Johannes Brahms - Knorrig und kantig oder wienerisch üppig ?

  • Liebe Forianer


    In diesem Thread sollen die Sinfonien von Brahms erneut beleuchtet werden - allerdings unter anderen Gesichtspunkten als in jenem Thread:


    Lieben Sie Brahms ? - Die Sinfonien


    HIER soll speziell die Frage erörtert werden wie Brahms denn nun "überzeugend" interpretiert werden sollte (das Wort "richtig" vermeide ich in diesem Zusammenhang):
    Knorrig und kantig, was ja seiner Herkunft als Norddeutsche zumindest dem Clichée entspräche - oder wienerisch schwelgerisch ?? - Immerhin war Wien ja seine Wahlheimat - und hier feierte er seine großen Erfolge.


    Ich kann mir vorstellen, daß dieses Thema von den verschiedenen Forenteilnehmern kontrovers gesehen werden wird, un d die Gemüter sich daran erhitzen könnten - aber kann Brahms denn eigentlich - ähnlich wie Bruckner - die Gemüter heute überhaupt noch erhitzen ?


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sagitt meint:


    Brahms war ein Norddeutscher. Verlor er diese Eigenschaft,weil er in Wien wohnte. Er wäre nach Hamburg gegangen, wenn die dort oben nicht so bescheuert ihn abgelehnt hätten. In Wien als Chordirigent war er doch eher für seine depressiven Programme in der Walzerseeligkeit der damaligen Zeit verschrien.
    Seine ungefällige Art ( gibt es noch jemand, den ich nicht beleidigt habe?) hat er beibehalten.
    natürlich hat Brahms auch schwelgerische Anteile ( immer wenn er an Ungarn denkt, komponiert auch so, ungarische Tänze, letzter Satz des g-moll Klavierquartetts, Zigeunerlieder), aber der ernste, gesammelte ist eben auch sehr präsent ( mindestens die erste und vierte, aber auch die elegische Dritte, die zweite steht auf einem anderen Blatt und wenn man die geniale interpretation von Carlos Kleiber hört, wird da auch geschwelgt).
    Vielleicht erhitzt Brahms nicht das Gemüt, aber Brahmsianer gibt es heute noch-ich bin einer davon.

  • Lieber Alfred,


    mein Gemüt kann diese Frage nicht erhitzen - ich liebe meinem Brahms von Stokowski genauso wie vom Chamber Orchestra of Europe unter Berglund oder vom NBC Symphony Orchestra unter Toscanini...


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Also ich denke, dass dieser Dualismus sich ein wenig relativieren sollte.
    Brahms erscheint mir weder "kantig" noch "wienerisch".
    Zweifellos aber üppig und komplex.
    Und dennoch gesanglich, wenn auch ohne Ohrwurm und ohne Schmalz.


    Und das sollte irgendwie auch so rüberkommen ...
    :rolleyes:

  • Brahms ist, vielleicht auch durch die norddeutsche Herkunft und den langen Aufenthalt in Wien bedingt, m.E. kein regionaler Komponist, von daher mit Schubert, Dvorak, Bruckner oder vielleicht auch Mahler nicht zu vergleichen.
    Eine Verschmalzung ist natürlich wie auch sonst abzulehnen, aber es besteht gewiß ein Spielraum zwischen einer stärker romantischen und einer eher klassizistischen Interpretationshaltung. Den hat es meines Wissens auch schon unter den zeitgenössischen Dirigenten gegeben, von denen einige, z.B. was die Tempi betrifft eher flexibel, andere strikter waren. Brahms selbst schätzte offenbar beides, auch wenn er selbst eher zu stärkerer Agogik neigte (natürlich ist das nicht der einzige Aspekt)
    Wenn es wienerische o.ä. Anklänge gibt (gerade in den Sinfonien fällt mir hier allerdings gar keine passende Stelle ein, anders als z.B. das ungarische Element in einigen Kammermusikfinali), müssen die m.E. eher als indirekte Anklänge, als Verarbeitung des volkstümlichen Materials, nicht als Einschub genommen werden.
    Die Nostalgie richtet sich ja nicht nur auf damalige leichte Musik, sondern auch, wie etwa im 3. Satz der 2. Sinf. auf die Klassik. Hier ist völlig klar: kein Menuett der Klassik klingt so verklärt-melancholisch, die sind gemeinhin viel robuster (ein Trio könnte so ähnlich klingen). Aber Brahms scheint sich ja umgehend über seine Nostalgie selbst lustig zu machen, mit den quirligen Varianten der Melodie in schnellerem Tempo.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo,


