Dmitri Schostakowitsch

  • Ich habe bis jetzt auch an einigen Stellen nicht an ein Zitat gedacht, wenn ich Sequenzen hörte, die so oder so ähnlich auch in anderen Werken Schostakowitschs vorkommen. Immerhin hört man in vielen seiner Werke solche Stellen. Für mich ist das dann einfach ("typisch") Schostakowitsch.

    Etwa das Motiv, das in besager Oper im 4. Akt vorkommt, als sich kurz vor Ende die Gefangenen wieder aufmachen zum Weitermarsch; kurz bevor der alte Gefangene Katerina ermahnt mitzukommen und diese dann Sonyetka in den Fluss stößt.

    Und in dieser Oper kommen auch öfter bekannte Stellen vor, etwa aus Hypothetically Murdered, eins zu eins.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • In dem Booklet zur Einspielung von Kitajenko mit dem Gürzenichorchester zitiert Éva Pintér Schostakowitsch mit den Worten "...Ich habe nichts dagegen, wenn man die Siebte 'Leningrader' nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, dass Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt". Pintér gibt die Quelle des Zitates nicht an, aber nach ein wenig wikipedieren, scheint es aus den umstrittenen Memoiren zu stammen.


    Ist das wirklich glaubhaft, selbst, wenn Schostakowitsch das geäußert haben sollte?

    Ich beantworte die Frage eindeutig mit Ja. Ich halte das für absolut authentischen Schostakowitsch. Schostakowitsch hat diese Äußerung nämlich wohl nicht zur Zeit der Uraufführung der 7. Symphonie gemacht, sondern viel später. Dann ist das aber der Rückblick eines alten Mannes auf das Leben, wo sehr viel Verbitterung mitschwingt. Die Exposition der 7. Symphonie hat nämlich die Schwäche einer gewissen Klischeehaftigkeit. Da gibt es - programmatisch interpretiert - ein schön-herrliches Bild des friedlichen Leningrad. Also wir haben die schöne heile Welt der Sowjetunion mit lauter glücklichen Sowjetmenschen, die ihr Glück und ihren Frieden genießen, und dann kommen die bösen, bösen Deutschen und machen diese Idylle des schönen Sowjetlebens mit ihren einrollenden Panzern kaputt. Schostakowitsch, der ein sehr selbstkritischer Mensch war (das gehörte wohl zur sowjetischen Erziehung, die das Individuum klein machen wollte gegenüber dem allmächtigen Staat, der im Unterschied zum fehlbaren Individuum immer das Richtige weiß und das Richtige tut - auch Svjatoslav Richter ist, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, selbstkritisch bis zur Selbstzerfleischung), hat das später dann relativiert mit Blick darauf, dass die Sowjetunion vor dem Einmarsch der Deutschen eben keine Idylle war, sondern ein Leben in Angst und Schrecken durch den Terror Stalins, so wie es Schostakowitsch selbst ja auch erlebt und erlitten hat. Der Schrecken der deutschen Invasion ist dann die Fortsetzung und die Steigerung dieses Schreckens des Stalinismus. Damit wird mitnichten der Nazi-Terror geleugnet oder relativiert, das zu behaupten, ist komplett absurd, sondern lediglich der idyllische Charakter der Exposition der 7. Symphonie als eine allzu schöne Illusion vom sowjetischen Leben enthüllt.



    Hier hätte ich vielleicht etwas genauer sein sollen. Dass eine ästhetische Erfahrung nicht direkt in einer Partitur steht, ist einerseits klar, andererseits aber geradezu eine Banalität. Subjektivistische Züge bekommt das Betonen ästhetischer Erfahrungen dann, wenn man meint, auf ihrer Basis anderen Leuten Kunstwerke erklären zu wollen. Du meinst, im Finale der Zwölften Doppelbödigkeit und tiefe Traurigkeit zu erkennen, ChKöhn (und übrigens auch ich) hören dort eine schwer verdauliche Agitprop-Schwarte, und irgendjemand anders hört da vielleicht die Vertonung eines Geschlechtsaktes. Das sind alles ästhetische Erfahrungen, die einem unbenommen sein mögen, aber wenn man erreichen möchte, dass sie einen Informationsgehalt für andere haben, dann wird man sie irgendwie anhand der Faktur des Kunstwerks begründen müssen. Natürlich ist es einem ebenfalls unbenommen, dies nicht erreichen zu wollen, nur sollte man sich dann fragen, warum man diese Erfahrungen überhaupt anderen Leuten mitteilt. Ich schreibe hier ja auch nicht, wie es mir gestern nach dem Aufstehen ging, weil das vermutlich niemanden interessieren dürfte.

    Wenn dem so wäre, dann hätten ca. 120 Jahre intensiver Diskussion über die Frage, was musikalisches Ausdrucksverstehen bedeutet, das banale und lächerliche Resultat, dass alles subjektiv beliebig ist. Nein. Es gibt hier eindeutige, ganz objektive Kriterien von wahr und falsch. Mahlers Ironie kann freilich überhört werden genauso wie Schostakowitschs Doppeldeutigkeit. Dieses Überhören besagt aber eben, dass dies ein Überhören ist von etwas was wirklich da ist, und nicht einfach subjektivistische Beliebigkeit. Wer bei Schostakowitsch die Vertonung eines Geschlechtsakt vernimmt, der assoziiert damit etwas willkürlich und äußerlich, was mit dem Ausdrucksgehalt der Musik rein gar nichts zu tun hat. Als Weise des Ausdrucksverstehens beurteilt ist das schlicht und einfach falsch. So ein Mensch hört dann nicht richtig hin und kann die Ausdrucksintention dieser Musik nicht erfassen. Man muss nun schon auf beiden Ohren taub sein, um in Mrawinskys Interpretation nur eine "Agitprop-Schwarte" zu hören. Hier geht es um den Unterschied zwischen einer direkten und indirekten Mitteilung. Als "Agitprop-Schwarte" kann man Schostakowitschs Musik nur missverstehen, wenn man nicht erkennt, dass die Form der musikalischen Aussage hier der Schattenriss einer indirekten Mitteilung ist und nicht eine direkte Mitteilung. Als direkte Mitteilung aufgenommen hört man einen Lehrlauf und hohle Gesten. Damit erfasst man dann aber die Ausdrucksintention nicht. Nicht die Musik ist hohl, sondern die Musik will ausdrücken, dass diese ganzen Erfüllungsgesten und Apotheosen hohl und leer geworden sind, nur aus Notwendigkeit vollzogen werden, weil sie keine innere Wahrheit mehr haben. Das will die Musik sagen - und es ist einfach platt, das so misszuverstehen, als sei die Musik als solche hohl und leer. Dann hört man an der Musik vorbei - ganz objektiv - und überhört das Wesentliche, weil man es nicht hören kann, weil man es nicht hören will, weil das Vorurteil, dass Schostakotitschs Musik nur propagandistischer Pomp ist, die Ohren verschließt und man so die falsche Rezeptionshaltung einnimmt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • dann kommen die bösen, bösen Deutschen und machen diese Idylle des schönen Sowjetlebens mit ihren einrollenden Panzern kaputt

    Allein diese Formulierung zeigt Deinen ganzen ekelhaften Zynismus und Deine empathielose Kälte. Widerlich.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Die Exposition der 7. Symphonie hat nämlich die Schwäche einer gewissen Klischeehaftigkeit. Da gibt es - programmatisch interpretiert - ein schön-herrliches Bild des friedlichen Leningrad.


    Allein diese Formulierung zeigt Deinen ganzen ekelhaften Zynismus und Deine empathielose Kälte. Widerlich.

    Lieber ChKöhn,


    ich fände es wäre besser gewesen, hättest Du Holgers o.g. Zitat vorangesetzt, so wie es Holger auch getan hat. Dann ergibt der "ekelhafte Zynismus...." ein ganz anderes Bild.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • ich fände es wäre besser gewesen, hättest Du Holgers o.g. Zitat vorangesetzt, so wie es Holger auch getan hat. Dann ergibt der "ekelhafte Zynismus...." ein ganz anderes Bild.

    Nein, das ergibt kein anderes Bild.

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  • Ekelhaft sind hier nur die Pöbeleien einer bestimmten Person. Es gibt halt Menschen, die werden in ihrem Leben nie lernen, was es heißt, sich unter Mitmenschen anständig zu benehmen und sollten besser Internetforen und dgl. fernbleiben.

