Widerstand gegen das Regietheater wächst unaufhörlich - ist das Ende nah?

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    Original von farinelli
    Die boshaften youtube-Kommentare haben mich sehr gewundert.


    Finde ich total witzig, wie auf youtube die Post abgeht: H&G ist eben die letzte heilige Kuh des Opernpublikums, deren Schlachtung lange überfällig war - derartig polemisch schrieb ein Rezensent bei der unsäglichen Erfurter-Inszenierung von del Monaco. Ich denke, weil viele beim Humperdinck nostalgische Kindheitserinnerungen haben, geht ihnen bei modernen Inszenierungen die Galle über. So lehnt z.B. auch einer unserer Moderatoren, der sonst dem "Regie"theater durchaus gewogen ist, derartiges bei H&G ab. Mir geht es so bei allen Opern. Ich mag einfach kein Verfremdungstheater.

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    Original von farinelli
    Man kann es tatsächlich hören; aber Christa Ludwig hat zehnmal recht, wenn sie sich schlichtweg weigert, es so zu spielen.


    Schade, dabei hatte sie bestimmt einen tollen Hüftschwung :D

  • Um zurück zum Thema dieses Threads zu kommen (das ich nach wie vor für eine schlechten Witz halte):


    Woher nehmen wir die Standards für eine stilgerechte Märchenoper?


    Da fallen einem sofort die Illustrationen von Ludwig Richter ein. Ein veführerisches Design, das aber einmal selbst sehr modern war. Es ist in unseren Kinderherzen so sehr zur zweiten Natur geworden, daß wir gar nicht mehr merken, wie sehr wir den Dingen Gewalt antun, wenn wir einen Märchenstoff immer in diese romantisierende, anheimelnde Richtung zwingen.


    Ein Blick auf die Entwicklung des Trickfilms kann diese Vorgänge verdeutlichen: Der Disney-Konzern revolutionierte die Bildsprache zumal im Märchengenre. Heute aber wirken Schneewittchen oder Dornröschen altbacken und putzig; Pixar schreibt die Standards für kindliche Bildwelten neu und löst damit eine Entwicklung ein, zu der Disney selbst einmal den Anstoß gegeben hat.


    Natürlich gibt es gelungene Restituierungsversuche - die DEFA-Märchenfilme der 60er, die tschechischen Fernsehfilme (Drei Nüsse für Aschenbrödel) oder der schöne Cinderella-Film mit Drew Barrymore.


    Ein Grimm-Märchen zeugt in der Regel von einer gewissen Sprödigkeit, Lakonik und Härte. In den Beschreibungen herrscht äußerste, geradezu biblische Ökonomie. "Vor langer Zeit" ist die einzige historische Angabe. Humperdincks überillustrative Musik steht in einer großen Spannung dazu. Daß bereits darin die Entscheidung für ein bestimmtes, à la Richter ausgemaltes Stagedesign gefallen ist, bezweifle ich.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Zitat

    Original von farinelli
    Ein Blick auf die Entwicklung des Trickfilms kann diese Vorgänge verdeutlichen: Der Disney-Konzern revolutionierte die Bildsprache zumal im Märchengenre. Heute aber wirken Schneewittchen oder Dornröschen altbacken und putzig; Pixar schreibt die Standards für kindliche Bildwelten neu und löst damit eine Entwicklung ein, zu der Disney selbst einmal den Anstoß gegeben hat.



    Vorsicht, in dem Sujet kenne ich mich super aus. Hatte mal vor, bei Disney zu arbeiten. Allerdings haben mich die Studios damals sehr abgeschreckt: Also, ich finde die Klassiker keineswegs veraltet - allerdings sind die deutschen Neusynchronisatonen im Gegensatz zu den zeitlosen Erstfassungen veraltet, doch das ist ein anderes Thema. Auch die Käufer scheinen dies nicht so zu sehen: Die alten disneyfilme verkaufen sich nach wie vor sehr gut. Dagegen floppen modernisierte Disneymärchen wie jüngst "Küss den Frosch".