    es kommt auf die Werke an, ob ich es lieber knochig oder schwelgerisch haben möchte. Dabei sollten beide Seiten immer Anklang finden. In der 2. Sinfonie möchte ich aber schon mehr "Schmelz" haben als in der Ersten.
    Andersherum will ich das 1. Klavierkonzert viel ruppiger und norddeutscher, während das Zweite sehr wienerisch sein darf.
    Am Besten, man spielt ihn, so wie er ist und versucht nicht, irgendwelche regionaltypischen Eigenarten reinzubringen, die dem Stück überhaupt nicht gerecht werden.
    Aber so eine Interpretation habe ich auch noch nicht gehört.



    Gruß, Peter.

  • Den threat hätte ich wohl mit den Worten "frühromantisch oder spätromantisch" überschrieben und wohl dasselbe wie "knorrig kantig oder wienerisch üppig" damit gemeint.


    Mir scheint es interessanter, eine andere Gegenüberstellung vozunehmen: Brahms - üppig, füllig, virtuos - oder kammermusikalisch intim und zart mehr wie seine Lieder.


    Was sagt ihr dazu?

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • War das nicht Tschaikowski der Brahms vorwarf, er könne keine Melodien schreiben? In der Tat habe ich zu Brahms noch keinen rechten Zugang gefunden mit Ausnahme der grandiosen 4. Sinfonie. Vielleicht weil dort "Melodien" vorhanden sind? Bei der hochgerühmten 1. ist bei mir gar nix hängengeblieben, aber wahrscheinlich nur, weil "Beethovens Zehnte" ungerechte Erwartungen geweckt hat. Sollte ich, als Nicht-Wiener, gewisse wienerische Eigenarten bei Komponisten entdecken, dann würde Brahms irgendwie durch mein Raster fallen. Brahms ist für mich, im Gegensatz zu Mozart, Beethoven und Mahler, nie Wien-gebunden gewesen. Seltsam, dieser Brahms...

  • Zitat

    Original von Blackadder
    War das nicht Tschaikowski der Brahms vorwarf, er könne keine Melodien schreiben?


    Nicht umsonst sagt mandem Beginn von Brahms 4. den Liedtext nach: "Mir foallt scho wieda nix mehr ein..."


    Kann jeder selbst mit der "Melodie" zum Überprüfen mitsingen!


    =)

    Gruß ab


    ---
    Und ich meine, man kann häufig mehr aus den unerwarteten Fragen eines Kindes lernen als aus Gesprächen mit Männern, die drauflosreden nach Begriffen, die sie geborgt haben, und nach den Vorurteilen ihrer Erziehung.
    J. Locke

  • Vielleicht sollte man Brahms so interpretieren, wie er sich als Komponisten selbst sah: mit für ihn möglchst wenig Aufwand einen ruhigen Lebensabend zu sichern... :stumm::D


    :hello:
    Wulf.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Wulf
    Vielleicht sollte man Brahms so interpretieren, wie er sich als Komponisten selbst sah: mit für ihn möglchst wenig Aufwand einen ruhigen Lebensabend zu sichern... :stumm::D


