Mit diesem Thread möchte ich eine Lanze brechen für einen der im Westen am sträflichsten vernachlässigten russischen Musiker:
Jewgenij Swetlanow
(Es gibt auch Transkriptionen, die ihn Evgeny Svetlanov und ähnlich schreiben; über Transkriptionen des Kyrillischen Alphabets gebe ich gerne privat Auskunft, ich will niemanden langweilen, der sich dafür weniger interessiert.)
Swetlanow wurde am 6. September 1928 in Moskau geboren und starb in der Russischen Hauptstadt in der Nacht von 3. auf 4. Mai 2002. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war der Schüler des legendären Alexander Gauk Leiter des Bolschoj-Theaters und Chefdirigent des Staatlichen Symphonieorchesters der UdSSR. Auf dem Tiefpunkt wurde er von Putins Kulturminister Schwidkoj mit allen Ehren in Pension geschickt, was einer Entlassung und Kaltstellung in den GUS-Staaten gleichkam.
Swetlanow konzentrierte sich danach auf Konzerte in Frankreich und in Großbritannien. Aber im Grunde war er ein gebrochener Mann.
Ich will mich nicht weiter mit biografischen Details aufhalten, sondern eine Interpretation dieses Musikers versuchen.
Dazu muss ich gleich an den Anfang aus Gründen der Ehrlichkeit setzen: Swetlanow war ohne Zweifel ein Mann der KPdSU.
Nun sind wir gewohnt, bei außerordentlichen musikalischen Leistungen ein bis beide Auge(n) zuzudrücken, wenn es sich um Musiker handelt, die der NSDAP angehört hatten oder zumindest nahegestanden sind, man denke nur an Elly Ney, Böhm, Karajan, Clemens Krauss etc. Die Entschuldigung lautet dann mehr oder weniger differenziert: "Was hätten sie denn tun sollen?"
Um dieses "Was hätte er denn tun sollen?" bitte ich auch im Fall von Swetlanow, der eben nicht über Schostakowitschs Begabung für Doppelbödigkeiten und wahrscheinlich auch nicht über seinen Mut verfügte.
Wenn ich das Thema im Untertitel nenne "der russische Bernstein", ist mir klar, wie sehr der Vergleich hinkt. Ein leidenschaftlicher und völlig subjektiv zupackender Allround-Musiker war allerdings auch Swetlanow: Er war ein Komponist in der Nachfolge des von ihm so verehrten Rachmaninow und schrieb zumindest zwei Werke, nämlich eine Symphonie und ein Klavierkonzert, die zwar nicht zum großen Kanon der Neuen Musik gehören, sie sind aber, innerhalb der russischen nachromantischen Schule, der man etwa Schaporin, Schebalin, auch den frühen Schtschedrin etc. zurechnen kann, durchaus beachtliche Werke in einem persönlichen Tonfall.
Das außerordentlich virtuose Klavierkonzert spielte Swetlanow selbst (Dirigent war Schostakowitschs Sohn Maxim) - er bewies damit nicht nur in diesem Werk jene außerordentlichen pianistischen Fähigkeiten, wie man sie gemeinhin der technik-verliebten russischen Schule zuschreibt.
Und Swetlanow war vor allem auch ein Dirigent - und zwar einer von jenen, die sich einem Werk aus dem Blickwinkel des Komponisten nähern.
Als Dirigent verfügte er über ein gewaltiges Repertoire. Werke von rund 250 Komponisten aus der ganzen Welt dirigierte er, von rund 150 Komponisten spielte er Werke ein, was insgesamt über 200 Aufnahmen ergibt. Hierin ist er am ehesten mit dem jungen Bernstein zu vergleichen: So wie Bernstein zahlreichen amerikanischen Komponisten zu Aufführungen verhalf, kümmerte sich Swetlanow um die Komponisten seiner russischen Heimat. Und zwar auch dann, wenn sie, wie der spätere Schtschedrin, seinem eigenen Stilgefühl weniger entgegen kamen.
Es gibt zu Bernstein aber noch eine weitere Parallele: Die Liebe zu Gustav Mahler. Swetlanow führte als erster Dirigent einen kompletten Zyklus mit Mahlers Symphonien in Russland auf. Der große Mahler-Apologet Kirill Kondraschin konnte bekanntlich die weite und Achte wegen der religiösen Themen nicht aufführen. Überhaupt wurde Mahlers Musik in Russland nie wirklich heimisch.
Swetlanows Interpretationen der Mahler-Sinfonien, leider alle gestrichen, sind geprägt von Leidenschaft und Analytik gleichermaßen, und sein mittlerweile in Staatliches Russisches Symphonieorchester umbenannter Klangkörper steigert sich in emotionale Ekstasen, wie man sie bei Westorchestern selten findet. Die Achte Symphonie ist IMO eine konkurrenzlose Aufnahme, die Fünfte nicht minder.
Ebenso wie für Mahler engagierte sich Swetlanow für in Russland weniger geliebte Komponisten des internationalen Repertoires wie Debussy, Chausson oder de Falla.
Wer Swetlanow nicht über die eine oder andere noch greifbare CD mit russischer Musik kennenlernen will, sondern lieber über eine Aufnahme, bei der es eine gute Vergleichsbasis gibt, kann es mit Tschaikowskijs Fünfter versuchen, die völlig anders angelegt ist als bei Mrawinskij und ebenso überzeugt, oder mit Bruckners Achter, die ich für eine exemplarische Deutung halte. Oder vielleicht auch mit Strawinskijs "Sacre": Bei aller knieender Devotion vor der CBS/Sony-Einspielung des Werkes durch Pierre Boulez - wer die Aufnahme von Swetlanow nicht gehört hat, weiß nicht, was kultischer Tanz im heidnischen Russland bedeutet!