    Nicht zu unterschätzen ist hierbei der europäische Einfluss der Designer - viele kamen aus Europa: Tenggren, Schweitzer, Reitherman.. . Gerade Schneewittchen, Pinocchio und Fantasia zeigen massive Einflüsse des Jugendstils und der Romantik. Sie entwickeln dies weiter, bleiben aber dem Stil verhaftet. Und das ist der Unterschied zu einer Inszenierung à la Thalbach: Hier wird bewusst das tradiert märchenhafte ins Lächerliche gezogen.

  • Zitat

    Original von Knusperhexe



    Vorsicht, in dem Sujet kenne ich mich super aus.


    En garde, monsieur.


    Dann weißt Du ja sicherlich, daß der revolutionäre Aspekt des frühen Disney der entfesselte Bewegungsablauf war.


    Ich weiß zu wenig zu Adelheid Wette und will ihrem guten Libretto nicht Gewalt antun.


    Aber wörtlich genommen gefriert ihr Traumtableau zum Andachtsbildchen und damit zum Kitsch. Die Traumwelt, zumal die kindliche, ist eine anarchische, nicht logische. Daß sie für einen Bühneneffekt 1:1 in einer didaktischen Lehrbuch-Illustration aus dem Katechismus aufgehen soll, enthüllt das Zwanghafte, das hinter allem Kitsch lauert. Auch die braven Heimatfilm-Kinder sollten einst die Erinnerung an die verwahrlosten Kriegs- und Nachkriegskindheiten vergessen machen.


    Disneys anarchische Bildwelten, die den Kinderseelen in ihrer spielerischen Destruktivität so entgegenkommen, sind Humperdincks schillernder, raunender Partitur entschieden näher als Wettes eindeutiger Erbaulichkeit.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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    Original von farinelli


    En garde, monsieur.


    Echt? dann sollten wir uns vielleicht wirklich mal treffen.


    Zitat

    Original von farinelli
    Dann weißt Du ja sicherlich, daß der revolutionäre Aspekt des frühen Disney der entfesselte Bewegungsablauf war.


    Das gilt nur für die Cartoons, nicht für die abendfüllenden Klassiker. Hier ging es Disney um Schönheit. "Macht es schön, Leute", war sein Appell, zuletzt beim Dornröschen. Man stelle sich vor, ein Intendant würde das heute öffentlich von seinen Regisseuren und Bühnenbildnern fordern. Kübel der Häme würden über ihn ausgegossen. Übrigen sind viele Schneider-siemssen Bühnenbilder eindeutig Disneyfilmen entlehnt, z.B. seine Prsifalblumenfantasiamädchen, sein LohengrinDornröschenaltarbild oder sein SchneewittchenKönigskinderwald.


    Zitat

    Original von farinelli
    Ich weiß zu wenig zu Adelheid Wette und will ihrem guten Libretto nicht Gewalt antun.


    Lobenswert, Frau Thalbach offenbart hier eine andere Denkart und Verhaltensweise. Aber es ist ja nicht nur die Thalbach, die die Libretto nur zu überfliegen scheint.



    Zitat

    Original von farinelli
    Aber wörtlich genommen gefriert ihr Traumtableau zum Andachtsbildchen und damit zum Kitsch. Die Traumwelt, zumal die kindliche, ist eine anarchische, nicht logische. Daß sie für einen Bühneneffekt 1:1 in einer didaktischen Lehrbuch-Illustration aus dem Katechiusmus aufgehen soll, enthüllt das Zwanghafte, das hinter allem Kitsch lauert.


    Ich gehe das ganz kindlich an und habe überhaupt kein Problem damit, Kommunionbildchen auf der Bühne zu sehen. Im Gegenteil, sie illustrieren damit doch den damaligen, allgemein gültigen Zeitgeist. Eine Frau Thalbach macht sich darüber lustig. "Ihre" Engel bieten keine Schutz, sie sind albern und stehen im totalen Kontrast zur Intention von Komponist und Librettistin. Im schlimmsten Falle macht sie sich lustig über Christentum und Religion.



    Zitat

    Original von farinelli
    Disneys anarchische Bildwelten, die den Kinderseelen in ihrer spielerischen Destruktivität so entgegenkommen, sind Humperdincks schillernder, raunender Partitur entschieden näher als Wettes eindeutiger Erbaulichkeit.