  • Erinnern wir doch einfach daran, dass die 7. Sinfonie zu Beginn des deutschen Einmarsches entstand. Die Blockade Leningrads alein bestand von Semüptember 1941 bis Januar 1944 und kostete etwa 1,1 Mio. Menschen das Leben. Dia Aufführungen des Werkes begannen 1942, abgeschlossen war es 1941. Nichts weiter als das Wissen und die Kenntnisse dieser Zeit können in dem Werk Niederschlag gefunden haben. Punkt. Wir wissen, das Schosta alles konnte, Gebrauchsmusik, Unterhaltungsmusik, komplexe Musik. Ich folge Holger durchaus in der Beswchreibung: Die Exposition zeigt ein friedliches, schönes Russland. Das gilt auch trotz des Stalinismus insofern, als etwas Anderes als Diktatur oder Zarentum, mithin also unorganisierte, unberechenbare Willkür nicht gekannt waren.


    In dies Idylle bricht der Einmarsch der Deutschen ein, nach den 16 Wiederholungen die sowjetische Gegenwehr. Es folgen Trauer, Wiederaufrichten und, im vierten Satz der Wille zum Sieg über die Deutschen und die Wiedererlangung der glücklichen Heimat, der Autonomie des Landes, in dem man lebt, den letzten Rückzugsort vor dem Alltag. Und sieh da, da taucht sie wieder auf, die Expositionsmelodie von der schönen Heimat, stolz und pathetisch vorgetragen. Und es gibt auch Aufnahmen, die das so spielen, allerdings eher ältere. Schostzakowitsch spielt perfekt auf dieser Klaviatur der Emptionen, tut er in meinen Ohren später noch mal bie der 11. Sinfonie. Bei Nr. 7 wird der Optionalis eines zukünftigen Sieges erzählt, durchaus positiv, alle politische Kritik ist draußen vor. Damit ist er nicht unpolitisch. Ich sehe nicht, was an diesem Werk problematisch sein soll. Oder warum man da irgendwelche Metagedanken reininterpretiert. Es spiegelt das Jahr 1941 und spätere Zurchtrückungen würde ich dann zunächst einmal nicht ganz so ernst nehmen, denn Stzalin war zwar tot und unter Chrustschof mag's Schostakowitsch bessser gegangen sein, aber unter Breschnew wurde die Kultur wieder erheblich gepiesackt, ich erinnere an die sogen. "Bulldozer-Ausstellung" vom 15.9.1974. Das bringt ein Künstler mit der Öffentlichkeit eines Schostakowitsch schon ans Grübeln.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Das gilt auch trotz des Stalinismus insofern, als etwas Anderes als Diktatur oder Zarentum, mithin also unorganisierte, unberechenbare Willkür nicht gekannt waren.


    In dies Idylle bricht der Einmarsch der Deutschen ein, nach den 16 Wiederholungen die sowjetische Gegenwehr.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Stalinsche_S%C3%A4uberungen


    Zitat daraus:


    Bereits Mitte der 1920er Jahre begann Josef Stalin, echte oder vermeintliche politische Gegner aus der Kommunistischen Partei (KPdSU) ausschließen zu lassen. Später wurden die Betroffenen häufig mit gefälschten Vorwürfen in Schau- und Geheimprozessen zum Tod oder zu Lagerhaft und Zwangsarbeit im Gulag verurteilt. Entsprechende Geständnisse wurden regelmäßig unter Folter erpresst.


    Im sogenannten Großen Terror von 1936 bis 1938, auch als „Große Säuberung“ bezeichnet, erreichten die politischen Säuberungen ihren Höhepunkt: In dieser Zeit wurden jeden Tag etwa 1000 Menschen ermordet. Dieser stetige Verlust an Funktionsträgern begann die elementaren Funktionen von Partei, Verwaltung und Armee zu gefährden. So waren in manchen Gebieten sämtliche Parteifunktionäre der KPdSU verhaftet worden. Daher wurde die Intensität der Verfolgung 1938 auf Befehl Stalins reduziert, ohne jedoch eingestellt zu werden.

  • Natürlich gab es den Großen Terror, die Zwangskollektivierung, den Gulag. Aber wer gestern und heute Nachrichten gesehen hat, weiß dass unter der massiven Bedrohung des eigenen Landes alles andere in den Hintergrund tritt. Das war 1941 in der Sowjetunion vielfach gesteigert nicht anders. Es gibt keinen Zweifel, dass Schostakowitsch unter der persönlichen Bedrohung seit 1936, unter der Ermordung vieler Freunde wie Meyerhold und Tuchatschewski gelitten hat. Aber unmittelbar nach dem Überfall der Deutschen meldete er sich dreimal als Freiwilliger zur Roten Armee, weigerte sich, in den sicheren Osten evakuiert zu werden, nahm fast täglich persönlich am Barrikadenbau teil und wurde schließlich, da er nicht locker ließ, in die Brandwache der Flugabwehr eingegliedert. Hätten nicht Millionen von Sowjetbürgern dieselbe tiefe innere Bereitschaft gehabt, ihr Land gegen die Deutschen mit aller Kraft und unter unvorstellbaren Opfern zu verteidigen, wären die Folgen für die Sowjetunion und die ganze Welt katastrophal gewesen. Es ist leicht, über den heutzutage wieder aufkommenden Kult des Verbrechers Stalin in Russland die Nase zu rümpfen, aber der "Große vaterländische Krieg" heißt nicht nur bis heute so, sondern er wird zu recht auch so empfunden. Die Hochkultur und vor allem die Musik hatte in dieser Zeit und dieser extremen Gefahr eine enorme Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Moral der Bevölkerung (siehe die oben genannte Zahl von Kompositionen, die während der Belagerung Leningrads entstanden), und Schostakowitsch galt trotz der Kritik von 1936 als der wichtigste Komponist der Gegenwart. Seine Symphonie hatte das Ziel, den Menschen Mut zu machen, ihnen Zuversicht zu geben, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. In ästhetischer Hinsicht ist die Zeit über sie hinweggegangen, aber es gibt keinen Grund, an der Ehrlichkeit ihrer Aussage und ihrer historischen Bedeutung zu zweifeln. Sie wurde massenhaft und geradezu rauschhaft konsumiert, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes nötig war. Dabei ging es nicht um angeblich versteckte dissidentische Botschaften sondern um die Stärkung des Zusammenhalts in schlimmster Not. Musikalisch lassen sich andere "Botschaften" ohnehin nicht begründen: Wenn man z.B. Chrennikows zweite Symphonie dagegen hört, die ebenfalls während des Krieges entstand, stellt man bei allen Unterschieden im Personalstil ein ähnliches vaterländisches Pathos, mit Unisono-Themen, schmetterndem Blech, mit dissonant geschärften Dreiklängen usw. fest. Niemand käme auf die Idee, dahinter eine verborgene "eigentliche" Botschaft zu vermuten.

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  • Die Exposition der 7. Symphonie hat nämlich die Schwäche einer gewissen Klischeehaftigkeit. Da gibt es - programmatisch interpretiert - ein schön-herrliches Bild des friedlichen Leningrad. Also wir haben die schöne heile Welt der Sowjetunion mit lauter glücklichen Sowjetmenschen, die ihr Glück und ihren Frieden genießen, und dann kommen die bösen, bösen Deutschen und machen diese Idylle des schönen Sowjetlebens mit ihren einrollenden Panzern kaputt.

    Wo hörst Du denn da Panzer, Holger?
    Das Invasionsthema beginnt doch eher wie ein kleiner Trupp von Pfadfindern, die übers Land ziehen und ein Lied singen. Das dann nach und nach lauter wird - aber da haben wir die Exposition längst verlassen.


    Davon abgesehen ziehe ich es vor, die hier aufgeworfenen Fragen anhand der Komposition zu beurteilen. Und da ist mir noch vieles unklar. Weder kann jemand die mE wichtige Frage nach dem Zitat aus der von Stalin verbotenen Oper Lady Macbeth beantworten noch wurde die Herkunft des Invasionsthemas eindeutig geklärt. Der zweite, absteigende Teil stammt von Lehár, aber der markante erste Teil klingt auch wie ein Zitat. Wurde das noch nicht identifiziert?

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  • Im sogenannten Großen Terror von 1936 bis 1938, auch als „Große Säuberung“ bezeichnet, erreichten die politischen Säuberungen ihren Höhepunkt: In dieser Zeit wurden jeden Tag etwa 1000 Menschen ermordet. Dieser stetige Verlust an Funktionsträgern begann die elementaren Funktionen von Partei, Verwaltung und Armee zu gefährden. So waren in manchen Gebieten sämtliche Parteifunktionäre der KPdSU verhaftet worden. Daher wurde die Intensität der Verfolgung 1938 auf Befehl Stalins reduziert, ohne jedoch eingestellt zu werden.

    Alles gewusst und bekannt, lieber Holger, die Idylle bezog sich auf das Eingangsthema der Sinfonie. Das Weitere hat Christian treffend ausgeführt, da habe ich nichts hinzuuzufügen. Die Frage nach dem thematischen Material finde ich auch interessant, auch wenn sie hinter der Wirkung des Werkes zurücktritt.


