einer Sache begreift - in unserem Fall also die Exzerpierbarkeit eines schönen Gesangsthemas aus einem Musikstück, das dann verselbständigt in die Wunschkonzerte Eingang findet.


    Anbei: Adorno und die Wunschkonzerte hatten ihren Zenit in den 50ern und sind seither aus dem Gebrauch gekommen.


    Mir geht es um eine Aufwertung des von Adorno Geschmähten. Man kann ja nicht bestreiten, daß die melodische Thematik in beinah allen Werken des klassisch-romantischen Kanons die Tendenz zur Bestätigung, zur Affirmation - nämlich schlicht: zur Wiederholung hat. Selbst die - verschwenderisch unökonomische - Einleitung zu Tschaykowskis KlK Nr. 1 b-Moll, die ja nur als Einleitung erklingt, folgt doch der Form ABA und feiert ihre sieghafte Reprise.


    Es ist eben ein zutiefst menschlicher Impuls, das Schöne festhalten zu wollen, oder wiederholbar zu machen. Eine Melodie hat zudem immer den Charakter einer klar faßlichen, evidenten Gestalt, einer Auflichtung, eines "Jetzt: Jetzt ereignet es sich".


    Es ist im Grunde die Beethoven-Tradition der strukturellen Verdichtung, die um die Materialität der Melodik ringt. Und nur aus dieser Tradition heraus wird ein Urteil (ältere Ausgabe des Reclam-Orchestermusikführers) über Bruchs Violinkonzert, 2. Satz, verständlich, dessen süßliches Gesangsthema sich durch sein pausenloses Herunterleiern abnutze:


    ... ein sehr eingängiges Thema, das leider durch zu häufige Wiederholung ermüdet. Gleichwohl wird das Adagio bei tonreiner Wiedergabe stets seine Freunde finden.


    Dieses widerwärtige Urteil (man lese den Nachsatz) ist in mehrfacher Hinsicht verräterisch. Zum einen entgeht ihm die äußerst kunstvolle Verarbeitung des Themas im Adagio, das ja zu immer höherer Leuchtkraft gesteigert wird. Zum anderen kann ja das Schöne gar nicht ermüden, da der Wunsch, es in der Wiederholbarkeit zu erhalten, ein innerstes menschliches Bedürfnis ist. Erst in der Wiederholung nämlich intensiviert sich das Glück des Hörens, und unsere zerstreute Aufmerksamkeit kann nur so teilhaben an der Balance einer in sich ruhenden Melodie.


    Diese Sachverhalte "vulgär" zu nennen, empfinde ich als infam.


    Natürlich gibt es andere Schönheiten als nur schöne Melodien. Es gibt aber auch einen Diskurs der Abwertung sinnlicher Schönheit, übrigens seit der christlichen Spätantike, der uns glauben machen möchte, das Schöne sei die Schminke des Häßlichen, und die wahre Schönheit wohne im Unscheinbaren verborgener Tugend. Daß die wirkungsvolle Melodie sich in einem weiteren Umfeld verständlich macht als etwa die von Adorno gelobte Instrumentation des Pierrot lunaire, macht das Melodische schon verdächtig. Verständlichkeit, als Rezeptionsphänomen, wird substanziell umgedeutet, als populär oder eben vulgär:


    In der Tat fällt denn auch in die Auffassung des Publikums von traditioneller Musik nur das Allergröbste, Einfälle, die sich behalten lassen; ominös schöne Stellen, Stimmungen und Assoziationen. Der musikalische Zusammenhang, der den Sinn stiftet, bleibt in jeder frühen Beethovensonate dem durchs Radio dressierten Hörer nicht weniger verborgen als in einem Schönbergquartett, das ihn wenigstens daran mahnt, daß sein Himmel nicht voll der Geigen hängt, an deren süßem Ton er sich weidet.
    (Philosophie der neuen Musik, Einleitung)