    Du meinst hier die Tom und Jerry-Cartoons: Disney war weniger anarchisch als moralisch.

  • Zitat

    Original von Knusperhexe
    Echt? dann sollten wir uns vielleicht wirklich mal treffen.


    Na, als gelbes Quadrat bist Du ja nicht zu übersehen :)

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  • Zitat

    Original von farinelli
    Ein Blick auf die Entwicklung des Trickfilms kann diese Vorgänge verdeutlichen: Der Disney-Konzern revolutionierte die Bildsprache zumal im Märchengenre. Heute aber wirken Schneewittchen oder Dornröschen altbacken und putzig; Pixar schreibt die Standards für kindliche Bildwelten neu und löst damit eine Entwicklung ein, zu der Disney selbst einmal den Anstoß gegeben hat.


    Also nachdem ich zwei kleine Kinder habe möchte ich sagen, daß die "alten" Zeichentrickfilme weder von uns noch von vielen anderen Eltern und Kindern als altbacken empfunden werden. Die Pixar Filme sind zwar dynamischer, action- und tempo-reicher, aber sie gehen nicht besonders in die Tiefe-. Mir geht echte Athmosphäre ab und die Fähigkeit das Publikum ehrlich zu rühren. Ich empfinde sie als authentischer, sie strahlen mehr Wärme aus. Geht mir mit vielen aktuellen Operninszenierungen ganz ähnlich.

  • oh ja ... DA kann ich mitbieten ;)


    - abgesehen von Marjane Satrapis "Persepolis" wüßte ich so auf die Schnelle KEINEN Animationsfilm a.d. letzten ca.25 Jahren,
    der mich wirklich berührt hätte!


    :hello:


  • Wenn der Fernseher nicht mitmacht, im Netz klappt es hier:


    http://www.zattoo.ch


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Zitat

    Original von La Gioconda
    Ich empfinde sie als authentischer, sie strahlen mehr Wärme aus.


    Liebe Gioconda,


    Sie haben völlig recht - es war sehr dumm von mir, den Stilwandel mit einer Wertung zu verbinden.


    Etwa als wolle man der Nuknackersuite vorwerfen, nicht auf der Höhe von Prokoffievs Cinderella zu sein.


    Ein Film wie Schneewittchen ist ein vollkommenes Kunstwerke sui generis, voller bezaubernder Einfälle.

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  • Zitat

    Original von Florian Voß
    (...) streicht den Opernhäusern die
    Subventionen (...).



    Das muß ein politisch ziemlich unbedarfter Tamino geschrieben haben.


    Man kann auch über die Schwimmbäder schimpfen - ohne Subventionen gäbe es keine.
    Ich zahle aber gerne Steuern für eine Stadt, in der es blaugeflieste beheizte Pools gibt, 25 oder 50m.


    Daß öffentliche Einrichtungen besser wirtschaften könnten, mag ja sein.


    Daß sie sich selbst tragen sollen, ist eine völlig abstruse, merkantilistische These.


    Ein Krankenhaus soll im Ernstfall Leben retten, nicht erst Berechnungen über den Wert dieses Lebens anstellen.


    Hat die Streichung z.B. von standardisierten Kassenleistungen wie z.B. Massagen dazu geführt, daß man wieder die beliebten kalten Güsse aus Großmutters Zeiten anbietet?


    Nein, im Gegenteil, eine Flut von internationalen Techniken bis nach China und Thailand ist heute im Angebot, und die Akupunktur wurde vielfach plötzlich kassenfähig.


    Den besten Vergleich bietet das Fernsehen: Wir haben die Wahl zwischen GEZ-finanzierter Rosamunde Pilcher (dem zweifelsfreien Äquivalent der werkgerechten Inszenierung) :D und werbefinanzierter Konservenware bis hinunter zum Quizshowgirl mit freier Oberweite.