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  • Die Frage nach dem thematischen Material finde ich auch interessant, auch wenn sie hinter der Wirkung des Werkes zurücktritt.

    Ich habe heute in unserer (sehr gut ausgestatteten) Hochschulbibliothek ein bisschen recherchiert und bin auf einen Aufsatz von Paul Thissen aus dem Jahr 2012 gestoßen, der sich mit der 7. und der 12. Symphonie beschäftigt und dabei den musikalischen Nachweis eines "subversiven" (7.) bzw. "oppositionellen" (12.) Subtextes erbringen will. Das Hauptproblem an seinem Text ist, dass er zwar eingangs bestätigt, dass die Wolkow-Memoiren "im Hinblick auf ihre Authentizität (...) nicht unumstritten" sind, dass ihn das aber sofort anschließend nicht davon abhält, sie gleichberechtigt neben Schostakowitschs eigene Kommentare zu seinem Werk zu stellen und daraus weitreichende Schlüsse zu ziehen. Damit bewegt er sich mindestens nahe am Zirkelschluss, aber in unserem Zusammenhang ist etwas anderes interessant: Obwohl er wie gesagt explizit das Ziel verfolgt, die Wolkow-Sicht zu bestätigen, erwähnt er mit keinem Wort ein angebliches Zitat aus "Lady Macbeth". Dabei würde das doch perfekt zu seiner These passen! Ich bezweifle inzwischen, ob es ein solches "Zitat" überhaupt gibt; selbst im Wikipedia-Artikel zur Leningrader Symphonie wird ja nur vorsichtig davon gesprochen, dass das Invasionsthema an die Lady "erinnert", was auch immer das heißen mag. Thissen bezweifelt auch das Lehár-Zitat, weil in der Symphonie der Terzsprung am Ende der beiden absteigenden Linien fehlt (was stimmt), allerdings würde dieser Hitler-Bezug ja auch nicht zu seiner These passen, und da er das Maß an sonstiger Übereinstimmung kaum analysiert, liegt der Verdacht nahe, dass er die Fakten mit einem gewissen Maß an Voreingenommenheit gewichtet hat. Den Eindruck bekam ich vor allem, als er danach gerade einmal vier Töne des Invasionsthemas, also die Wechselnote mit anschließender Quint aufwärts als Chiffre für "das Volk" behauptete, die er dann als Beleg für die "Subersivität" anführt. Das ist bei einer solchen Allerweltsfloskel doch wohl reichlich spekulativ.

    Interessant war an dem Artikel noch ein Briefausschnitt, in dem Schostakowitsch noch fünf Jahre vor seinem Tod (also 1970) und damit genau zu der Zeit, als Wolkow angeblich die Gespräche mit ihm geführt hat, über die Invasionsepisode schrieb: "Das Marschthema aus meiner Symphonie verkörpert den aggressiven deutschen Faschismus. (...) So war diese Episode von mir gemeint."

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    (Theodor W. Adorno)

  • Vielen Dank für Deine Nachforschungen!

    Wahrscheinlich müsste man doch mal in MacDonald, I. The New Shostakovich (Oxford: Oxford University Press, 1990.) reinschauen.

  • Alles gewusst und bekannt, lieber Holger, die Idylle bezog sich auf das Eingangsthema der Sinfonie. Das Weitere hat Christian treffend ausgeführt, da habe ich nichts hinzuuzufügen.

    Lieber Thomas,


    das ist mir alles doch, erlaube ich mir dann doch zu sagen, ein kleines bisschen zu naiv. Wenn Du schreibst...


    In dies Idylle bricht der Einmarsch der Deutschen ein, nach den 16 Wiederholungen die sowjetische Gegenwehr. Es folgen Trauer, Wiederaufrichten und, im vierten Satz der Wille zum Sieg über die Deutschen und die Wiedererlangung der glücklichen Heimat, der Autonomie des Landes, in dem man lebt, den letzten Rückzugsort vor dem Alltag. Und sieh da, da taucht sie wieder auf, die Expositionsmelodie von der schönen Heimat, stolz und pathetisch vorgetragen. Und es gibt auch Aufnahmen, die das so spielen, allerdings eher ältere. Schostzakowitsch spielt perfekt auf dieser Klaviatur der Emptionen, tut er in meinen Ohren später noch mal bie der 11. Sinfonie. Bei Nr. 7 wird der Optionalis eines zukünftigen Sieges erzählt, durchaus positiv, alle politische Kritik ist draußen vor. Damit ist er nicht unpolitisch. Ich sehe nicht, was an diesem Werk problematisch sein soll.

    dann beschreibt das die emotionale Situation in der Zeit damals sicher richtig, man kann es aber auch etwas ideologiekritischer betrachten und von daher bekommt dann die Schostakowitsch-Äußerung "Hitler hat das Werk Stalins nur vollendet" ihren Sinn. Die "große Säuberung" Stalins hat nur in den Jahren 1983/1939 mehr als 700000 (!) Menschen das Leben gekostet - und sie war 1939 keineswegs zuende; sie ging in etwas abgeschwächter Form auch nach 1939 so weiter. Schon zuvor hatte Stalin, um seine Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen, Millionen vornehmlich ukrainische Bauern verhungern lassen. Das war also staatlich organisierter Massenmord von Millionen von Menschen nicht anders als der Terror in Nazideutschland, der in der millionenfachen Ermordnung von Juden, Roma und politischen Häftlingen endete. Noch in den 1970iger und 1980iger Jahren erinnere ich mich, dass in unserer westlichen Bundesrepublik von Linken und Linksintelektuellen vehement vertreten wurde, dass Nazideutschland und die Sowjetunion unvergleichlich seien: Nur Nazideutschland sei ein faschistischer, totalitärer Staat, aber natürlich nicht die Sowjetunion. Die von Volkov überlieferte Schostakowitsch-Äußerung stellt eine Kontinuität her zwischen dem Massenmord des Stalinismus und dem des Nationalsozialismus. Wenn man das Ernst zu nehmen bereit ist und deswegen mangelnde Empathie unterstellt bekommt, dann erinnert mich das nun doch an die bundesrepublikanisch linksintellektuelle Blauäugigkeit in den 70iger und 80iger Jahren, welche den totalitären Charakter des Stalinismus und des sowjetischen Systems nicht wahrhaben wollte.


    Eine "Idylle" war also die Sowjetunion zu der Zeit, wo die Deutschen einmarschieren, ganz und gar nicht. Deshalb stellt sich dann doch die Frage nach der Ideologielastigkeit einer Musik, welche den Einbruch des Krieges durch die deutsche Armee als die Zerstörung einer friedlichen Idylle darstellt. Ich hatte von einer gewissen Klischeehaftigkeit gesprochen. Und ich halte es für kaum bestreitbar, dass die Rezeption insbesondere von Schostakowitschs 7. Symphonie (also erst einmal davon abgesehen, was die Musik tatsächlich auszudrücken vermag) sowohl im Osten als auch im Westen stark ideologiebelastet ist. Es ist sicher so, dass mit dem Einmarsch der Deutschen sich die Wahrnehmung in Russland änderte und eine Art Verklärung von Stalin stattfand. Im "großen vaterländischen Krieg" wandelte sich sein Bild von dem des gefürchteten Diktators, vor dem man zitterte, zur geliebten Vaterfigur, die das russische Vaterland rettet. Man hat die "unidyllischen" Seiten des stalinistischen Terros in der Weltkriegssituation schlicht verdrängt, als es darum ging, "das Vaterland zu retten". Die übermächtige äußere Bedrohung hat die Wahrnehmung der permanenten inneren Bedrohung nahezu verschwinden lassen. Die klischeehafte Ideologisierung der Symphonie in der Sowjetunion besteht darin, dass man die Semantik "Idylle - Einbruch einer übermächtigen Gewalt, welche sie zerstört" als einen manichäischen Kampf des Guten mit dem Bösen darstellt. Dann ist die Leningrad-Idylle bei Schostakowitsch "das Gute" des friedlichen und glücklichen Sowjetlebens in Russland, und das Böse der deutsche Faschismus, gegen welche das Gute in Gestalt des sowjetisch-marxistischen Humanismus kämpft. In dieser ideologischen Rezpetion wird nicht nur das russische Vaterland verteidigt, sondern zugleich damit und vor allem das sowjetische System: Der marxistische Humanismus in seiner großen Menschlichkeit verteidigt sich gegen die Unmenschlichkeit und Barbarei des deutschen Faschismus - und das alles verbindet man mit Schostakowitschs Symphonie. Hier ist eben die Frage für einen Hermeneuten, worauf sich die verschiedenen Äußerungen Schostakowitschs beziehen. Die Aussage, die ich nach wie vor für völlig authentisch halte, wonach Hitler das Teufelswerk Stalins nur vollendet hat, muss eben nicht notwendig der widersprechen, dass Schostakowitsch in einer Tagebuchnotiz sagt, dass mit der litaneihaften Episode der 7. der deutsche Faschismus gemeint sei. Es ist eben die Frage, worauf sich diese vordergründig sich widersprechenden Äußerungen jeweils beziehen. Ich verstehe die von Volkov überlieferte Äußerung so, dass Schostakowtisch eben nicht primär sich auf das bezieht, was seine Symphonie tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte, sondern wie sie in der Sowjetunion ideologisch rezipiert wurde: nämlich als ein Kampf des Guten gegen das Böse. Die Betonung der Kontinuität der Verbrechen Hitlers in Russland mit den Verbrechen Stalins zielt auf diese ideologische Vereinnahmung. Das Leben in der Sowjetunion vor dem Überfall der Deutschen war alles andere als eine Idylle, also gerade nicht das Wahre, Gute und Schöne eines politisch verwirklichten marxistischen Humanismus. Das so zu beschreiben und für wahr zu halten, wäre blanker Zynismus.


    Aber auch Schostakowitschs Äußerung, das Marschthema verkörpere den aggressiven deutschen Faschismus, ist nicht ideologiefrei. So wurde dann diese Symphonie ja auch im Westen rezipiert, dass da der heroische Kampf des russischen Volkes gegen den deutschen Faschismus geschildert wäre. Hier klingen jedoch bei einem musikalischen Hermeneuten die Alarmglocken - der immer Eduard Hanslick im Hinterkopf behält als kritisches Korrektiv, wonach programmatische Intentionen in der Musik prinzipiell "außermusikalisch" bleiben, also lediglich äußerliche Projektionen der Deutung von Musik in die Musik hinein darstellen. Man muss das freilich nicht so reduktionistisch verstehen wie Hanslick selbst. Richtig an Hanslicks Vorbehalt bleibt aber, dass man zwischen dem eigentlichen Ausdrucksgehalt der Musik und der programmatischen Konkretisation unterscheiden können sollte. Die Musik schildert erst einmal nur den Einbruch der Gewalt in eine friedliche Idylle. Nicht mehr und nicht weniger. Warum konnte Schostakowitsch da eine Idylle musikalisch schildern, ohne unglaubwürdig zu werden? Er selber hat den stalinistischen Terror doch erlebt. Die plausibelste Erklärung ist für mich, dass hier eine Entsprechung zu Janaceks Sinfonietta vorliegt, wo Prag musikalisch beschrieben wird. Das heißt dann, dass hier St. Petersburg mit seinen Schlössern und seiner Geschichte beschrieben wird, das einfach eine herrlich schöne Stadt ist, die nun der Zerstörung anheimfällt, und nicht etwa das sowjetische Leben in der Stadt, das vor dem Krieg eben keine Idylle, sondern ein Horror war. Es ist nun natürlich so, dass die Umstände der Uraufführung im belagerten Leningrad so waren, dass die Konkretisation, den Marsch auf die deutsche Invasion zu beziehen, nahezu unausweichlich ist. Aber die lebensweltliche Realität, die damit beschrieben wird, ist der "totale Krieg" (das zynische Wort von Goebbels, mit dem er, der skrupellose Dämagoge, die für ihn dummen Nazi-Gläubigen verhöhnte), und nicht der deutsche Faschismus. Anders als große Teile Russlands war Leningrad nicht von den Deutschen besetzt, sondern wurde von ihnen belagert. Die Deutschen konnten in Leningrad also keine Juden ermodern und deportieren, wie sie es in anderen Teilen Russlands taten. Unmittelbar erfahren als lebensweltliche Realität wurde der Horror der Belagerung, also ein militärischer Horror und gerade nicht der ideologische Staatsterror als Horror des deutschen Faschismus. Man kann nun natürlich weiter gehen in der programmatischen Auslegung und sagen, dass die Symphonie eigentlich eine Auseinandersetzung des Menschen mit dem Totalitarismus als einer übermächtigen Gewalt darstellt und insofern ein großartiges Zeugnis ist, wie sich die Kunst im 20. Jhd. der Erfahrung mit dem Totalitarismus gestellt hat. Dem würde ich zustimmen - und anmerken, dass ich in dieser Hinsicht Schostakowitschs folgende 8. Symphonie für das bedeutendere Werk halte. Dann jedoch ist das Verständnis dieser Marsch-Litanei aus der 7. Schostakowitsch rein symbolisch. Die totalitäre Gewalt kann sich dann sowohl auf Hitler als auch auf Stalin als auch Xi Jingpings China beziehen. Damit entfällt letztlich die historische Konkretisierung in Bezug auf den 2. Weltkrieg als ideologielastige und Ideologie belastete Konkretisation. Wenn man nun die 7. Schostakowitsch nicht klischeehaft und nicht ideologielastig rezipieren will, ist vielleicht doch diese Abstraktion, die Schilderung des Einbruchs totalitäterer Gewalt symbolisch zu nehmen, und nicht konkretisierend auf eine historische Situation zu beziehen, der Weg, mit der man diesem Kunstwerk am ehesten gerecht wird - eben gerade heute, im Jahr 2023, mehr als 80 Jahre nach den Ereignissen und Umständen der Uraufführung.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    ich musste Deinen Beitrag jetzt zweimal lesen, bis ich ihn begriffen habe ;-) Ich finde es aber ein wenig absurd, einem historisch klar verorteten Werk wie die 7. Sinfonie seine 'Konkretisierung' zu entziehen. Gerade diese zeichnet es doch aus! Eine hermeneutische Betrachtung ist das für mich nicht mehr.


    Mich hat an dieser Symphonie immer fasziniert und vor allem irritiert, dass eine alles zerstörende Gewalt sich auf so leisen Sohlen und eher fröhlich jauchzend ankündigt. Wenn dieser Marsch ganz leise beginnt, kann man noch nicht ahnen, was er mit sich bringen wird. Das ist eben kein brutaler Überfall mit Panzern! Es ist eher so geschrieben, dass man sich frohen Mutes anschließen möchte! Das ist mein Problem mit dieser Sinfonie - und darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Grundsätzlich ziehe ich es vor, den Ausdrucksgehalt möglichst nah anhand der Noten zu beurteilen. Dabei verlasse ich mich ungern auf zweifelhafte Berichte von Zeitzeugen - wenngleich diese in einer hermeneutischen Betrachtung natürlich miteinbezogen werden sollten. Aber auch Aussagen des Urhebers/Schöpfers/Komponisten können in die Irre führen. Letztlich zählt das Werk - und nicht die Aussagen seines Schöpfers oder gar seiner Apologeten.


    Viele Grüße

    Christian

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  • Wo hörst Du denn da Panzer, Holger?
    Das Invasionsthema beginnt doch eher wie ein kleiner Trupp von Pfadfindern, die übers Land ziehen und ein Lied singen. Das dann nach und nach lauter wird - aber da haben wir die Exposition längst verlassen.

    Lieber Christian,


    nein, ich höre da keine Panzer. (Es gibt einen Filmausschnitt, wo Glenn Gould humorig über die 7. Klaviersonate von Prokofieff spricht, die er ja auch aufgenommen hat, und darüber scherzt, dass man da typisch sowjetisch die rollenden Panzer höre. ^^ ) Interessant ist, dass es (auch in der Musikpsychologie beschrieben) einen Rezeptionstyp von Musik gibt, welcher musikalische Eindrücke mit bildlichen Vorstellungen verbindet. Nachweisbar ist das schon in der empfindsamen Musikliteratur um 1800, dass man einerseits primär fühlend die Musik erfasst, aber zugleich jede Mange bildlicher Assoziationen dazu hat. Illegitim ist das nicht, wenn es eine sinnverdeutlichende Konkretisation darstellt, aber auch nicht notwendig. Man muss Musik so nicht hörend erfassen, kann es aber natürlich. Das gilt selbstverständlich auch in Bezug auf Schostakowitsch in Verbindung mit der programmatischen Intention dieser Musik.


    Deine Beschreibung mit dem Trupp Pfadfindern gefällt mir sehr gut. Ich denke da heute an die Corona-Pandemie. Anfänglich hielt man die Warnungen doch eher für lächerlich - die Infektionszahlen schienen gering, ja, eigentlich ist das so eine Art Grippe, beruhigte man sich selbst. Die Bedrohung in ihrem ganzen Ausmaß war anfänglich gar nicht begreifbar und man neigte dazu - das ist das Leben, das sich ungern in seinem gewohnten Gang stören lässt - das zu verharmlosen. Genau das kann man als Ironie bei Schostakowitsch sehen, dass er das Grauenvolle zunächst als so ein lächerliches Pfadfinderlied erscheinen lässt - hinterher steigert es sich zum Monströsen, das die Welt so radikal verändert, dass sie nicht mehr ist und nie mehr das sein wird, was sie einmal war. Diese Erfahrung beschreibt Schostakowitschs Musik finde ich großartig wie keine andere, die ich kenne.