    Du hast offenbar Brahms mit Rossini verwechselt ;), denn das ist völliger Unsinn. Brahms sollte sich selbst so gesehen haben? Mit möglichst wenig Aufwand? Ein Komponist, der bis zur Neurose selbstkritisch war und nach Ansicht einiger Interpreten ebensoviele Werke vernichtete wie publizierte. Auch wenn das übertrieben sein mag oder hauptsächlich Jugendwerke betrifft, so ist verläßlich überliefert, dass selbst der reife Brahms Werke vernichtete, die Clara Schumann oder Joachim positiv bewertet hatten, weil sie ihm nicht gut genug waren. Ein rigoroser Perfektionist wie es sie nicht viele in der Musikgeschichte gegeben hat. Egal wie lange er dort lebte, von Wiener Nonchalance blieb er weit entfernt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Ein rigoroser Perfektionist wie es sie nicht viele in der Musikgeschichte gegeben hat


    Ja, das ist wahr. Besonders mit den Sinfonien und Streichquartetten hat sich Brahms das Leben sehr schwer gemacht. Ihm war für ihn selbst klar, dass er in beiden Bereichen wohl nicht die Qualität und Kraft Beethovens erreichen könnte. Aber er arbeitete sehr angestrengt daran, und dies mit der Bescheidenheit, sich nie in einem Atemzug mit dem großen Vorgänger zu nennen. (Wie ich meine, stehen seine Sinfonien nicht hinter denen Beethovens; seine Streichquartette dagegen schon.)


    Zur Ausgangsfrage:


    Die Sinfonien sind nichts für Ungeduldige; es ist eine Musik des langen Atems bzw. des gleichmäßigen Pulses. Die Werke sind auch auf unterster Gliederungsebene in ziemlich ausgedehnte Phrasen aufgeteilt. Dieser Grundcharakter würde durch zu üppig - bewegliche und auf kleine Effekte abzielende Interpretationen verdeckt und der Kraft ihres starken Wesens beraubt. Viel schlimmer noch: eine emotionale Betonung der kleinen beweglichen Phrasen gefährdet das Empfinden des Gesamtzusammenhangs; wie ich meine, wäre dies ein fundamentaler Fehler, da eine der großen Stärken dieser Sinfonien der organische Aufbau des Ganzen ist; im Verwenden von Themenkomplexen, Bausteinen und Motiven durch Variation und anderer Entwicklungs- sowie Verarbeitungsformen liegt ja gerade eine der großen Stärken Brahms´. Meine erste Einspielung vor langer Zeit war derart zerstückelt und entgegen der weiten Natur dieser Sinfonien, dass ich überhaupt keinen Zugang zu ihnen hatte.


    Andererseits ist der melodisch-rhytmische Charakter der Themen teilweise in Ansätzen wienerisch-beweglicher, tänzerischer oder gar süßlicher Natur, was durchaus seinen Charme hat und zum Wesen Brahms-Werke gehört.


    Aus diesen beiden Gründen müssen die Gegensatzpaare der Ausgangsfrage gemeinsam Berücksichtigung finden, d.h. die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte, vielleicht etwas mehr in Richtung "knorrig-kantig". Allerdings verschieben sich die Schwerpunkte von Werk zu Werk. Während die erste Sinfonie z.B. eher bedächtig und mit Blick auf das Weite zur Entfaltung gebracht werden kann, erfordert die zweite Sinfonie eher die Lockerung der Zügel; diese Musik braucht häufiger Luft zum Atemholen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Wie dem auch sei, er war auf jeden Fall ein Mensch wie du und ich und hatte dementsprechende Daten. Er wurde am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren und starb am 3. April 1897 in Wien. Zu seinem Geburtstag habe ich eine Aufnahme mitgebracht, die ich dieser Tage noch gehört und gesehen habe, und zwar zum 50. Geburtstag von Christine Schäfer:



    Heute ist die 182. Wiederkehr von Johannes Brahms' Geburtstag.



    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).