    Die Wahl würde hier proportional zum Altersdurchschnitt ausfallen. Pilcher liegt klar im Trend, rein statistisch. Aber da in Europa die Renten sinken, dürfen wir dem freien Opernschaffen eine schlechte Prognose stellen. Lieber als den bunten Benefizabend im Seniorenheim wird sogar Anna Netrebko lieber in einem gut gefütterten Opernhaus Regietheater gestalten.


    Und das ist gut so.

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  • Zitat

    Original von farinelli
    Rosamunde Pilcher (dem zweifelsfreien Äquivalent der werkgerechten Inszenierung)


    Zweifelsfrei? Aha, wieder was gelernt. Dann ist "Regie"theater zweifelsfrei das Äqivalent zu Analästhetik.

  • Zitat

    Original von Knusperhexe
    Analästhetik



    Was ist das? Läßt sich nicht mal googeln ...


    Explizier Dich mal!

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  • Zitat

    Original von Knusperhexe
    Werkverwurstung...


    Aber so schlimm ist doch die Pilcher in der deutschen Verfilmung gar nicht. Erste Schauspieler, eine sorgfältige Ausstattung, schöne Kleider, ein Architekt ist ein Architekt, ein Arzt ein Arzt, ein Pferd ein Pferd. Die Gefühlsverstrickungen der Figuren werden gut herausgearbeitet. Und die schönen Landsitze und Landschaften.


    Ich finde, das ist genau das, was Alfred fordert.


    Oder hat man das etwa aus dem 19. Jh. in unsere Zeit versetzt? Ist es doch die Marlitt?


    Du als Mann kannst da gar nicht mitreden.

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  • Zitat

    Original von farinelli
    Aber so schlimm ist doch die Pilcher in der deutschen Verfilmung gar nicht.


    Deswegen ist die Verfilmung ja auch keine ...Verwurstung - allerdings ist das Werk 'ne arme Wurst. Im Gegensatz zum Verhältnis Oper/Schauspiel und "Regie"theater. Da verhält es sich dann genau andersrum.

  • Ich wäre sehr dankbar, wenn ein bestimmetes Vokabular nur bei youtube, nicht aber bei Tamino auftauchen würde. Danke! TP

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von farinelli
    Der durchsichtige Erbauungskitsch (addio, valle di pianti; si schiude il ciel), den Verdi für seine ätherischen Damentode kreiert, kommt mir gerade in der Schlußszene schon etwas routiniert und fadenscheinig vor.


    Was für ein böser Schluß ist das eigentlich - das Land hochverraten; die Königstochter als alte Jungfer in spe machtlos im Totengericht; das Liebespaar eingemauert. Ägypten triumphiert ein letztes Mal als nekrophile Supermacht, in der das Leben und die Lebenden zu kurz kommen.


    Daß die Liebe sich am Ende freiwillig der Macht unterwirft, gibt dem Schluß etwas, pardon, Kümmerliches, Privates, das von den thesenhaften Gefühlsblöcken der Figuren nicht gedeckt wird. Eine Terroristin, die sich am Schluß mit dem Verräter à la "la mort des amants" die Spritze teilt, ist unerträglich. Als Selbstmordattentäterin hätte Aida immerhin einen Sprengsatz in die Grabkammer geschmuggelt, und ihr "il ciel" beinhaltete mit der Vorfreude aufs Paradies ineins den Triumph, den ganzen Priesterhaufen über ihr in die Luft zu jagen.


    Also ich empfinde es ganz im Gegenteil so, daß die Liebe letztendlich gesiegt hat und sich eben NICHT von der Aussicht auf "mit dem Leben davonkommen" und Macht hat korrumpieren lassen nach dem Motto: lieber ehrlich in den Tod als unehrlich überleben. Liebe siegt über Macht und Politik - in Verdis Opern immer wieder ein beliebtes Thema in verschiedenen Abwandlungen. Die ganze These mit der Selbstmordterroristin kann ich gar nicht nachvollziehen. Mag ein Ansatz sein, wenn man die Handlung denn unbedingt aktualisieren will, aber warum muß man das unbedingt? Wenn man sich für das "schwache" Libretto und die banale Musik schämt, braucht man diese Oper doch gar nicht aufführen, oder?