    Davon abgesehen ziehe ich es vor, die hier aufgeworfenen Fragen anhand der Komposition zu beurteilen. Und da ist mir noch vieles unklar. Weder kann jemand die mE wichtige Frage nach dem Zitat aus der von Stalin verbotenen Oper Lady Macbeth beantworten noch wurde die Herkunft des Invasionsthemas eindeutig geklärt. Der zweite, absteigende Teil stammt von Lehár, aber der markante erste Teil klingt auch wie ein Zitat. Wurde das noch nicht identifiziert?

    Vom rezeptionsästhetischen Standpunkt aus sind das alles schwierig zu entscheidende Fragen. Auch bei Mahler gibt es autobiographisch zu deutende Zitate - so zitiert die 10. Symphonie an entscheidender Stelle die 2., die Klopstock Ode und die Melodie, die erklingt zur Zeile "sterben um zu leben". Das kann auch nur ein Hörer als Anspielung und intertextuelle reflexive Auseinandersetzung verstehen, der die 2. Symphonie im Kopf hat. Hat nun in gleicher Weise ein russischer Hörer von 1941 das "Gewaltthema" aus Lady Macbeth präsent? Und wie ist das Zitat gemeint? Wird das nur als "Vokabel" benutzt für den Ausdruck des Gewaltsamen? Oder wie anders? Alles offene Fragen. Heute ist es so, dass kaum ein Hörer Schostakowitschs Oper und kennt und also auch diese Anspielung, wenn sie denn vorhanden ist, nicht realisieren kann. Rezeptionsäthetisch betrachtet ist dieses Zitat demnach kaum relevant, auch wenn da die Musikwissenschaft etwas rekonstruieren kann. Man nimmt es dann zur Kenntnis als Leser. Man kann natürlich versuchen, Subtexte zu rekonstruieren. Aber hier würde ich sagen im Hinblick auf die dramatische Situation der Uraufführung, wo zuvor deutsche Stellungen bombadiert wurden, damit die Aufführung stattfindet: In dieser lebensbedrohlichen Atmosphäre hat ein Publikum einfach keinen oder nur sehr wenig Sinn für subtile Andeutungen und Hintergründigkeiten und nimmt die Dinge eher Schwarz und Weiß auf. Die Lehar-Parodie ist da viel entscheidender für das Verständnis finde ich, dass das Gewohnte, Vertraute, Geliebte sich plötzlich als das nackte Grauen herausstellt. Märsche sind ja nun musikhermeneutisch nicht unbedingt Militärmusik - es gibt auch die Festmärsche, "der Sommer marschiert ein". Der Kafka-Freund Max Brod hat mit Blick auf Mahlers Märsche bemerkt, dass im Judentum am Sabbat Märsche gespielt werden, sie also nicht nur bösen und düsteren Charakter haben. Mit dieser Ambivalenz spielt Schostakowitsch sicher - der Marsch als fascinosum et tremendum.


    Man hat mich einmal zu einer Tagung über musikalische Ausdrucksfragen nach München eingeladen, wo u.a. ein Musikwissenschaftler einen Vortrag über Schostakowitsch hielt. Die Musikwissenschaft heute ist längst über den Stand hinaus von vor 60 Jahren, wo es immer nur um die Frage ging: Wie verhält man sich zu Volkov? Volkovs Buch ist Geschichte. Es war ein wichtiger Anstoß für die Schostakowitsch-Rezeption, dass es nämlich das ideologische Bild vom linientreuen sowjetischen Staatskomponisten korrigiert hat. Dazu gehört auch der klägliche Versuch der Sowjetpropaganda, das Buch als Fälschung und die Gespräche als nicht stattgefunden darstellen zu wollen. Die Musikwissenchaft heute braucht sich auf Volkov gar nicht mehr zu beziehen. In dem Vortrag damals - und da gibt es eine Fülle von Literatur, welche in die Richtung geht - war das methodische Verfahren so, die Musiksprache Schostakowitschs zu analysieren, eben den Ausdruck des Verschlossenen, der nicht direkten sondern indirekten Mitteilung, die Formelhaftigkeit als Ausdruck eines Uneigentlichen, Zwanghaften und Aufgezwungenen. Dies bezieht sich dann auf das ganze Werk von Schostakowitsch. Was man da z.B. in seinen Streichquartetten nachweisen kann, findet man in der 12. Symphonie wieder. Man braucht also Volkov rein gar nicht, um zu verstehen, dass die Musik kein propagandistischer Pomp ist. Die Zeichensprache der Musik sagt eindeutig das Gegenteil.


    Schöne Grüße

    Holger

  • ich musste Deinen Beitrag jetzt zweimal lesen, bis ich ihn begriffen habe ;-) Ich finde es aber ein wenig absurd, einem historisch klar verorteten Werk wie die 7. Sinfonie seine 'Konkretisierung' zu entziehen. Gerade diese zeichnet es doch aus! Eine hermeneutische Betrachtung ist das für mich nicht mehr.

    Lieber CHristian,


    unsere Beiträge haben sich überkreuzt... Ich könnte hier etwas ironisch feststellen: Und was macht das sogenannte "Regietheater" heute anders, als dem Werk seine historische Konkretisierung zu entziehen? ^^ Programme haben doch den Sinn, ein schwer verständliches Werk und das was es aussagt dem Publikum näher zu birngen, also den Verständniszugang zu erleichtern und nicht etwa zu erschweren. Der historische Kontext ist aber zeitlich vergänglich. Insofern erfüllt das Programm diese Funktion heutzutage nicht mehr, die es einmal hatte. Daher ist es doch legitim, auch hermeneutisch einen anderen Zugang zu finden - auf einer mehr allgemeinen Ebene, die nicht in der Weise zeitgebunden ist. (Von den hermeneutischen Subtilitäten entspricht das der "Anwendung", das Historisch-Vergangene der Gegenwart verständlich zu machen, fachlich gesprochen.) Hier geht es letztlich um existenzielle Erfahrungen, die universell sind. Aus rein historischem Interesse heraus hört doch kein Mensch Musik! Dahinter steckt letztlich das verflixte Historismusproblem...

    Mich hat an dieser Symphonie immer fasziniert und vor allem irritiert, dass eine alles zerstörende Gewalt sich auf so leisen Sohlen und eher fröhlich jauchzend ankündigt. Wenn dieser Marsch ganz leise beginnt, kann man noch nicht ahnen, was er mit sich bringen wird. Das ist eben kein brutaler Überfall mit Panzern! Es ist eher so geschrieben, dass man sich frohen Mutes anschließen möchte! Das ist mein Problem mit dieser Sinfonie - und darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Grundsätzlich ziehe ich es vor, den Ausdrucksgehalt möglichst nah anhand der Noten zu beurteilen. Dabei verlasse ich mich ungern auf zweifelhafte Berichte von Zeitzeugen - wenngleich diese in einer hermeneutischen Betrachtung natürlich miteinbezogen werden sollten. Aber auch Aussagen des Urhebers/Schöpfers/Komponisten können in die Irre führen. Letztlich zählt das Werk - und nicht die Aussagen seines Schöpfers oder gar seiner Apologeten.

    Da kann man sich durchaus die Meldung vom Einfall der der Deutschen vorstellen, also ihrem Übertritt über eine Grenze, die von Leningrad zunächst noch sehr weit weg ist und dann wird der Kanonendonner immer lauter und das Gefühl der Bedrohung immer konkreter.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich könnte hier etwas ironisch feststellen: Und was macht das sogenannte "Regietheater" heute anders, als dem Werk seine historische Konkretisierung zu entziehen?

    Das halte ich allerdings nicht für vergleichbar., da einer Sinfonie die Literaturvorlage fehlt. Ich frage mich auch, um auf Deine Antwort auf meinen Beitrag zurückzukommen, woher Du die Gewissheit nimmst, das Schostakowitsch 1941 über das historische Wissen den Jahre 2023 verfügt haben sollte (selbst wenn die große Säuberung in der Ära Chrustschow aufgearbeitet worden sein mag -in welchem Umfang sei denn mal dahingestellt- so halte ich es unter Berücksichtigung seinerzeit vorhandener Kommunikationsmittel und der nach wie vor vorhanden Steuerung des Medienwesens durch die Politik für nahezu ausgeschlossen, dass Schostakowitsch diese Zeit so ähnlich genau beschrieben hätte wie Du das tatest. Eigene Erfahrungen und das Hörensagen hätten allerdings schon für eine Anti-Haltung Stalin gegenüber völlig ausgereicht.


    Es gibt zudem ja auch keine homogene Geschichtswissenschaft. Um nur ein Beispiel zu nennen: in der spanischen Geschichtswissenschaft gibt es nach wie vor zwei Erzählungen zu Al Andalus: die -nationalistische- von Eroberung und Rückeroberung (nach 700 Jahren) und die eines kulturellen Glücksfalls (wohl mehrheitlich vertreten). Zudem ist nicht jeder Akademiker und Geschichte wird in den Nationen immer aus Sicht der jeweiligen Länder erzählt. Auch dehalb können wir das Werk nicht einfach so aus der Perspektive des Jahres 2023 und der des westlichen Kulturkreises kommentieren.


    Ob das Russland des Jahres 1941 eine Idylle war oder nicht spielt für den Zusammenhang der Sinfonie keine Violine. Hier wird der sozialistische Realismus plakativ in Noten gesetzt. Alles Andere hätte angesichts von Bedrohung auch keinen Sinn gemacht, wenn man das Volk zu Zusammenhalt und Widerstand gegen den Feind motivieren will. Schostakowitsh hat zur Zeit der Entstehung der Sinfonie sich öffentlich und im Film eindeutig geäußert. Ob er sich rückwirkend später anders interpretiert und anders einordnet ist da eher unerheblich, zumal auchnicht in der Form dokumentiert wie Aussage eins, oder, um ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Ernst Gombricht zu zitieren: "Glauben Sie nicht den Selbstaussagen von Künstlern".


    Und nochmal: für eine ideologiekritische Aussage ist Nr. 7 viel zu plakativ.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Die Musikwissenschaft heute ist längst über den Stand hinaus von vor 60 Jahren, wo es immer nur um die Frage ging: Wie verhält man sich zu Volkov? Volkovs Buch ist Geschichte. Es war ein wichtiger Anstoß für die Schostakowitsch-Rezeption, dass es nämlich das ideologische Bild vom linientreuen sowjetischen Staatskomponisten korrigiert hat. Dazu gehört auch der klägliche Versuch der Sowjetpropaganda, das Buch als Fälschung und die Gespräche als nicht stattgefunden darstellen zu wollen. Die Musikwissenchaft heute braucht sich auf Volkov gar nicht mehr zu beziehen. In dem Vortrag damals - und da gibt es eine Fülle von Literatur, welche in die Richtung geht - war das methodische Verfahren so, die Musiksprache Schostakowitschs zu analysieren, eben den Ausdruck des Verschlossenen, der nicht direkten sondern indirekten Mitteilung, die Formelhaftigkeit als Ausdruck eines Uneigentlichen, Zwanghaften und Aufgezwungenen. Dies bezieht sich dann auf das ganze Werk von Schostakowitsch. Was man da z.B. in seinen Streichquartetten nachweisen kann, findet man in der 12. Symphonie wieder. Man braucht also Volkov rein gar nicht, um zu verstehen, dass die Musik kein propagandistischer Pomp ist. Die Zeichensprache der Musik sagt eindeutig das Gegenteil.

    Wolkows Buch erschien 1979, mithin vor 44 Jahren. Vor 60 Jahren hat man sich also wohl kaum mit der Frage beschäftigt, wie man sich zu ihm verhält. Der "klägliche Versuch", es als Fälschung zu entlarven, hätte von Wolkow jederzeit und mit Leichtigkeit beendet werden können, indem er die von Schostakowitsch gezeichneten Gesprächsprotokolle, die er doch angeblich in den Westen geschmuggelt hatte und auf denen sein Buch beruhen soll, zugänglich machte. Das hat er bis heute und ohne jede Begründung nie getan, und dafür gibt es nur eine plausible Erklärung: Die Protokolle existieren nicht. Die von Wolkow geschilderten Umstände ihrer Entstehung vom Ort der Gespräche in Schostakowitschs Wohnhaus, ohne dass die Ehefrau davon etwas mitbekommen haben soll, bis zur vollkommen unplausiblen handschriftlichen Beglaubigung höchst gefährlicher Texte durch Schostakowitsch lassen nur denselben Schluss zu. Und warum hätte Wolkow überhaupt diese Protokolle handschrifltich bestätigen lassen sollen, wenn er sie sowieso nicht veröffentlichen wollte? In einem Brief (also nicht etwa bei einem öffentlichen Anlass wie einem Komponistenkongress) hat Schostakowitsch genau zu der Zeit, in der angeblich die Gespräche mit Wolkow stattgefunden haben, die gegenteilige Deutung der "Invasionsepisode" bestätigt. Wo und mit welchen kompositorischen Mitteln in der 12. Symphonie etwas anderes als propagandistischer Pomp ausgedrückt ist, zeigst Du nicht an der Partitur sondern behauptest es einfach. Das angebliche Zitat aus "Lady Macbeth" kannst Du nicht belegen, argumentierst aber damit, als sei es eine feststehende Tatsache.

    Was bleibt da noch übrig?


    Das war also staatlich organisierter Massenmord von Millionen von Menschen nicht anders als der Terror in Nazideutschland, der in der millionenfachen Ermordnung von Juden, Roma und politischen Häftlingen endete.

    Du hast einen entscheidenden Unterschied übersehen: Der "Terror in Nazideutschland" fand in ganz Europa statt, die mit weitem Abstand meisten Opfer gab es in der überfallenen Sowjetunion. Auch wenn es Dir nicht in den Kopf geht: Im Sommer 1941 trat der "Große Terror" von 1936/38 vollkommen hinter das gemeinsame Ziel des Überlebens der eigenen Nation zurück, bei Schostakowitsch nicht anders als bei der überwältigenden Zahl seiner Landsleute. Hierzulande erhebt man sich, statt mit der ungeheuren Zahl von 27 Millionen Opfern und der eigenen historischen Schuld konfrontiert zu werden, lieber über "Putins Russland", rümpft die Nase über das alljährliche historische Gedenken an den Sieg im "Großen vaterländischen Krieg" und erklärt alle Kulturschaffenden, die man für bedeutend hält, zu offenen oder heimlichen Dissidenten. Wolkows Leistung besteht darin, auf dieser Klaviatur der westlichen Wünsche im Kalten Krieg brillant gespielt zu haben. Plötzlich hat Hitler in Leningrad keinen Völkermord vollzogen sondern "nur den Schlusspunkt" gesetzt, und das sagt auch noch ein Russe! Das ist einfach zu schön, um wahr zu sein.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das halte ich allerdings nicht für vergleichbar., da einer Sinfonie die Literaturvorlage fehlt.

    Hermeneutisch gibt es das Problem des Sinnverstehens, das einen Zeitabstand überbrücken muss. Und der ist im Prinzip immer gegeben. Das Problem stellt sich insbesondere bei Kunst und Musik, die nicht mythisch zeitenthoben ist, sondern einen konkreten historischen Bezug hat. Und den hat diese Symphonie, lieber Thomas.

    Ich frage mich auch, um auf Deine Antwort auf meinen Beitrag zurückzukommen, woher Du die Gewissheit nimmst, das Schostakowitsch 1941 über das historische Wissen den Jahre 2023 verfügt haben sollte (selbst wenn die große Säuberung in der Ära Chrustschow aufgearbeitet worden sein mag -in welchem Umfang sei denn mal dahingestellt- so halte ich es unter Berücksichtigung seinerzeit vorhandener Kommunikationsmittel und der nach wie vor vorhanden Steuerung des Medienwesens durch die Politik für nahezu ausgeschlossen, dass Schostakowitsch diese Zeit so ähnlich genau beschrieben hätte wie Du das tatest. Eigene Erfahrungen und das Hörensagen hätten allerdings schon für eine Anti-Haltung Stalin gegenüber völlig ausgereicht.

    Wie kommst Du zu der seltsamen Ansicht, dass in Russland Niemand das Verschwinden von Millionen von Menschen bemerkt hätte und das eine Entdeckung von Historikern wäre? Dann wäre das Leben in Russland damals wirklich eine Idylle gewesen, ein Leben ohne Angst. =O Die Folgen der stalinistischen Säuberungen waren tatsächlich aber so drastisch spürbar, dass Stalin 1939 gezwungen war, seine Tötungsmaschinerie einige Gänge zurückzufahren, damit nicht die komplette staatliche Organisation lahm gelegt wurde:


    https://de.wikipedia.org/wiki/Stalinsche_S%C3%A4uberungen


    Im sogenannten Großen Terror von 1936 bis 1938, auch als „Große Säuberung“ bezeichnet, erreichten die politischen Säuberungen ihren Höhepunkt: In dieser Zeit wurden jeden Tag etwa 1000 Menschen ermordet. Dieser stetige Verlust an Funktionsträgern begann die elementaren Funktionen von Partei, Verwaltung und Armee zu gefährden. So waren in manchen Gebieten sämtliche Parteifunktionäre der KPdSU verhaftet worden. Daher wurde die Intensität der Verfolgung 1938 auf Befehl Stalins reduziert, ohne jedoch eingestellt zu werden


    Ob das Russland des Jahres 1941 eine Idylle war oder nicht spielt für den Zusammenhang der Sinfonie keine Violine. Hier wird der sozialistische Realismus plakativ in Noten gesetzt. Alles Andere hätte angesichts von Bedrohung auch keinen Sinn gemacht, wenn man das Volk zu Zusammenhalt und Widerstand gegen den Feind motivieren will.

    Diese Intention ist aber nunmal keine originär künstlerische, sondern nun wirklich "außermusikalisch". Künstlerisch betrachtet ist das eine Dramatisierung und keine einfache Schilderung einer Realität. Der Gegensatz von Krieg und Frieden, der Einbruch kriegerischer Gewalt lässt sich natürlich gut in der "Durchführung" musikalisch-dramatisch darstellen dadurch, dass die Exposition im Kontrast dazu eine Idylle ist. Das ist Schostakowitsch zweifellos sehr eindrucksvoll gelungen. Die völlig desillusionierte 8. Symphonie, die auch eine Kriegssymphonie ist, ist in dieser Hinsicht allerdings viel "realistischer" und näher bei dem, was tatsächlich erlebt wurde. Erlebt und erlitten wurde die deutsche Belagung - das Leben vorher ist da doch weit weg. Man ist ganz eingenommen vom Horror der Gegenwart. Es ist das Kunstwerk, hier die 7. Symphonie, die ein ziemlich fiktives Bild von dem zeichnet, was früher einmal war, was im täglichen Erleben gar nicht mehr präsent ist.

    Schostakowitsh hat zur Zeit der Entstehung der Sinfonie sich öffentlich und im Film eindeutig geäußert. Ob er sich rückwirkend später anders interpretiert und anders einordnet ist da eher unerheblich, zumal auchnicht in der Form dokumentiert wie Aussage eins, oder, um ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Ernst Gombricht zu zitieren: "Glauben Sie nicht den Selbstaussagen von Künstlern".

    Ich habe mich bemüht, weil ich das Wolkow-Buch nicht habe, mal die originale Stelle bei Wolkow auszumachen. Und ich habe sie gefunden. Wenn man das Zitat nicht aus dem Zusammenhang reißt wie hier in der Diskussion geschehen, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild. Es ist schon befremdlich und geschmacklos, was hier alles spekulativ behauptet wurde und Wolkow angedichtet wurde, weil man den Text nicht kennt, der nun wirklich völlig authentisch wirkt.


    Wolkow heißt mit vollem Namen Solomon Moiseewitsch Wolkow - schon am Namen erkennt man, dass er Jude ist. Ihm ausgerechnet zu unterstellen, dass er die Verbrechen Hitlers relativieren wolle, ist allein von daher haarsträubend. Die ganze Aufregung um sein Buch ist durch eine leicht durchschaubare Politisierung hervorgerufen. Die berühmten Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner gelten allgemein als authentische Quelle, um Mahler zu verstehen. Dabei ist nicht ein einziges Wort daraus tatsächlich belegbar, dass es Mahler genau so gesagt hat. Bei Wolkow spekuliert man dagegen, nur weil es ein Politikum ist. Wolkow verließ 1976 die Sowjetunion und emigrierte in die USA. Sein Buch ist dort erschienen - und nicht etwa in Russland. Sein komplettes Archiv musste er in Russland zurücklassen - er konnte darüber also gar nicht mehr verfügen. Wahrscheinlich wurde es von den Sowjets vernichtet. Die Leute, die partout Wolkow etwas ans Zeug flicken wollen, picken sich dann selektiv Dinge heraus und verschweigen andere. So hatte Schostakowitschs letzte, seine 3. Ehefrau, Zweifel und schrieb, Wolkow habe ja nur 4 mal sie zuhause besucht. Verschwiegen wird dabei, dass Wolkow bis dahin eine 15 (!) Jahre andauernde professionelle Beziehung zu Schostakowitsch hatte. Schostakowitsch hat sogar ein Vorwort zu einem von Wolkows Büchern geschrieben. Und auch wird verschwiegen, dass Schostakowitschs Witwe mit dieser Meinung in der Schostakowitsch-Familie heute völlig isoliert darstellt. Alle anderen Mitglieder - gerade die, welche weitaus länger mit Schostakowitsch zusammenlebten als sie - halten Wolkows Buch für authentisch. Schostakowitschs Tochter Galina, die Schwester von Maxim, schreibt 1995:


    "Ich bin ein Bewunderer von Wolkow. Da ist nichts Falsches [in Wolkows Buch]. Der Sprechstil ist definitiv der von Schostakowitsch - nicht nur die Wortwahl, sondern auch die Art und Weise, wie sie zusammengesetzt sind."


    Man kann auch Wolkow nicht andichten, dass er Schostakowitsch zum Dissidenten hätte stilisieren wollen, um die Bedürfnisse des Westens zu befriedigen. 1995, in einem Interview mit dem Musikwissenschaftler Günther Wolter, sagte Wolkow:


    „Heutzutage sagt jeder, o ja, natürlich, wir sahen Schostakowitsch immer als eine Art von geheimem Dissidenten an, was wiederum auch nicht zutrifft. Schostakowitsch dem Lager der Dissidenten zuzuordnen, wäre genauso falsch, wie ihn als Parteigänger Stalins und der späteren offiziellen Sowjetbürokratie zu bezeichnen.“


    Hier die Stelle zur 7. Symphonie im Kontext aus Wolkows Buch:


    "Es ist traurig, darüber zu sprechen, aber nötig, weil ich bei der Wahrheit bleiben will. Und die Wahrheit ist: Der Krieg hat mir geholfen.

    Der Krieg brachte unsagbares Leid und Elend. Das Leben wurde sehr, sehr schwer. Es gab unendlich viel Kummer, unendlich viel Tränen. Doch vor dem Krieg war es noch schwerer, weil jeder mit seinem Leid allein war.


    Schon vor dem Krieg gab es in Leningrad sicherlich kaum eine Familie ohne Verluste: der Vater, der Sohn, ein naher Freund. Jeder hatte um jemanden zu weinen. Aber man mußte leise weinen, unter der Bettdecke. Jeder fürchtete jeden. Der Kummer erdrückte, erstickte uns.

    Er würgte alle, auch mich. Ich mußte ihn in Musik umsetzen. Ich empfand das als meine Pflicht und Schuldigkeit. Ich mußte ein Requiem schreiben für alle Umgekommenen, für alle Gequälten. Ich mußte die furchtbare Vernichtungsmaschinerie schildern und den Protest gegen sie zum Ausdruck bringen.


    Aber wie? Argwohn umgab mich, wo ich ging und stand. Die Kritiker rechneten aus, wie viele meiner Symphonien in Dur und wie viele in Moll geschrieben waren. Auch das war niederdrückend, lähmend. Da kam der Krieg. Der heimliche, der isolierte Kummer wurde zum Kummer aller. Man durfte über ihn sprechen, man konnte offen weinen, offen die Toten beklagen.


    Nach und nach gewöhnte man sich daran, seinen Kummer zu äußern. Desto schwerer traf es uns, als sich dies nach dem Krieg sehr schnell wieder änderte. Damals legte ich eine Reihe großer Arbeiten in den Schreibtisch, dort blieben sie lange Jahre liegen.

    Nicht nur ich verdankte dem Krieg die Möglichkeit, mich auszusprechen. Alle empfanden so. Das geistige Leben, das vor dem Krieg völlig verdorrt war, erblühte neu, voll und dicht. Alles gewann an Schärfe, an Deutlichkeit, an Sinn.


    Mit der Siebten begann ich wieder zu leben. Sie entstand im Krieg, als man wieder miteinander sprechen konnte. Die Siebte Symphonie ist wohl mein populärstes Werk geworden. Mich kränkt dabei nur, daß die Zuhörer sie nicht immer richtig verstehen: Die Siebte und die Achte sind mein »Requiem«.


    Meine Siebte, die Leningrader Symphonie, schrieb ich rasch. Ringsum war Krieg, ich wollte das Bild unseres kämpfenden Landes in Musik festhalten. Schon in den ersten Kriegstagen setzte ich mich ans Klavier und fing an zu arbeiten. Ich schrieb über meine Zeitgenossen, die Kraft und Leben einsetzten für den Sieg über den Feind.


    Mit Gedanken an die Siebte beschäftigte ich mich aber schon vor dem Krieg. Sie war daher nicht das bloße Echo auf Hitlers Überfall. Man betrachtet die Vorkriegszeit heute gern als Idylle. Alles war schön und gut, bis Hitler kam. Hitler war ein Verbrecher. ohne Zweifel. Aber auch Stalin war ein Verbrecher.


    Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Geheiß Ermordeten. Ich traure um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe dei Krieg gegen Hitler begonnen hatte.


    Ich habe nichts dagegen einzuwenden, daß man die Siebte die »Leningrader« Symphonie nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hat, Hitler setzte nur den Schlußpunkt.


    Die meisten meiner Symphonien sind Grabdenkmäler. Zu viele unserer Landsleute kamen an unbekannten Orten um. Niemand weiß, wo sie begraben liegen, nicht einmal ihre Angehörigen. Wo soll man ihnen ein Denkmal setzen? Man kann es in der Musik. Ich würde gem für jeden Umgekommenen ein Stück schreiben. Doch das ist unmöglich. Darum widme ich ihnen allen meine gesamte Musik.


    Später wurde alles Elend dem Krieg zugeschrieben. Als ob nur im Krieg Menschen gefoltert und getötet worden wären. So gelten die Siebte und die Achte bis heute als »Kriegssymphonien.


    Ich will hier nicht das Brimborium um diese beiden Symphonien schildern. Anfangs schien sich alles ganz manierlich zu entwickeln. Doch dann fiel mir auf: zu viele Zeitungsartikel, zuviel Lärm. Ich wurde zum Symbol hochstilisiert. »Schostakowitschs Symphonie« wurde landauf, landab an allen Ecken und Enden aufgeführt, wo es paßte und wo es nicht paßte.


    »Jeder Brief aus Amerika kam einem Todesurteil gleich,«


    Das war mir nicht nur unangenehm, es beängstigte mich. Ganz besonders, als das Getöse dann auch im Westen losging. Ich bin davon überzeugt, dieser Klamauk diente einem ganz bestimmten politischen Ziel. Natürlich freute ich mich, daß meine Musik im Westen gespielt wurde. Aber es wäre mir sehr viel lieber gewesen, wenn man dort mehr über meine Musik und weniger über die Dinge am Rande gesprochen hätte."


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Ich habe mich bemüht, weil ich das Wolkow-Buch nicht habe, mal die originale Stelle bei Wolkow auszumachen. Und ich habe sie gefunden. Wenn man das Zitat nicht aus dem Zusammenhang reißt wie hier in der Diskussion geschehen, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild. Es ist schon befremdlich und geschmacklos, was hier alles spekulativ behauptet wurde und Wolkow angedichtet wurde, weil man den Text nicht kennt, der nun wirklich völlig authentisch wirkt.

    Das "völlig andere Bild" ist: Schostakowitsch hat laut Märchenonkel Wolkow den Überfall der Deutschen und den vom ersten Tag an stattfindenden Massenmord nicht nur für eine Nebensächlichkeit (oder mit Deinen Worten: einen "ephemeren Anlass") gehalten sondern hat sich darüber sogar gefreut, weil es ihm "geholfen" habe. Das klingt in Deinen Ohren natürlich "völlig authentisch". Etwas anderes hätte ich nicht erwartet. Und ich wundere mich auch nicht mehr, dass Du die ganze Zeit über ein Buch schreibst, das Du gar nicht kennst.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Zitat von ChKöhn

    dass Du die ganze Zeit über ein Buch schreibst, das Du gar nicht kennst.

    Hallo ChKöhn, welches Buch würdest du denn empfehlen?


    Ich habe 3 gelesen!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Hallo ChKöhn, welches Buch würdest du denn empfehlen?

    Als Biographie und für einen Überblick über das Werk empfehle ich das Buch von Krzysztof Meyer, in englischer Sprache "Shostakovich, A life" von Laurel Fay. Zum Thema der Symphonien den Sammelband "Zwischen Bekenntnis und Verweigerung, Schostakowitsch und die Sinfonie im 20. Jahrhundert", und für diverse Einzelaspekte die Reihe "Schostakowitsch-Studien" (letztere nicht, weil ich allem zustimme, was da steht, sondern weil die Texte oft anregen, auch zum Widerspruch). Mindestens genauso wichtig finde ich aber Bücher über die Geschichte Russlands und der Sowjetunion, z.B. von Orlando Figes, Jörg Barberowski (bei beiden Autoren hatte ich sowohl Einwände als auch großen Gewinn), Gerd Koenen ("Utopie der Säuberung", "Der Russland-Komplex" und "Die Farbe Rot"). Und wenn man verstehen will, mit welchen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft der Kommunismus trotz allem verbunden und wie schwer die Spannung zur Realität auszuhalten war, gibt es für mich kaum Bewegenderes als Panait Istratis "Auf falscher Bahn" (eine Empfehlung, die ich Werner Hintze verdanke). Die Finger lassen würde ich von allem, was auf Wolkow basiert, schon weil die Verwendung einer dubiosen Quelle mit nicht belegter Echtheit und wissenschaftliches Arbeiten einander ausschließen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das "völlig andere Bild" ist: Schostakowitsch hat laut Märchenonkel Wolkow den Überfall der Deutschen und den vom ersten Tag an stattfindenden Massenmord nicht nur für eine Nebensächlichkeit (oder mit Deinen Worten: einen "ephemeren Anlass") gehalten sondern hat sich darüber sogar gefreut, weil es ihm "geholfen" habe. Das klingt in Deinen Ohren natürlich "völlig authentisch". Etwas anderes hätte ich nicht erwartet. Und ich wundere mich auch nicht mehr, dass Du die ganze Zeit über ein Buch schreibst, das Du gar nicht kennst.

    Wenn das die Qualität ist, wie Du auch musikalische Texte "interpretierst", na dann. Jeder Gymnasiast und Erstsemester im Studium kann hier besser lesen.

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  • Apropos "wissenschaftliches Arbeiten":


    Hier eine Rezension von Gerd Koenen Utopie der Säuberung. Zitate daraus:


    "Erkenntlich ist, daß das Anliegen des Autors weder wissenschaftliche Ausgewogenheit noch die Erschließung neuer Fakten, noch historiographischer Neuwert ist. Der Verzicht, Angaben und Zitate mit Quellenherkunft zu belegen, erweist sich wie in anderen Fällen als ungünstig. Zumindest ist ein - etwas schmalbrüstig geratenes - Literaturverzeichnis vorhanden. Sicher ist zugute zu halten, daß der Verfasser das Buch als Essay darreicht."


    Das Fazit der Rezension:


    "Eine klare Antwort auf Koenens selbst gestellte Frage, warum der Kommunismus jahrzehntelang als attraktiv galt, bleibt aus. Seine verschieden variierte Leitformel, Kommunismus sei die „Utopie einer radikalen Säuberung“, geht insgesamt nicht auf."


    https://berlingeschichte.de/lesezei/blz99_02/text35.htm

  • Das Fazit der Rezension:


    "Eine klare Antwort auf Koenens selbst gestellte Frage, warum der Kommunismus jahrzehntelang als attraktiv galt, bleibt aus. Seine verschieden variierte Leitformel, Kommunismus sei die „Utopie einer radikalen Säuberung“, geht insgesamt nicht auf."

    Das ist ja ein Glücksfall für Dich: Jetzt kannst über ein weiteres Buch schreiben, ohne Dir diese lästige Mühe machen zu müssen, es zu lesen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Man sieht, was dabei herauskommt, wenn die Philosophie als Mittel zum Zweck der Beurteilung eines musikalischen Werkes herauskommt. 3 Mann, 5 Meinungen (übertrieben).

    Als normaler Sinfoniebesucher ohne philosophische Hintergedanken betrachte ich Schostakowitschs 7. einfach als sinfonische Dichtung mit Inhaltsangabe, und das in der Struktur einer Sinfonie. Ich höre im 1. Satz ganz deutlich den Marschrhythmus als Zeichen der sich nähenden Gefahr (im Vergleich wie der Marschrhythmus in den Pinien von Rom), der schließlich im Grauen der Belagerung mit Tausenden Toten endet, mit Hunger bis zum Kannibalismus, Durst, Frieren usw. So will ich die Sinfonie verstanden wissen, und mir ist egal, was die Theoretiker sagen. Das Jubel im Finale des 4. Satzes ist für mich der optimistische Vorausblick auf das Ende des Großen Vaterländischen Krieges nach der Befreiung Leningrads.

    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Der "OTZ" konnte ich heute entnehmen, daß vom 15.05. bis 01.06.2025 anläßlich des 50. Todestages von Schostakowitsch in Leipzig ein Gedenkfestival stattfindet. Vom Gewandhausorchester und dem Boston-Sinfonieorchester sowie einem nicht genannten Orchester werden sämtliche Sinfonien und Instrumentalkonzerte interpretiert.

    Die Dirigenten Andris Nelsons und Anna Rakitina stellen am 24.10.2023 das Programm und das Festivalkonzept vor.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.