    Nichts gegen die Esoterik des deutschen Sonderwegs in der Kunst. Nichts gegen Adornos komplizierte Sublimation und seinen überfeinten Gechmack. Aber ich halte doch dafür, daß Wagner und Brahms sehr wohl wußten, warum sie Johann Strauß so vergötterten.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ich stimme Dir ja in all dem zu, was Du hier ausführst, lieber farinelli. Die Haltung, die sich in dem von Dir gebrachten Zitat aus der "Philosophie der neuen Musik" artikluliert, begegnet einem auf Schritt und Triit in den musikästhetischen Schriften Adornos. Deshalb meinte ich ja, dass wir uns hier damit nicht auseinandersetzen sollten, sondern auf ganz pragmatische Weise eher der Frage nachgehen, was denn eigentlich "schöne Stellen" sind und was deren "Schönheit" im Kern den ausmacht.


    Der Erstaunliche ist nämlich: Die Stellen, die Adorno in seinem Rundfunkvortrag anführt und kurz kommentiert, sind in der Mehrzahl gar keine Stellen, die man im herkömmlichen Verständnis des Wortes als "schön" - etwa im Sinne von melodiös eingängig und harmonisch stimmig - bezeichnen würde. Es sind im Grunde auffällige, in der Faktur gleichsam herausragende und damit bedeutsame Stellen innerhalb eines musikalischen Werkes.


    Ich gebe mal ein Beispiel, damit klar ist, worum es hier geht. Zu Beethovens Klaviersonate op.57 führt er aus:


    "Der äußerste Gegensatz zu diesem Typus (gemeint ist eine Stelle aus Beethoven op.59, Nr.3) und ein Beethoben Eigentümliches sind jene schönen Stellen - wenn man sie so nennen will - , deren Schönheit von der Relation erst erzeugt wird. Ich möchte Ihnen dafür zwei extreme Beispiele geben. Das Thema der Variationen der Appassionata beginnt: _ (jetzt kommt das Beispiel: Klaversonate op.57, Andante con moto, die ersten acht Takte). Ganz beredt indessen wird dies Thema erst, wenn man es unmittelbar nach der Coda des ersten Satzes hört, einer auskomponierten Katastrophe (Beispiel: Beethoven, dieselbe Sonate, Schluß des ersten Satzes, von più Allegro an, und dann Variationsthema). Nach jeder Explosion und dem Zusammenbruch klingt das Variationsthema, als beugte es sich unter einem Riesenschatten, unter erdrückender Last. Der gedeckte Charakter des Klangs scheint dies Lastende auszukomponieren." (S.707)


    Das ist eine Stelle, die sehr schön belegt, was Adorno unter "schöne Stellen" versteht und nach welchen Gesichtspunkten und welchen Kriterien er sie als bemerkenswert kommentiert und hervorhebt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Passage "deren Schönheit von der Relation erst erzeugt wird".


    (Vielleicht wird jetzt verständlich, warum ich vorschlug, Adorno außen vor zu lassen, solange der Text allen Gesprächsteilnehmern hier nicht bekannt ist)

  • Warum sollte der "dialektische Winkelzug" nicht ernst gemeint sein?
    Vielleicht erkennt Adorno hier ein (zumindest potentielles) Defizit seines eigentlichen Ansatzes, das "ängstliche Ungeduld" hervorbringen kann, so dass die Ergänzung durch die von Details ausgehende Synthesis notwendig ist. (In der Praxis ist ein Wechsel zwischen Analyse und Synthese ohnehin notwendig: Auch wenn Teile erst im Ganzen ihren Sinn erhalten und nicht völlig isoliert in ihrer Relevanz erfasst werden können, so müssen sie dennoch, allein aufgrund der Beschränktheit des sinnlichen Apparats erst einmal als Teile erfasst werden. Und außerdem: "Das Ganze ist das Unwahre" (Minima Moralia, wenn auch in einem anderen Kontext)