  • Ist das jetzt ehrlich gemeint???
    Ich finde nur weil alt heißt nicht besser. Es gibt ja in jeder Epoche - Geschmack und Modeerscheinungen hin oder her - qualitativ gute und schlechtere Werke/Filme/Opern etc. Aber insgesamt empfinde ich es in den meisten Fällen so wie geschildert.

  • Zitat

    Original von La Gioconda
    Ist das jetzt ehrlich gemeint???


    Aber ja! Und ich danke dafür, mir die Augen geöffnet zu haben.


    Meine ganz haarsträubenden Aida-Kommentare bitte ich als willentliches à rebours zu verbuchen, als hochgetriebens Gedankenspiel sehr unzeitgemäßer Betrachtungen.


    Nach der Lektüre des ganzen heute beschlossenen Don-Giovanni-Threads wird es mir etwas schwer ums Herz.


    Die Zürcher Zauberflöte, von der ich den enttäuschenden Schluß sah, hilft da auch nicht weiter (ein banales, glanzloses, provinzielles Schlußtableau; ein humorloses Dirigat). Nicht einmal Papageno zündete.


    Ich weiß, früher hatten die Sänger selbst für ihre Garderobe zu sorgen; eine Callas unterrichtete sich detailliert über das historisch Gebotene; und die gehüteten eigenen Kostüme begleiteten sie auf die Bühnen der Welt.


    Nicht jeder Sänger ist zu jeder Art von Inszenierung bereit. - Aber haben nicht die Sänger dazugelernt, daß man auch mit neuartigen Regiekonzepten zurechtkommt? - Bewegen sie sich in modernen Kostümen nicht bisweilen freier? Sieht man ihnen nicht an, daß sie die Neuerungen (nicht alle freilich) billigen und mittragen?


    Dies nur gegen die Behauptung, ein Komplott der Regiechargen zwinge sie contre coeur ins Engagement.


    Vielleicht sollte man denken, wir wären es z.B. Richard Wagner schuldig, seine Nibelungen germanisch zu geben, da seine Phantasie sich ja an den Szenerien einer archaischen Sagenwelt entzündet habe (Rheintöchter, Zwerge, Riesen, Drachen, Walküren, Götter, Feuerzauber, Gunthers Halle usw.)


    Wagner konnte sich freilich nicht vorstellen (oder zumindest es nicht zugeben), daß diese konzeptionelle Hinwendung zum Germanentum sehr künstlich der Bismarckschen Reichspolitik aufgepropft wurde. Daß es gar keine Heldenbegeisterung mehr gab. Und vor allem, daß wir heutigen keinerlei Beziehung mehr dazu haben würden (die wir Hobbits, Harry Potter und dergleichen im Kino konsumieren, aber eben nicht Siegfried).


    Wir können aber unseren Abstand zur Entstehungszeit der Opern am allerwenigsten verleugnen - und d.h. 150 Jahre Rezeption.


    In Wagners Zeit fielen bereits die Rezeptionsansätze von Nietzsche und Shaw, die die Kostümierung konsequent vom Drama losschälten und außer Acht ließen.


    Chéreau hat 100 Jahre später nicht viel mehr getan, als die Aufführungspraxis auf den Stand Shaws zu bringen. Er macht sich nicht lustig über Wagner; er bietet vielmehr eine ironische Brechung, eine doppelte Optik, die das Mythische, statt es platt auszubuchstabieren, als hintergründige Ebene hinter dem Geschehen verortet.


    Wer meint, ein Mythos spiele sich ab wie eine Farce von Feydeau, hat vom Mythischen wenig verstanden.


    Gwyneth Jones hat in einem Fernsehinterview die Rezeptionshaltung des Bayreuther Publikums zu Chéreau beschrieben - vom anfänglichen Buhkonzert bis zur 90minütigen Ovation am Ende der letzten Götterdämmerung.


