Mit der Idee zu diesem Thread gehe ich schon eine ganze Weile schwanger. Immer wieder lese ich in diesem Forum abfällige Bemerkungen über „die Avantgarde“ - ein Begriff, der offenbar für viele ein Feindbild darstellt. Gemeint sind hier wohl Musikrichtungen ab Beginn des 20. Jahrhunderts wie atonale Musik, Expressionismus, Zwölftonmusik, serielle Musik, Aleatorik, Klangflächenkompositionen und so manche andere Richtung, deren Gemeinsamkeit vor allem darin bestehen dürfte, sich von der tonalen Tradition der westlichen Musik abgewandt zu haben und die deswegen von vielen Taminos als „ungenießbar“ betrachtet wird. Wenn Musik des 20. und 21. Jahrhunderts lobend erwähnt wird, dann meist solche Werke, die sich einer traditionellen Klangsprache bedienen und die, wie es dann oft heißt, „zum Glück“ von der seriellen Musik o.ä. unbeeinflusst geblieben sind. Die „Avantgarde“ hingegen ist Musik, die sich dem Publikum entfremdet hat, die für Experten oder einen kleinen Zirkel von Eingeweihten komponiert ist, mathematisch konstruierte statt inspirierte Musik, Musik für den Verstand und nicht das Gefühl, Musik ohne Melodien, Geräusch, Nichtmusik, kurz: keine schöne, sondern hässliche Musik, deren Hören keinen Genuss darstellt, sondern Widerwillen hervorruft und nur mit Anstrengung zu ertragen ist. So oder so ähnlich lauten viele Urteile – oder sind es bloß Vorurteile, die mangels Kenntnis vieler dieser Werke getroffen werden und mangels Bereitschaft, sich auf diese Musik einzulassen? Erst kürzlich hat Tamino-Freund lutgra, der sich sehr für Musik der Moderne und Gegenwart engagiert (wenn auch weniger für die hier angesprochene), einen neuen Konzertführer durch das 20. Jahrhundert vorgestellt, der den vielsagenden Titel „Surprised by Beauty“ trägt. Das soll wohl heißen: Im 20. Jahrhundert wurde nicht nur hässliche Musik (= Avantgarde) geschrieben, sondern – überraschenderweise – auch Schönes…
Demgegenüber will ich hier den Nachweis versuchen, dass die vielgeschmähte „Avantgarde“ sehr wohl auch (wenn auch sicher nicht nur) Werke hervorgebracht hat, die „schön“ sind, denen zuzuhören einen Genuss bedeutet (auch wenn der vielleicht erarbeitet sein will), dass es auch hier Musik gibt, die das Gefühl und nicht nur den Verstand anspricht. Ob es sich dabei um Ausnahmen handelt, ist eine andere Frage, die vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden kann. Dabei bin ich mir der Tatsache bewusst, dass Schönheit etwas Subjektives ist. Was ich als schön oder ergreifend empfinde, mögen andere als nahezu unerträglich empfinden. Wenn etwa kürzlich in der „Was hört Ihr gerade jetzt?“-Rubrik das Anhören einer Platte u.a. mit Alban Bergs Violinkonzert als „Selbstkasteiung“ beschrieben wurde, dann beginne ich augenblicklich am Sinn meines Vorhabens zu zweifeln. Denn dieses Werk hätte ich hier nicht einmal erwähnt, weil für mich ganz außer Frage steht, dass es sich dabei um eines der ergreifendsten und traurig-schönsten Musikstücke handelt, die je geschrieben wurden. Dennoch werde ich den Versuch machen und hoffe dabei auf Unterstützung von anderen Liebhabern Neuer Musik. Denn erstens höre ich diese auch nicht jeden Tag und werde daher höchstens in größeren Abständen hier etwas einstellen können. Und zweitens bin ich alles andere als ein Experte in diesem Sektor. Die Zweite Wiener Schule kenne ich noch ganz gut, daher werden sicher viele Beispiele von der Heiligen Dreifaltigkeit Schönberg, Berg und Webern stammen. Bei Nachfolgern wie den Serialisten und bei Parallelentwicklungen ist meine Kenntnis allerdings sehr lückenhaft.
Ein das Thema besser treffender Titel wäre sicherlich "Schönheit in der Avantgarde" gewesen, aber der gewählte Titel ist griffiger und auch provozierender, was durchaus in meiner Absicht lag...