    Und "vulgär" hier so aufzuladen, scheint mir an der Verwendung des Ausdrucks vorbeizugehen. Ich glaube, Adorno meint mit "vulgärem Begriff" einfach nur einen unreflektierten, unscharfen, unwissenschaftlichen Begriff. Diese Vagheit hat sich im thread ja zur Genüge gezeigt. Nur kann es bei Adorno, weil die Ästhetik der Einzelheit nur durch das Ganze begründet werden kann, wohl gar keinen reflektierten Begriff der "schönen Stelle" geben, außer eben in dem eingeschränkten Sinne wie in dem Radiovortrag und in Helmuts Kommentar angedeutet.
    Eine Diffamierung findet man wohl in dem anderen Zitat aus der Philosophie der Neuen Musik. Natürlich ist das sehr polemisch, aber völlig unrecht hat er eben auch nicht.


    In jedem Falle ist mir nicht ganz klar, warum man nicht den Ansatz, dass man Teile im Zusammenhang des Ganzen erfassen muss usw., mal einklammern kann, wie es Adorno selbst in dem Vortrag (weitgehend) tut.


    Und schließlich, wie oben schon gesagt, muss man nicht die einseitigen und oft übertriebenen Anforderungen, die Adorno an ideale (oder auch nur halbwegs kompetente) Hörer stellt, unterschreiben, um einzusehen, dass, wenn ein Stück nicht als Anreihung hübscher Melodien, sondern als ein schlüssiges und dramatisches Ganzes komponiert wurde, man einiges verpasst, wenn man es als solche Anreihung rezipiert.


    Eine gewisse Frustration des "Schöne-Stellen-Hörens" (im vulgären Sinne) kennt doch wohl jeder (jedenfalls ich selbst) aus der eigenen Hörgeschichte. Der Kopfsatz von Tschaikowskys b-moll-Konzert frustrierte mich nach anfänglicher Begeisterung schon als Teenager, der noch nie was von Adorno gehört hatte. Denn die eindrucksvollste Stelle bietet eben die Einleitung; die Themen des schnellen Abschnittes sind weder so memorabel noch so emotional packend. Um diese Enttäuschung zu mildern, muss man sich wohl oder übel darauf einlassen, im weiteren Verlauf etwas zu finden, was attraktiv genug für knapp 15 min Musik ist, ohne so überwältigend sein zu müssen wie die Einleitung. D.h. die naive, voranalytische Erfahrung mit dem Stück selbst treibt einen entweder zur Enttäuschung (ein misslungenes Stück, weil es sein Pulver zu schnell verschießt) oder zwingt einen, "schöne Stellen" abzuwerten bzw. nicht-offenkundige "schöne Stellen" zu finden.


    Fazit: Die Emphase, mit der Adorno die Teile zugunsten des Ganzen abwertet, und die entsprechende Polemik gegen "atomistisches Hören", mögen übertrieben sein. Aber ein Kern des Ansatzes scheint mir "vor-theoretisch" extrem plausibel und beinahe trivial richtig zu sein.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • D.h. die naive, voranalytische Erfahrung mit dem Stück selbst treibt einen entweder zur Enttäuschung (ein misslungenes Stück, weil es sein Pulver zu schnell verschießt) oder zwingt einen, "schöne Stellen" abzuwerten bzw. nicht-offenkundige "schöne Stellen" zu finden.


    Es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Die wäre, einfach und skrupellos sich die Rosinen aus dem Kuchen zu picken.


    Die schönen Stellen abzuwerten sollte m.E. auch nicht als Voraussetzung für das Suchen nach versteckter Schönheit erforderlich sein. Wenn die nicht zu finden ist, gerät masochistisches Ausharren im Widerstreit gegen das eigene Urteilsvermögen zum schlichten Selbstbetrug.


    Es freut mich jedenfalls, dass meine eigene, ambivalente Haltung gegenüber dem B-Moll-Konzert
    von anderen Musikfreunden geteilt wird.

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