    Das schlimmste an den Forderungen militanter Werktreue ist die schlichtweg gelogene Behauptung, es habe eine Kontinuität stilgerechter Bühneneinrichtungen je gegeben. Die Bühnenbilder vergangner Zeiten würden uns vorenthalten? Meine Opern-Gesamtaufnahmen und ihre Libretti enthalten aussagekräftiges Bildmaterial die Fülle. In Wien, München und Salzburg, etwa seit Furtwängler bis zu Ponelle, hat eine dürftige Ausstattung reichen müssen, bis sie einer modischen Stilisierung wich, wie sie gelegentlich auch das historische Kino der 60er (Käutners "Glas Wasser" mit Gründgens z.B.) sich zu eigen machte.


    Das allerschwierigste ist das Verhältnis von Andeutung und Atmosphäre, von Requisit und Diorama. Es ist sehr schlechte Literatur, die eine Landschaft oder ein Gesicht nach der Manier einer Regieanweisung auflistet (zur Rechten sah man ...) Regieanweisungen sind penibel und phantasielos; und die sie bevorzugen, allzuoft auch.

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Zitat v. Farinelli : Lieber als den bunten Benefizabend im Seniorenheim wird sogar Anna Netrebko lieber in einem gut gefütterten Opernhaus Regietheater gestalten. Und das ist gut so.


    Ich bin nicht ein so großer Netrebko-Fan, kenne aber ihre Susanna und Violetta aus Salzburg. (3 Sat Opernaufführungen) Traviata war von Willy Decker, wenn ich mich recht erinnere, nicht gerade ein "Extremist" unter den Regisseuren des sog. "Regietheaters". Ich fand die Leistung der Netrebko als "Sängerdarstellerin" homogen und glaubhaft. Als Susanna hat sie sich zumindest gut eingefügt in ein homogenes Ensemble, was ja auch nicht jeder "Star" kann. Ehrlich gesagt "suffere" ich immer noch ein wenig an der Behauptung > Widerstand gegen das Regietheater wächst unaufhörlich<. Berechtigt finde ich das Ansinnen für eine solche Hypothese allemal, wenn es jemand ein ehrliches und wichtiges Anliegen ist. Was diese These suggeriert, scheint mir persönlich nicht nur problematisch, sondern falsch zu sein. Manipulierend kann eine solche Behauptung natürlich in gewissem Umfang auch wirken. Aber auch das finde ich okay, denn jeder soll für seine ideologische Ausrichtung kämpfen können, gerade wenn offensichtlich soviel "Herzblut" wie in diesem Falle dahinter steckt. Als Verfechter des Musiktheaters, für den ich mich halte, würde ich trotzdem vor einem "Gegenkreuzzug" zurückschrecken, weil ich meinen persönlichen Hintergrund, der mich offen macht für Regiekonzepte denen die Aktualität von Opernstoffen für eine gegenwartsbezogene Deutung/Aktualisierung ein wichtiges Anliegen ist, nicht verallgemeinern darf/sollte. Zwei Regie-Beispiele, an denen ich meinen aufklärerisch-humanistischen Ansatz, der durchaus unterhaltenden Charakter nicht ausschließen muß, auf glaubhafte und spannende Art und Weise umgesetzt sah. 1.) (vorallem) die Anfangszene des Kölner RHEINGOLD von Robert Carsen: Köln und der Rhein HEUTE, der Grund des Rheins, als wenn Kurvenal herübergrüßt "Es ist kein Gold zu sehn", dafür aber auch kein leidender Tristan :.), sondern von Abfällen, Dreck und Öl verschmutzte Rheintöchter und zuvor, zu diesem genialen sinfonischen Beginn des Rheingolds, gehen entsprechend dem leisen Beginn, der sich immer mehr steigernd zu großer Emotion mit kräftigstem Ochesterklang emporschwingt, ca 50 Statisten (Häftlinge aus einer Kölner Strafanstalt (soziale Integration durch Kunst) zunächst langsam dann immer schneller werdend bis zur Rasanz, die mit dem orchestralen Aufschwung einhergeht, als "normale Bürger", die ihre Utensilien von Kippen, über Zeitungen, Abfalltüten usw in den Rhein werfen. Ich habe dieses Rheingold öfter gesehen, es war jedes Mal atemberaubend und glaubhaft. 2.) letzte Szene Aida, Oper Frankfurt, Inszenierung Hans Neuenfels,(1980)...es gibt viele Szenen die "anders" waren in dieser außergewöhnlichen Aida, die riesiges PRO und KONTRA provozierten. Neuenfels erzählt in keiner Sekunde klischeehaft Geschichte, sonder die zeitlose Parabel die in diesem Stück auch steckt, die Geschichte von Herrschern und Beherrschten, von Unterdrückern und Unterdrückten, von Herrenmenschen und Sklaven. Am krassesten und provokantesten ist der Schluß. Er hat mich in einem Ausmaß berührt und in meinem Verständnis von durchdachtem radikalen Musiktheater voll gefangen. Aida und Radames gemeinsamer Tod findet in einer Gaskammer statt. Ich bin damals mit etlichen Bekannten, die meistens in Theateraufführungen gingen und um Operninszenierungen wegen ihren häufigen klischeehaften Verballhornungen von Geschichte eher einen Bogen machten, gegangen. Die Resonanz war ausschließlich positiv. "Ja wenn Oper öfter so spannend, brisant und aktuell wäre, würde ich auch wieder hingehen" (sagten einige sinngemäß). In der Tat war es für mindestens zwei Bekannte auch der Beginn größeren Interesses an der Gattung Oper. Diese Inszenierung hat mich niemals wirklich verlassen, denn sie ist großes Musiktheater in ihrem parabelhaften Charakter, weil sie eine humanistische Botschaft in unsere Gegenwart transportiert und betroffen machte durch ihre Aktualität. Gruß............."Titan"

