Der Sinn der echten Hosenrolle - ich meine also nicht die Ersatzlösung Frau anstelle Kastrat bzw. Countertenor - erschließt sich mir nicht wirklich, außer, man unterstellte ggfs. eine erotische und verwirrende Wirkung auf diesbezüglich empfängliche Herren
Natürlich mag das Publikum verschiedene Gründe haben, eine Hosenrolle ansprechend zu finden. Sicher wird es genügend geben, die es lustig oder auch aufregend finden, aber was spricht dagegen? Es gibt auch genügend Leute, die bestimmte Sänger toll finden und sich freuen, wenn er fesche Kostüme anhat, und andere, die Sängerinnen gerne in Korsagen und tiefem Ausschnitt sehen. Der erotische Reiz einer Hosenrolle liegt vielleicht auch darin, dass eine Sängerin hier nicht versucht, weibliche Reize aktiv (oder gar aggressiv) zur Schau zu stellen, sondern umgekehrt diese möglichst zu verstecken, so dass es dann umso stärker wirkt, wenn doch mal etwas davon aufblitzt.
Aber die Frage nach dem Sinn war vermutlich aus künstlerischer Sicht gestellt: was bringt es einem Werk, wenn eine Hosenrolle vorkommt?
Ich denke, dass es da auch verschiedene Gründe geben könnte.
Bestimmte Kinderrollen wie der Hänsel wurden garantiert für Frauen geschrieben, weil die Figur noch ihre kindliche Stimme hat (Bart Simpson wird auch von einer Frau gesprochen), zum anderen aber auch deswegen, weil die Partie eine ausgebildete, erwachsene Lunge verlangt, immerhin muss hier ein Wagnerorchester übertönt werden.
Bei Theaterstücken, beispielsweise dem "Peter Pan" von J. M. Barrie, ist es normalerweise auch so, dass die Titelfigur von einer Darstellerin gespielt wird; Barrie selbst hat sogar eine junge Frau für die Verfilmung von 1924 ausgewählt. Leider wird die Figur heute immer öfter von erwachsenen Männern gespielt, was einfach nicht passt: das kantige Gesicht, die tiefe Männerstimme, die zu große Figur. Barrie schreibt, dass Peter Pan noch seine Milchzähne hat, was mir bei einem erwachsenen Mann noch viel unglaubwürdiger vorkommt.
Bei Beaumarchais´ Theaterstück "Die Hochzeit des Figaro" schreibt der Autor selbst über Cherubino:
ZitatDiese Rolle kann nur von einer jungen, sehr hübschen Frau gespielt werden, da wir an unseren Theatern keine wirklich jungen Männer haben, die ihre Feinheiten spüren. Äußerst schüchtern vor der Gräfin, ist er überall sonst ein charmanter Schlingel; der Grundzug seines Wesens ist ein unbetimmtes, unruhiges Sehnen. Er stürzt sich planlos, kenntnislos in die Männlichkeit und gibt sich voll jedem Erlebnis hin.
Vielleicht wollten Beaumarchais/Mozart und Barrie ihren Cherubino und Peter Pan anders darstellen als die "echten" Männer auf der Bühne, vielleicht zarter, geschmeidiger, "engelhafter", weicher, anmutiger, je nachdem.
Es ging also vielleicht in manchen Fällen auch um eine bestimmte Ästhetik oder Ausstrahlung, die eine Figur haben sollte, um eine bestimmte Art sich zu bewegen, die sich von den anderen Männerfiguren unterscheiden soll.
Oder aber es ging um stimmliche Überlegungen; ich las einmal, dass manche männliche "Liebhaber" vom Komponisten deswegen als Hosenrolle konzipiert wurden, weil sich die Frauenstimme noch mehr mit den anderen weiblichen Stimmen mischt, so dass da irgendwie künstlerisch zum Ausdruck gebracht wird, wie eng zwei Figuren zusammengehören. Auch das scheint mir einleuchtend, gibt es doch auch im Orchester Stellen, wo zwei Instrumente sich "ineinander verschlingen" und so vermischen, dass man nicht mehr zwei unterschiedliche Instrumente, sondern EINEN neuen Mischklang hört.
(Natürlich können - je nach Stück und Rolle - auch mehrere oder alle der o.g. Punkte gleichzeitig eine Rolle spielen.)
So oder so: ich denke, ein Komponist (oder Autor von Theaterstücken) weiß schon ganz genau, was er tut, und wie und warum er welche Rollen mit wem besetzt, so wie er sich auch darüber Gedanken macht, ob eine Figur von einem Bass, einem Bariton, einem Sopran oder einem Alt singen lassen sollte.
Welche Funktion hat auf den Threadtitel bezogen eigentlich Mozarts Cherubino? Eine Hosenrolle - also eine Frau in Männerklamotten... und das zu einer Zeit, als Castraten durchaus noch aktiv waren (allerdings weniger genutzt wurden, was ich auf deren Zickigkeit zurückführe - beim Tito hat Mozart IMO den Sesto zunächst als Kastratenrolle konzipiert, gesungen wurde er dann von einer Frau...).
Dazu habe ich ja jetzt einiges gesagt, aber speziell beim Cherubino sollte es auch eine Frau sein, weil es ein paar Sätze gibt, die ich als kleinen Wink ans Publikum sehe. Susanna meint da sowohl bei Beaumarchais als auch bei Mozart, dass Cherubino viel weissere Haut hat als sie, und sie ganz eifersüchtig ist auf ihn.
Der "Witz" ist hier natürlich, dass die Figur Susanna einen echten Burschen vor sich hat und sich wundert, warum er so überzeugend weiblich wirkt - WIR, das Publikum, wissen natürlich, warum er das tut, denn er wird ja von einer echten Frau gespielt.
Wenn Cherubino nun von einem Mann gespielt wird - egal ob von einem Kastraten oder sonst wem - dann funktioniert der Effekt, der Witz nicht mehr, denn ein Mann in Frauenkleidern wirkt komisch. Genau das soll die Figur aber nicht! Sie soll überzeugend weiblich wirken und auch verkleidet sehr schön sein, und NICHT komisch oder seltsam. Der Witz, dass Susanna eifersüchtig auf "ihn" ist, geht dann verloren, denn wenn man Cherubino in Frauenkleidern komisch findet, dann wird man vermutlich auch Susannas Kommentar falsch deuten.
LG,
Hosenrolle1