  • Wie vielfältig sich ein „Text“ (= zum Beispiel das Textbuch „Aida“) verstehen und interpretieren lässt, kann ich auch bekräftigen: Ich habe in diesem Saison auf der Opernbühne meiner Stadt eine „Aida“ gesehen / gehört, wo im Mittelpunkt nicht Aida und Radames als Helden stehen, sondern die unglückliche Amneris. Das Stück wurde so inszeniert, dass man sich unausweichlich auf die Tragik von Amneris konzentrieren musste, auf das Faktum nämlich, dass sie aus Eifersucht und Jähzorn den Tod des Mannes, den sie heiß, verzweifelt und ewig liebt, verursachen muss. Radames wankte zwischen blauäugig-optimistischer Naivität und trotziger Heldenhaftigkeit, Aida wirkte wie mit dem Tod verlobt, für die beiden war ihr Tod fast ein selbst gewählter. Der räumliche Hintergrund (Ägypt) wurde nicht angetastet, die Zeit blieb ohne Kontur (irgendwann, es spielt keine Rolle, wann genau), allerdings waren die großen feierlichen Szenen sehr zurückgehalten dargestellt, dafür wurden die Szenen, in denen Amneris erschien, dramaturgisch gründlich ausgearbeitet. Auch war die junge Sängerin sehr gut in ihrer Rolle. Ich halte das für ein gut gelungenes Regietheater – wenn Regietheater doch bedeuten darf, dass der Regisseur als Künstler das Stück inhaltlich auslegt und in eine Form bringt.


    :hello: KP

  • `S ist kurios still. Und schwül. Man möchte den Atem anhalten ...


    (Wozzeck I,2)



    Schwüles Gedünst schwebt in der Luft;
    lästig ist mir der trübe Druck:


    (Rheingold, 4. Sz.)



    Gewittersturm
    naht von Norden


    Starkes Gewölk
    staut sich dort auf.


    Heervater reitet
    sein heiliges Roß!


    Schützt mich, Schwestern!


    Wild wiehert
    Walvaters Roß.


    Schrecklich schnaubt es daher!



    (Walküre III,1)

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  • Zitat

    Original von farinelli
    Das allerschwierigste ist das Verhältnis von Andeutung und Atmosphäre, von Requisit und Diorama. Es ist sehr schlechte Literatur, die eine Landschaft oder ein Gesicht nach der Manier einer Regieanweisung auflistet (zur Rechten sah man ...) Regieanweisungen sind penibel und phantasielos; und die sie bevorzugen, allzuoft auch.


    Theaterstücke gehören aber auch zur Literatur.
    :P
    Sind jetzt die großen Dramatiker wegen ihrer Regieanweisungen 1) schlecht 2) penibel und 3) phantasielos?


    (Habe das nur geschrieben, damit p.grimes keinem falschen Verdacht nachhängt.)

  • Nun, Shakespeare und Molière kommen ohne Regieanweisungen aus, zwei der größten Dramatiker.


    Du begibst Dich auf ein schlüpfriges Terrain (vom billigen "Mißverstehen" mal abgesehen).


    Ich hätte gern einen Thread zur Poetik der Regieanweisung.


    Gleich mal eine meiner liebsten:



    Das Zimmer, das noch immer "Kinderzimmer" genannt wird. Eine der Türen führt in Anjas Zimmer. Morgendämmerung. Bald wird die Sonne aufgehen. Es ist schon Mai. Die Kirschbäume blühen, doch im Garten ist es noch kalt. In der Nacht hat es gefroren. Die Fensterläden sind geschlossen. Dunjascha und Lopachin treten ein, Dunjascha mit einer Kerze, Lopachin mit einem Buch in der Hand.


    (Tschechow, Der Kirschgarten I)


    Besser kann man die spezielle atmosphärische Bedeutung der Bühnenanweisung bei völliger szenischer Offenheit nicht in Worte fassen.

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  • Zitat

    Original von farinelli
    Wir können aber unseren Abstand zur Entstehungszeit der Opern am allerwenigsten verleugnen - und d.h. 150 Jahre Rezeption.


    Man hat sich hier ja oft darüber empört, dass ich kurze Zitate "aus dem Zusammenhang reiße" - ich bilde mir wenigstens ein, das nicht aus Bosheit zu tun, aber wozu haben wir denn die Zitier-Funktion?


    Mein Ziel als jemand, der sich nicht nur aktuelle Kunst gibt (z.B. Musik) sondern auch solche historischer Zeiten, ist, die durch den zeitlichen Abstand sich ergebenden Ursachen für Mißverständnisse, Fremdheit und Verwechslungen von Standard und Originalität durch Information, Gewöhnung und Einfühlung möglichst unwirksam zu machen. Den angesprochenen Abstand also möglichst außer Kraft zu setzen. Die Rezeptionsgeschichte spielt dabei für mich die geringste Rolle - die verstellt mir ja nicht "den Blick auf das Original", da ich sie kaum kenne.


    De facto habe ich aber genau dasselbe Problem, wie man es in der Regel mit aktueller Kunst hat (eine ironische Verdrehung natürlicher Gegebenheiten), da ja kaum jemand einen Überblick über das Schaffen der letzten paar Jahrzehnte hat, womit in der Regel das, was uns heute ja ganz nahe, vertraut und verständlich sein sollte mißverstanden und fremd ist und man idR gerade in der Kunst der Gegenwart Standard und Originalität verwechselt (etwa in einer extrem anachronistischen Gleichsetzung von dissonant = modern, konsonant = traditionell).


    Ich bin der Ansicht, dass es eher das Ziel sein sollte, die vorhandenen Abstände nach Kräften zu überwinden. Und wenn es um historische Oper geht (also alles von Peri bis BA Zimmermann) so empfinde ich "Regietheater" hierin als kontraproduktiv.


  • Blühende Kirschbäume sind aber nun wirklich keine "völlige szenische Offenheit". Es fehlt zwar sozusagen der Hinweis, ob man diese durch ein Fenster links oder rechts sieht, aber das ist schon sehr konkret.


    Das "billige Mißverstehen" ist eben eine logische Reaktion auf einen "billigen Trick" in Deiner Formulierung mit der "schlechten Literatur". Die provoziert das doch geradezu. Jemand, der Regieanweisungen auf die Bühne setzt, produziert ja keine Literatur.


    Und die Dramatiker haben ja nicht immer die Ambition, so "schöne" Regieanweisungen zu geben wie Tschechow oder Wedekind. In der Regel wird eher knapp angedeutet, was auf die Bühne soll. (Ich habe aber beim Dramenlesen nicht mein Hauptaugenmerk auf der Rafinesse der Regieanweisungen.)
    :hello: