"Spannende" Interpretationen - eine Mode von heute ?

  • Gerade sehe ich noch Willis Beitrag.
    Hierzu einfach nur folgendes:

    Wie viel anders (und auch erfüllender) war dagegen ein wenig später von mir besuchtes Konzert (Abschiedskonzert von Alfred Brendel) in der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle.
    Nach der Pause gab es Brahms' erste Symphonie. Das war vom allerfeinsten. Alle hier schon angesprochenen Attribute, z.B. die Klangfülle, der warme, unnachahmliche Streicherklang der Berliner oder ihr vorzügliches Blech usw. traten hier auch live hervor und rissen das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.

    Du Glücklicher !!
    Was würde ich dafür geben, hier solche Konzerte live erleben zu können.


    ...ich habe Gesamtaufnahmen der Brahms-Symphonien von Böhm/BPh, Harnoncourt/BPh, Karajan/BPh, Giulini/Pilharmonia und New Philharmonia Orch., Sawallisch/Lond.Philh., Sanderling/Phil. Orch., von Dohnany/Cleveland Orch., Wand/NDR-Sinf. und Celibidache/RSO Stuttgart.

    Eine schöne Sammlung. Bei mir stehen im Moment Karajan 2/3(BPO), Abbado (BPO), Wand (BPO), Harnoncourt (BPO), die 4. mit Carlos Kleiber auf DVD mit einem bayrischen Orchester und auf Rattle (BPO) wartet noch meine Postkasten.


    Falls Du an diesem romantischen Brahms-Klangbild interessiert bist, empfehle ich Dir die zusätzliche Anschaffung des Zyklus mit Abbado und Rattle, den ich ja auch von der auf digitalen Philharmonie her schon kennenlernen durfte. Aber Du hast es ja selbst im Konzert gehört, Du Beneidenswerter :)
    Ich finde es übrigens sehr gut, dass Du Dir die Zeit zum Nachhören beim virtuellen JPC-Laden genommen hast :!: :!:



    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo glockenton!

    "Hoch in den Kronen, so wogend sichs regt,
    so unaufhörlich mein Herze schlägt"


    zeitlich würde ja z.B. hier besser passen:


    Schwarzschattende Kastanie
    Mein windgeregtes Sommerzelt,
    Du senkst zur Flut dein weit Geäst
    Dein Laub es durstet und es trinkt,
    Schwarzschattende Kastanie!
    Im Porte badet junge Brut
    Mit Hader oder Lustgeschrei
    Und Kinder schwimmen leuchtend weiss
    Im Gitter deines Blätterwerks,
    Schwarzschattende Kastanie!
    Und dämmern See und Ufer ein
    Und rauscht vorbei das Abendboot,
    So zuckt aus roter Schiffslatern
    Ein Blitz und wandert auf dem Schwung
    Der Flut, gebrochnen Lettern gleich,
    Bis unter deinem Laub erlischt
    Die rätselhafte Flammenschrift,
    Schwarzschattende Kastanie!


    Es freut mich ja, dass Du meine Unterbrechung bedauerst, aber mir ist auch nicht mehr viel dazu eingefallen. Ich habe beide Varianten durch die miesen Lautsprecher meines Bildschirms abwechselnd angehört und zuerst hat mir die Rattle-Version wesentlich mehr "gesagt", habe ich (der ich ja auch mit diesem Brahms-Bild aufgewachsen bin - vielleicht meint flute mit "Sozialisation" ohnehin nur das?) hier das Emotionale viel mehr gespürt. Nach dreifachem Wechsel des jpc-Knopf-Drückens hat sich das ziemlich ausgeglichen. Mich erinnert das jetzt auch daran, dass mich einmal im Kino bei einem Tarkowsky-Film ein total unhipper Bach als Filmmusik sehr begeistert hat, obwohl ich so ein dogmatischer HIP-Sammler bin und Bach eigentlich kaum anders als HIP gehört habe. Dass also diese fette Schinken-Taktik sehr eindrucksvoll sein kann, bestreite ich gar nicht. Zufällig habe ich Brahms' 2. auch mit Karajan und kann mir auch von diesem Dirigenten Schauer den Rücken herunterjagen lassen, obwohl DAS nicht der Brahms ist, den ich haben möchte. Denn ich glaube, dass das recht wenig damit zu tun hat, wie man zu Brahms' Zeiten das gespielt hat.


    Karajan ist für mich also eine Version, die ich als "spannende" Modernisierung hören kann (um zum Thema zurückzuwinken).


    Und für mich zu Hause wünsche ich mir ein paar historische Flügel. Denn seit ich davon ein paar bespielen durfte, empfinde ich meinen "modernen" (gestutzten) als dem romantischen Repertoire nicht besonders angemessen.
    ;(

  • Zitat

    Dieser historisierende Ansatz hätte ihn wohl befremdet.Gerade die ganzen Bearbeitungen und Retuschen nun als Beweis für die Notwendigkeit von HIP zu allen Musikepochen heranzuziehen, finde ich schon sehr gewagt.


    Na ja, diese Bearbeitungen beweisen doch, daß man die Musik in der überkommenen Instrumentation nicht mehr als zeitgemäß empfand. also fertigte man eine Bearbeitung an, man hatte in der Tat kein Interesse an einer historisch informierten Interpretation. Wie ich aber schon schrieb, es gab nur eine Klangideal, das aktuelle, es gab so gut wie keine Rezeptionskultur von Musik vergangener Zeiten im Konzertleben.
    Laßt uns gerne Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms auf Instrumenten unserer Zeit spielen, laßt sie uns mit vollem Klang und großer Wärme spielen, dann laßt sie uns aber auch wieder unseren Gepflogenheiten anpassen, dann laßt uns Bearbeitungen erstellen.


    In unserer Zeit gibt es eben aber eben auch die Rezeption der Musik vergangener Epochen, eine grundlegend andere Situation als bis zu Beginn des 20. Jahrhundert. Und die meisten Interpreten erstellen nun einmal keine Bearbeitungen, sondern ziehen die Partituren, sogar möglichst den Urtext, zur Erarbeitung ihrer Interpretation heran. Da stellt dich mir dann schon die Frage, warum den Interpreten der Klang der Entstehungszeit völlig egal ist. Die Wahl des Instrumentariums der Bethovenzeit bewirkt ja nun schon einen ganz anderen Orchesterklang. Damit meine ich nicht einen leiseren Klang, sondern einen ganz anderen Klang, der in den Bläsern wesentlich verschmelzungsfähiger und dennoch charakteristischer ist. Die dadurch entstehende divergierende Balance innerhalb des Orchesters hat ja nun nicht gerade marginale Auswirkungen auf die Durchhörbarkeit, um nur ein Beispiel zu nennen.



    Zitat

    Sie zeigen doch im Gegenteil gerade, dass man ein Werk immer im "aktuellen Sound" hören wollte. Nur so konnte -deren Meinung nach- das daran gewöhnte Publikum die künstlerische Aussage überhaupt erfassen. Das ist nebenbei gesagt alles auch beim NH in seinen Büchern zu lesen.


    Das ist ja gerade das, was ich sagen will: Deswegen wurde angepasst und bearbeitet! Nur daß sich im zwanzigsten Jahrhundert die Rezeptionskultur halt entscheidend verlagert hat. Nicht mehr aktuelle Musik steht im Mittelpunkt, sondern Musik vergangener Zeiten! Und wenn man denn schon eine große Traditionslinie ziehen will und sich mit seinen Interpretationen in die Nähe des Meisters stellen will, wie es viele Interpreten tun, dann sollte man schon auch wissen, wie das damals klang. Ausgangspunkt der Diskussion war ja schließlich die Behauptung, das die Berliner Philharmoniker heute noch sehr genau wissen, wie man einen Brahms zu spielen habe, eben weil sie aus dem Material der Brahms Zeit spielen. Daß dem nun aber nur so ist, wenn man das der Interpretation zu Grunde, was meistens nicht so ist, daran sind wir uns glaube ich aber doch einig!

  • Karajan ist für mich also eine Version, die ich als "spannende" Modernisierung hören kann (um zum Thema zurückzuwinken).

    Hallo ksm,


    da wird Dir der Alfred sicher gerne zustimmen, gerade wenn es um Mozart geht.....oder? ;)


    Letztendlich ist es ja auch egal, wie es damals wirklich geklungen hat. Damals gab es eben keine Hifi-Technik und dergleichen. Es wird immer eine Ansichtssache bleiben. Ich finde aber nicht, dass es nur eine Frage der Gewöhnung ist. Karl Richters und Harnoncourts Matthäus-Passion klingen sehr sehr unterschiedlich. Auch ich musste mich als Jugendlicher damals umgewöhnen, was ich jedoch mit Begeisterung tat, weil mir als Erstattung für den Abschied vom romantischen Klangrausch soviele andere Dinge geboten wurden, die diesen Verlust mehr als wettgemacht haben. Das konnte funktionieren, weil die Bachsche Musik strukturell gesehen ganz andere Mittel verwendet, um sich beim Zuhörer verständlich zu machen. Ein romantisch dunkler, erdiger BPO-Symphonie-Klang (sie können ja auch anders...) hätte hierfür keine Zeit gefunden. Die Musik ist ganz anders komponiert.


    Beim Brahms ist es eben so, dass dieser von mir für diese Musik so erwünschte Klang sich meiner Ansicht nach ideal mit dem Wesen der Brahmschen Musik verbindet und es aufleuchten lässt. Genau deswegen werde ich mich wohl nie - im Gegensatz zur Matthäuspassion und der ganzen Barockepoche- mit diesem Klang und noch weniger mit dieser Non-Vibrato-Spielweise Gardiners beim poco-Allegretto anfreunden können, auch wenn ich es 50mal höre und ich versuche, mich positiv daran zu gewöhnen.
    Wenn ich dann wieder den Rattle auflege, dann werde ich wieder Aaaahhh - sagen und diesen Gesichtsausdruck :D ^^ bekommen.


    Nun ja - jedem das Seine.


    :hello:


    Glockenton, HIP-Freund UND ein neoromantisch - reaktionärer Staubi :thumbsup:

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Übrigens, nur vielleicht abschließend: Mir gefällt der Orchesterklang bei Gardiner ausgezeichnet, nicht aber die Interpretation. Da finden wir uns, insgesamt gesehen, dann doch eher bei Harnoncourt wieder. In seiner Interpretation ist dann aber auch deutlich ein historisch informierter Ansatz zu spüren!

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  • also als hörschnipsel aus jpc am computer finde ich jetzt gardiner, rattle, harnoncourt und karajan mit dem 3.3. alle sehr schön und berührend.
    wobei ich immer weniger lust verspüre, die unterschiede der interpretation wahrzunehmen, als BRAHMS zu hören.
    :thumbup:

  • Übrigens, nur vielleicht abschließend: Mir gefällt der Orchesterklang bei Gardiner ausgezeichnet, nicht aber die Interpretation. Da finden wir uns, insgesamt gesehen, dann doch eher bei Harnoncourt wieder. In seiner Interpretation ist dann aber auch deutlich ein historisch informierter Ansatz zu spüren!

    Ja, dem kann ich gut zustimmen. Ich habe einmal mir jede Symphonie vorgenommen und die Partitur dazu mitgelesen.
    Damals konnte ich nur Harnoncourt, Wand und Karajan gegeneinander vergleichen. Anhand der Partitur musste ich meistens Harnoncourt recht geben, und ich verstehe auch, dass er manche Aufwallungen nur als zarte, sensible Gesten versteht und nicht als immer gleich die grösser ausgespielte Emotion darin sieht.
    Ich war mir dann nicht ganz schlüssig, was eigentlich richtiger wäre. Seit ich dann aber mir einmal die Abbado-Aufnahme aus einer Bibliothek auslieh, war mir klar, welchen Brahms ich letztendlich lieber höre, selbst wenn man unter dem Standpunkt der genauen Partiturumsetzung Harnoncourt recht geben muss. Abbado spielt oft noch breiter und grossdimensionaler als Karajan....und das mag ich einfach.
    Von Rattle, auf dessen CDs ich noch warte, verspreche ich mir ungefähr dasselbe, allerdings noch einen weniger von den 1. Violinen kommenden sondern mehr "untern heraus" kommenden Klang, im Vergleich zu Abbado.
    Ich suchte einen bestimmten, deutsch-romantischen Klang ( bitte nicht Deutschtümelei vorwerfen, bin politisch gar nichts rechts), den ich in Kombinaton dieser Herren mit dem BPO gefunden habe. Für mich trifft das den Kern dieser Musik, ob es richtiger im Sinne der historischen Wahrheit ist, finde ich eigentlich nicht mehr so besonders interessant.


    :hello:


    Glockenton


    @ksm: Schönes Gedicht und danke Euch allen für die schöne Diskussion!

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • ...wobei ich immer weniger lust verspüre, die unterschiede der interpretation wahrzunehmen, als BRAHMS zu hören.

    Ja !!! ---darum geht es ja letztendlich :thumbup:


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • ELF Jahre ruht dieser feurige Thread nun. Jeder wollte seine Sicht der Dinge darlegen (was IMO ganz gut gelungen ist)

    Ich wollte das Thema INTERPRETATION wieder zur Sprache bringen, grade wegen der neuesten Diskussionen um das Projekt HAYDN 2032 unter Antonini. Dann habe ich gesucht. Gefunden habe ich an die 100 Threads oder mehr !!!

    Eigentlich fixiert sich jeder auf einen anderen Schwerpunkt. Hier ist es (nicht nur) Brahms. Aus meiner Sicht (ich bin kein Brahms-Fan erster Güte) gibt es bei Brahms zwei grundsätzliche Ansätze, den deutschen (etwas sperrigen) den Wienerischen (wärmeren, abgemilderten, in herbstlichen Farben) Ich werde hier keine Präferenzen bekanntgeben - beide Lesarten sind IMO möglich.

    Nun möchte ich aber gleich den Bogen zum Thema "Interpetationen" schliessen

    Die Notwendigkeit von "Interpretationen" beruht eigentlich auf einer Unzulänglichkeit der Notenschrift.

    Trotz Tonhöhe und Punktierungen ist es offenbar notwendig Erläuterungen, wie "Allegro" etc - oftmals mit Zusätzen versehen

    damit der Solist oder der Dirigent den Klang und Eindruck erreicht, den der Komponist angestrebt hat.

    Das funktionierte lange Zeit einigermaßen gut. Die verschiedenen Orchester agierten an verschiedenen Orten, abgesehen von Insidern und Kritikern waren Unterschiede für das Normalpublikum nur in Ausnahmefällen hörbar, notabene, da zwischen zwei Hörerlebnissen oft Monate oder Jahre lagen.

    Es gab - besonders bei berühmten Solisten spezielle Eigenheiten (heute oft als "Unarten" gesehen), die ihr persönliches Markenzeiche waren. Aber dieses Privileg - und die technischen Möglichkeiten dazu . war nur wenigen vorbehalten.

    Noch ich dachte in meiner frühen Jugend - nehmen wir hier das Jahr 1964 als Mittelwert - daß ich - wenn auf einer Schallplatte am Cover beispielsweise stand: "Beethoven: Sinfonie Nr 5" ich danach diese Sinfonie kannte. Ich hab mich damls weder um Orcheter noch um Dirigenten oder Solisten gekümmert - ich wollte einfach das Werk rauschfrei und in Stereo hören - mglichst von DGG. Dazu griff ich eigentlich auf die 2. Wahl dieser Fa zurück. Immer wenn ein Werk in der noch jungen Geschichte der Stereophonie "ausgemistet" wurde - soll heissen in den "Midprice Bereich" (damals Serie Privilege oder Resonance) der mit 99 ATS gegenüber 150 ATS wesentlich preiswerter war als sonst üblich. Aber auch das war happig. Man vergleiche die Monatsgehälter.

    Fricsay war damals "2. Wahl", da kurz zuvor verstorben und durch Karajan ersetzt. Sein Beethoven Zyklus war unkomplett, bze waren 1 oder 2 Sinfonien in MONO - ein no go damals.

    An einen Kuf eines kompletten Zyklus war damals gar nicht zu denken, so sammelte ich mir meinen Beethoven Zyklus und meine Mozart- Sinfonien allmählich zusammen. Das brachte unausweichlich "Doubletten" mit sich, da oft 2 Sinfonien auf einer Platte untergebracht waren - Und so erlebt ich erstmal - unfreiwillig - den Unterschied von "Interpretationen"


    Dieser Unterschied war von den Komponisten nicht angedacht worden, man dacht, es gäbe - ähnlich wie später bei den "Welte-Mignon" Klavierrollen ein perfektes Rezept - eine absolute Spielanweisung - nur gelegentlich getrübt durch Unzulänglichkeiten einzelner Orchester durch finanzielle Einschränkungen verursacht, weil man nicht die besten Instrumente und Orchester erweben konnte....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Die Notwendigkeit von "Interpretationen" beruht eigentlich auf einer Unzulänglichkeit der Notenschrift.

    Trotz Tonhöhe und Punktierungen ist es offenbar notwendig Erläuterungen, wie "Allegro" etc - oftmals mit Zusätzen versehen

    damit der Solist oder der Dirigent den Klang und Eindruck erreicht, den der Komponist angestrebt hat.

    Das funktionierte lange Zeit einigermaßen gut. Die verschiedenen Orchester agierten an verschiedenen Orten, abgesehen von Insidern und Kritikern waren Unterschiede für das Normalpublikum nur in Ausnahmefällen hörbar, notabene, da zwischen zwei Hörerlebnissen oft Monate oder Jahre lagen.

    Das ist, denke ich, eine Verklärung der Vergangenheit. Keineswegs war es so, dass alle Kompositionen zur Zufriedenheit der Komponisten aufgeführt wurden. Außerdem hatte schon Burney die Unterschiede der Musiker beschrieben, von einem einheitlichen Ergebnis der Aufführungen, wenn Kompositionen international Verbreitung fanden, kann man daher nicht ausgehen.

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  • Dieser Unterschied war von den Komponisten nicht angedacht worden, man dacht, es gäbe - ähnlich wie später bei den "Welte-Mignon" Klavierrollen ein perfektes Rezept - eine absolute Spielanweisung - nur gelegentlich getrübt durch Unzulänglichkeiten einzelner Orchester durch finanzielle Einschränkungen verursacht, weil man nicht die besten Instrumente und Orchester erweben konnte....

    Also vielleicht dachtest DU das, aber Du warst ja meines Wissens kein Komponist ...

    Vielleicht würdest Du diesem Irrtum nicht unterliegen, wenn Du mehr Noten ansehen würdest. Das Notieren lief nicht ganz so standardisiert ab, wie Du Dir das offenbar vorstellst.

  • Das ist, denke ich, eine Verklärung der Vergangenheit. Keineswegs war es so, dass alle Kompositionen zur Zufriedenheit der Komponisten aufgeführt wurden. Außerdem hatte schon Burney die Unterschiede der Musiker beschrieben, von einem einheitlichen Ergebnis der Aufführungen, wenn Kompositionen international Verbreitung fanden, kann man daher nicht ausgehen.

    Vergangenheit wird in der Regel verklärt - oder aber auch anders verfälscht.


    Aber der Unterschied von Interpretationen wurde natürlich insbesondere bei Schallplattenaufnahmen hörbar.

    Und das habe natürlich nicht nur ich bemerkt, sondern insbesondere die Schallplattenidustrie.

    Die ersten Abweichungen vom Notentext bzw in eine individuellen Auslegung, waren mehr oder weniger ein "Zufall" oder den Bedingungen geschuldet. Es ist ja bekannt dass etliche Komponisten ihre Werke lediglich herunterbuchstabierten und somit alsch "schlechter" eingestuft wurden, als manche Ihrer Interpreten

    Für die Plattenindustrie war das aber ein "gefundenes Fressen". Werke die man in zahlreichen Lesarten dem p.t. Publikum verkaufen konnte, das war geradezu ideal. Und über kurz oder lang führte es zu EXTREMEN Ausdeutungen. Jeder Interpret wollte am großen Kuchen mitnaschen - und die Plattenindustrie natürlich zuallererst....


    So wurde aus einem eigentlichen Manko eine riesige Chance....

    Es partizipierten

    die Interpreten,

    die Hörer

    die Plattenindistrie

    die Kritiker

    und ein kleines Bisschen vielleicht auch die Internet-Klassikforen...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich finde die Überlegung ja plausibel, aber das Beispiel Celibidaches, eines individuell Auslegenden, der Aufnahmen nicht mochte, spricht nicht unbedingt dafür, dass extravagante Aufführungen so sehr auf die Aufnahmeflut zurückzuführen sind. Ein anderes Beispiel wäre wohl Furtwängler.

  • Das Notieren lief nicht ganz so standardisiert ab, wie Du Dir das offenbar vorstellst.

    Bei Welt Mignon worden - meines Wissens nach - nicht händisch notiert - sondern die Anschläge des Pianisten vermessen und in die Rollen gestanzt. Die ersten Maschinen waren allerdings nicht perfekt, man konnte die härte des Anschlags und die Dauer nicht genau festhalten. Das wurde dann durch eine zweite Generation verbessert und als "perfekt" angeboten. Eine aufwändige Pneumatik löste (angeblich) das Problem zu 100%. Genau wissen wir es nicht, denn der Bauplan für solche Automaten wurde von Welte streng gehaim gehalten und ist inzwischen verloren gegangen. Laut offizieller Behauptung ist der NAchbau einer Welte Mignon Aufnahmeapparatur unmöglich (klingt kaum vorstellbar !!!)


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Achso - aber Welte Mignon wurde meines Wissens nicht von Komponisten zur Notation ihrer Musik verwendet, man kann es eher mit Aufnahmen vergleichen. Die volle Kontrolle über die Ausführung der Musik suchte dann etwa Nancarrow indem er tatsächlich seine Kompositionen in die Rollen selbstspielender Klaviere stanzte, und das, weil er mit den Musikern unzufrieden war. In der Theorie war das schon um 1920 in Diskussion, als Stuckenschmidt meinte, der Interpret sollte durch exakte, mechanische Musikinstrumente abgelöst werden. Am meisten hat dann das Tonband in Bewegung gesetzt, indem zahlreiche Kompositionen elektronisch erzeugt und auf Tonband gespeichert wurden. In der Pop-Musik ist dann das Album das eigentliche Kunstwerk, hier ist das Problem gelöst.


    In früheren Zeiten ist meist sehr viel offen, auch wenn etwa ab Beethoven wirklich viel im Detail in den Noten steht, ganz genau ist dann auch nie festgelegt, wie all die Anweisungen nun zu realisieren sind, wie sollte das auch funktionieren etwa bei der gigantischen Vielfalt der Möglichkeiten der Klangerzeugung mit den klassischen Instrumenten (etwa Violine).

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  • Die Notwendigkeit von "Interpretationen" beruht eigentlich auf einer Unzulänglichkeit der Notenschrift.

    Diese Vorstellung, lieber Alfred, ist eher eine perspektivische Täuschung von unserer Zeit her, die Maßstäbe wie "Werktreue" oder Werkgerechtigkeit" mitgebracht hat. In vergangenen Jahrhunderten war das ganz anders. J.S. Bach hat z.B. keinerlei dynamische Bezeichnungen notiert. Das kommt einfach daher, dass man damals die konkrete Ausführung der Aufführungspraxis überlassen hat. Der Spieler wusste, wie er bestimmte Verzierungen ausführen musste usw. Deshalb hat man es nicht für nötig gehalten, das zu notieren. Czerny bei seiner Ausgabe hatte dann das Problem, dass man zu seiner Zeit schon nicht mehr so recht wusste, wie bestimmte Dinge zu spielen sind, weil diese Aufführungspraxis immer mehr verloren ging. Im 19. Jhd. entdeckt man die Individualität. Und auch die des Interpreten! Sowohl Publikum als auch der Komponist erwartete bzw. rechnete mit einer "persönlichen Handschrift". Im Zeitalter der Romantik war die Grenze von Bearbeitung und Interpretation ohnehin fließend. Da hat man sich ganz andere Freiheiten erlaubt! Tendenzen, den Interpreten durch eine absolut verbindliche Notierung, die quasi alles vorschreibt, auszuschalten, entstehen erst im 20. Jhd. bei Bartok oder Strawinsky etwa. Von Strawinsky gibt es die schöne Karikatur, dass er als "Dirigent" vor dem Orchester steht und ein Metronom in der Hand hält. ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • J.S. Bach hat z.B. keinerlei dynamische Bezeichnungen notiert.

    In der Tat. Das ist mir in meiner jugend aufgefallen. Und DAMALS - so war mein Eindruck als Jugendlicher - begegnete man Bach mit ZUVIEL Ehrfurcht. Manspielte mit dickem Orchesteklang und alles so auf "mittel" - und das Ergebnis war -so mein damaliger Eindruck - langweilig. Hier hat sich IMO viel getan (auch bei Vivaldi) - Aber man kann es auch übertreiben.

    Aus meiner Sicht soll der Interpret "das bestklingende" aus dem Notenmaterial herausholen, aber nicht versuchen sich selbst zu profilieren und oft auf Kosten des schönen Klangs (der ja derzeit verpönt ist) ein "neuartiges" Ergebnis zu erzielen, das dann zu allem Überfluß als der Weisheit letzter Schluss verkauft wird.

    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • An die Verzierungen habe ich vorhin auch gedacht. Manche Komponisten legten ihren Noten ausführliche Tabellen bei, in denen jedes Symbol in ausnotierter Form erklärt wurde (d'Anglebert etwa), manche nicht. Manche Komponisten bemühten sich, beim Druckvorgang eng mit dem Notenstecher zusammenzuarbeiten, um Fehler zu vermeiden (Dagincourt, glaube ich), andere waren weniger besorgt. Manche Komponisten waren sich im Klaren, dass ihre Musik überhaupt schwer aufzuschreiben war (Froberger), da ist dann auch die Quellenlage schlecht. Manche Komponisten überwachten hingegen nichteinmal die Aufführungen, da sie meinten, sie könnten den Musikern ohnehin nichts sinnvolles mitgeben (einer aus dem Spätbarock, habe mir leider nicht gemerkt, welcher). In den Lehrwerken für Instrumentalpraxis (Leopold Mozart, Quantz, CPE Bach) werden verschiedene Ansätze diskutiert. Die Stimmung der Orgeln unterschied sich um mehr als einen Halbton. Es war also auch früher recht uneinheitlich.

  • Aber der Unterschied von Interpretationen wurde natürlich insbesondere bei Schallplattenaufnahmen hörbar.

    Ich bin fest davon überzeugt, dass die sehr diffizile Diskussion über verschiedene Interpretationen gerade sehr bekannter Stücke genau dadurch entstanden ist und auch nur konnte. Selbstverständlich ging man auch früher in Konzerte und war mal mehr oder auch weniger begeistert, aber dass man sich einen Abend nimmt, wo man ein Vergleichshören von 3 oder 4 Interpretationen eines Stückes macht, wäre ohne diese Technik nicht möglich. Gleichzeitig macht diese dauernde Wiederholbarkeit einer Aufnahme auch den Interpreten etwas Angst. Ein einmal auftretender Fehler wird eben nicht mit der Zeit vergessen und durch viele Konzerte, wo man es besser macht ungültig, er ist für immer und ewig und drei Tage dokumentiert, anders al bei den Konzerten, die eben flüchtig sind ... So hören sich nicht selten Studioaufnahmen eines Interpreten anders an als sein Konzertspiel. Er wagt naturgemäß weniger ...


    Das mag man jetzt gut oder weniger gut fiinden ....


    Und wenn wir ehrlich sind: Zu allen wirklich großen Werken der klassischen Musik wurden bereits letztgültige Interpretationen vorgelegt. Es ist nur der menschlichen Sucht nach dem immer Neuen, Anderen geschuldet, dass immer noch neue Einspielungen der klassischen Schlachtrösser erscheinen.


    Das ist zum Teil richtig: 170 Interpretationen (kleiner Überschlag über Streamingdienste) der Pathétique machen wahrscheinlich keinen mehr schlauer oder auch nur glücklich. eventuell kommt man gar nicht mehr zum Hören ;)


    Umgekehrt würde ich es ablehnen, zu glauben, es gäbe eine letztlich endgültig gültige Interpretation. Jede Zeit (mit fleißenden Übergängen) hört Beethoven, Mozart (ja auch Haydn) Rameau aber auch Bartok eben anders. das scheint mir ihr gutes Recht zu sein. Auf der anderen Seite ist es auch für mich ein Qualitätsmerkmal, dass diese Musik in der Zeit bestehen kann (und nicht nur ein Zeitvertreib für historisch interessierte bleibt) Ich habe so meine Stücke, wo ich immer interessiert bleibe. Häufig sind da Neueinspielunegn auch Enttäuschungen. Man hört vielen Interpretationen eben an, dass sie ein Produkt der gängigen Ausbildung sind und es nicht von jedem Interpreten bei jeder Aufnahme wirklich etwas zu sagen gibt. Sei es drum. So war das früher bei den Konzerten auch nicht anders .... Es wäre sehr überraschend, wenn doch ;)


    Interpretationen an sich haben mich früher nie wirklich interessiert. Wenn ich von einem Stück begeistert war, habe ich es mir eben angehört. Das Problem tauchte erst auf, wenn es nicht mehr ging (Platte geliehen, verschwunden oder woanders gehört) und ich das Stück neu haben wollte und es plötzlich nicht mehr wiedererkannt habe (meistens als Enttäuschung empfunden) Dann kommt man ins Grübeln. Der umgegehrte Transfer liefert dann natürlich auch die Überlegung, dass ein Stück, was einem bisher nicht gefallen hat, sich in einer anderen Interpretation sich eventuell erschließen mag ...

  • Immer wieder lese ich in diesem Forum, Dirigent X oder Y habe eine "spannende" oder auch "ungefällige", "analytische" Aufführung abgeliefert, und sei somit dem Dirigenten Z gegenüber vorzuziehen.
    Ist das wirklich so ? Ist es Aufgabe der klassischen Musik a priori "ungefällig" zu klingen, bzw sollte sie mit forciertem Tempo und kantigem Rhythmus dargeboten werden, einer Art "Dauerstreß" gewissermaßen der eher unangenehme Gefühle beim Hörer hinterlässt ? Natürlich gibt es Musik, die schon auf Konfontation mit dem Hörer hin angelegt ist, beispielsaweise vieles aus dem 20. und 21 (?) Jahrhundert.


    Also, "spannend" kann auch eine 40 Jahre alte Mozart-Interpretation sein, die nicht auf historischem Instrumentarium gespielt und 'gegen den Strich gebürstet' wurde. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass erst die Herren Gardiner, Hogwood, Harnoncourt et al. in der Lage waren 'spannend' Musik zu machen. 'Kantig' und 'ungefällig' kann auch sehr öde werden, wenn's zum puren Selbstzweck verkommt.


    Das triviale Fazit ist, dass es mehr oder minder kontrastreiche und spannungsvolle Musik gibt und sie entsprechend gespielt werden muss. Meist liegt die Wirkung in der Balance von Spannung und Entspannung, aber es gibt eben auch Ausnahmen.



    Alle haben recht :-)


    Spannung an sich hat nichts mit Kunst zu tun. Und vor allem: was ist spannend? Wie Garaguly sagt: kantig und ungefällig kann auch sehr öde werden ...


    Höre ich Mozart in seinen besten Momenten in der für mich besten Interpretation, bin ich immer wieder beeindruckt, in welcher Dichte Spannung, Auflösung, Schönheit und Dissonanz (!) sich finden. Die Haydn-Quartette, denen man das Extreme dieser Kompositionsdichte anhören kann, finden kaum ein Äquivalent in der Geschichte. (Lachenmann hat in irgendeiner Diskussion mal gesagt, sogar der Tristan-Akkord würde sich dort finden (ich habe ihn leider bisher noch nicht gehört ;()) Aber Mozart ist keiner, der daraus 30 Minuten macht ... Richard Strauss soll mal gesagt haben, dass er für einen speziellen Akkordwechsel bei Mozart eine ganze symphonische Dichtung (oder war es eine Oper ) opfern würde.


    Also: gibt es einen Mozart ohne Spannung (wahrscheinlich nicht) oder Ist Mozart jemand, der einen mit einem Stück von Anfang bis Ende quälen möchte, wahrscheinlich auch nicht. Mozart will auch Schönheit, aber Mozart weiß, dass es die nicht umsonst gibt. Mozart ist allerdings bis auf wenige Ausnahmen ein Anhänger der großartigen Proportion, so dass sich Spannung regelmäßig auflöst....


    Beethoven ist da anders. Nehmen wir die Große Fuge, der eigentliche Schlusssatz von Op. 130. Eine hörerische Herausforderung über Schrägen und Schiefen und Spannung bis zum Ende. Auf Schönheit muss man bis zum Schluss warten. Das ist aber kein Versagen Beethovens .... das ist gewollt und wurde ja auch tatsächlich zu seiner Zeit wenig goutiert. Nicht umsonst hat Beethoven den letzten Satz durch leichte Kost ersetzt (ich höre da immer etwas Ironie heraus .... "wenn Ihr es so haben wollt ... 8o". Das Emoji ist mit Absicht noch in dem Zitat!) Hier ist Spannung ein künstlerisches Element und kein Zweck an sich. In meiner naiven Sicht will es mir scheinen, als hätte Beethoven Schule gemacht und Mozart weniger, wobei ich immer glaube, dass den meisten da auch die Fähigkeiten fehlten (bis auf Mendelssohn!), Mozart weiter zu entwickeln. Beethoven gibt da ganz offensichtliche Signale ....


    Wenn ich die sogenannte postmoderne Musik höre, habe ich manchmal das Gefühl, als wäre da wieder mehr Mozart zu hören .... aber wer weiß das schon ...


    Das ist selbstverständlich meine ganz persönlche Einschätzung ...

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  • Der Threadtitel ist natürlich etwas reißerisch, aber das ist soweit in Ordnung. Würde die These pauschal stimmen, so hätte es früher also keine spannenden Interpretationen gegeben. Das zu widerlegen ist nicht schwierig. Nervenaufreibender als manche Kriegsaufnahme unter Wilhelm Furtwängler dürfte beispielsweise weniges in der Diskographie sein. War er demnach ein "Modernist" oder gar ein heimlicher HIP-Prototyp? Landläufig läuft er eher unter dem absoluten Gegenteil. Spannung kann ja vielfältig erzielt werden. Wenn man dies einseitig-brachial und letztendlich auch oberflächlich-plakativ aufzieht, dann ist Spannung wohl gleichbedeutend mit möglichst gehetzt, möglichst laut, möglichst rabiat. Aber selbstverständlich kann Spannung auch völlig anders und, wie ich meine, überzeugender erzielt werden. Nehmen wir etwa den Übergang vom Scherzo zum Finale in Beethovens Fünfter, wiederum unter Furtwängler. Wohl kaum ein Dirigent hat das langsamer, nebulöser und unheimlicher dargeboten. Und trotzdem finde ich Furtwänglers beinahe einmütige Überleitung ungleich spannender als das Gehetze, das manch anderer (vor allem heutige) Dirigent an der Stelle veranstaltet, der gefühlt doppelt so schnell durchrast.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Fragestellung des Threads zielte glaube ich auf eine bestimmte Art der Interpretation, nämlich die Musik aufzupeppen und zuzuspitzen, um die Aufführung lebendig zu machen.


    Man kratzt natürlich nur an der Oberfläche, wenn man nicht klärt, warum und wodurch und wie die "Interpretation" eines Musikstücks notwendig wird. Dazu bedürfte es einiger systematischer und auch historischer Überlegungen.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Der Threadtitel ist natürlich etwas reißerisch, aber das ist soweit in Ordnung. Würde die These pauschal stimmen, so hätte es früher also keine spannenden Interpretationen gegeben. Das zu widerlegen ist nicht schwierig. Nervenaufreibender als manche Kriegsaufnahme unter Wilhelm Furtwängler dürfte beispielsweise weniges in der Diskographie sein. War er demnach ein "Modernist" oder gar ein heimlicher HIP-Prototyp? Landläufig läuft er eher unter dem absoluten Gegenteil. Spannung kann ja vielfältig erzielt werden. Wenn man dies einseitig-brachial und letztendlich auch oberflächlich-plakativ aufzieht, dann ist Spannung wohl gleichbedeutend mit möglichst gehetzt, möglichst laut, möglichst rabiat. Aber selbstverständlich kann Spannung auch völlig anders und, wie ich meine, überzeugender erzielt werden. Nehmen wir etwa den Übergang vom Scherzo zum Finale in Beethovens Fünfter, wiederum unter Furtwängler. Wohl kaum ein Dirigent hat das langsamer, nebulöser und unheimlicher dargeboten. Und trotzdem finde ich Furtwänglers beinahe einmütige Überleitung ungleich spannender als das Gehetze, das manch anderer (vor allem heutige) Dirigent an der Stelle veranstaltet, der gefühlt doppelt so schnell durchrast.


    Ich finde da manches falsch zugeordnet ... HIP heißt ja "historisch informiert", bedeutet also die Kenntnis davon, wie früher gearbeitet wurde, damit hat Furtwängler nichts zu tun.

    Das ist an sich unabhängig von der Frage des "sich in den Vordergrund Drängens" des Interpretens, des "Aufpeppens". Hier ist Furtwängler vielleicht ein typisches Beispiel.

    Die nächste Frage ist die nach dem Tempo. Wir haben Metronomzahlen und historisch Informierte, die sich daran halten und wir haben eine Art verfremdende Tradition verlangsamter Spielart (wieder Bsp. Furtwängler), die offenbar manchmal als spannend und manchmal als langweilig empfunden wird, ebenfalls werden die Original-Beethoven-Tempi manchmal als spannend und manchmal als langweilig empfunden, ich gehe davon aus, dass die Langeweile unabhängig vom Tempo ist, und der Eindruck des "Gehetzten" sich nur aus der Gewohnheit, es langsamer zu hören ergibt. Wenn Du längere Zeit nur Beethovens Tempi hörst, wirst Du Dich dran gewöhnen und sie nicht mehr als "gehetzt" empfinden.

  • HIP heißt ja "historisch informiert

    Wenn ich mich richtig erinnere wurde dieser Begriff bom unseligen Nokolaus Harnoncourt geprägt. als er endlich die Chance hatte mit einem "modernen" Orchester aufzutreten und aufzunehmen, da kamen seine Feinde und fragten hinterhältig, wi sich diese denn mit seinen "historisch korrekten" Interpretationen bis dahin vereinbaren liesse.

    Und da erfand Harnouncourt einfach einen neuen - an sich widersinnigen . Begriff, den der "historisch INFORMIERTEN Aufführungspraxis, wo man mit "modernen Instrumenten" ebenfalls den "originalen" Klangeindruck erzeugen konnte.

    Ich war damals wie vor den KOpf schlagen, denn ich war ein Sammler von Harmonia mundi-Aufnahmen mit den Collegium aureum und Franz Joseph Mayer und ähnlicher Formationen. Und die klangen eher milde, von der Patina der Jahrhunderte verklärt. In meinen Augen war diese Erfindung von HIP nichts anderes als das KLangästheische Empfinden von Herrn Harnocourt durchzusetzen und (pseudo)wissenschaftlich zu untermauern. Und seine Jünger folgten ihm nicht nur. Nein sie versuchten ihn zu übertreffen (Pfui Deibel)

    Wenn schon historisch (manchen Werke bekommt das durchaus gut) - dann bitte auf historischen Instrumenten oder deren Nachbauten (wobei sich in letzter Frage ebenfalls die Geister scheiden)

    Und natürlich waren Karajan , Böhm und Zeitgenossen über alte Spielweisen informiert - sie mochten sie allerdings nicht und belächelten sie teilweise....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Und natürlich waren Karajan , Böhm und Zeitgenossen über alte Spielweisen informiert - sie mochten sie allerdings nicht und belächelten sie teilweise....

    Das glaube ich jetzt weniger ... was heute jeder Instrumentalist an der Hochschule an historischer Praxis lernt, wurde ja erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erforscht, und die von Dir genannten dürften davon sehr wenig mitbekommen haben.


    Wir stimmen aber überein in unserem Ideal einer historisch informierten Praxis auf historischen Instrumenten.

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  • Man kratzt natürlich nur an der Oberfläche, wenn man nicht klärt, warum und wodurch und wie die "Interpretation" eines Musikstücks notwendig wird. Dazu bedürfte es einiger systematischer und auch historischer Überlegungen.

    für den Interpreten wahrscheinlich, für den rezipienten würde ich mir wünschen, dass die Interpretation die Erklärung in sich trägt.


    Das ist ja gerade der Grund, wieso "spannende" Einspielungen es manchmal gar nicht sind. Das ist wie bei einem Hollywood-Blockbuster, wo Du fünfzehnminutenlang in in einer hochtechnisierten Verfolgungsszene mit Extremaktivität gefangen werden sollst und Dich eigentlich nur langweilst, weil der Sinn nur in der Vorführung der Technik besteht ...

  • Der Threadtitel ist natürlich etwas reißerisch,

    Das mag heute - mit recht - so scheinen

    Aber zu Zeiten wo ich den Thread gestartet habe, war der Titel IMO durchaus angemessen.

    Die Zusammensetzung der Tamino-Mitglieder war damals eine andere und man konnte immer wieder lesen, diese oder jene Aufnahme sei "auf der Stuhlkante" gespielt worden - oder eben nicht. Und damit verbanden einige (oder viele ?), daß

    eine Aufnahme "spannend" oder "langweilig" sei. Mein Ärger über diese "Klassifizierung" sollte in diesem Threadtitel Ausdruck verliehen bekommen .......:P


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich weiß nicht, gegen das, was sich heutzutage teils so tummelt, erscheint der "unselige Nikolaus Harnoncourt" ja fast wie ein Säulenheiliger. Effekt um des Effekts willen, den Eindruck hatte ich bei Harnoncourt eigentlich nicht. Man mag seinen Pioniergeist ja hinterfragen, aber die Ernsthaftigkeit seiner Tätigkeit würde ich darüber nicht anzweifeln. Nicht immer aber doch häufig kam dabei auch etwas Hörenswertes, teils sogar Exzeptionelles heraus. Ich mag auch nicht alles, was uns Harnoncourt hinterlassen hat, ertappe mich aber gleichwohl von Zeit zu Zeit, ganz bewusst eine seiner Aufnahmen aufzulegen. Und das besagt, meine ich, auch etwas. So würde ich etwa seine Einspielungen der frühen Mozart-Symphonien bis heute in hohen Ehren halten wollen. Er dürfte der erste gewesen sein, der in den frühen C-Dur- und D-Dur-Symphonien die Pauken hinzufügte, was sich wissenschaftlich auch noch aus heutiger Sicht ziemlich einwandfrei als richtig erweist. Nur ein Beispiel: Mozarts Symphonie Nr. 20 KV 133. Erst bei Harnoncourt erkannte ich ganz zu Beginn des Kopfsatzes eine Ähnlichkeit zum Anfang der "Eroica" - die aber erst 30 Jahre später entstand. Könnte Beethoven dieses Werk gekannt haben? Das gibt zumindest Anregungen zum Nachdenken, wofür ich Harnoncourt dankbar bin.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Mit der Formulierung "spannende Interpretation" kann ich nicht so viel anfangen. Sie scheint mir Ausdrucks der Tatsache zu sein,dass wir in einem Zeitalter des Überflusses leben, nämlich an technisch ermöglichter Abrufbarkeit von Musik. Und bestimmte Werke werden in einem Übermaß aufgezeichnet. Mir erschließt sich der Mehrwert nicht, den ich von der Zigsten Aufnahme der Beethoven-Sinfonien haben soll, um nur ein Beispiel zu nennen. Letztlich zählt nur ein Kriterium: erreicht mich ein Werk, erreicht es mein Inneres oder tut es das eben nicht. Insofern sind Hörerlebnisse nicht oder nur kaum verhandelbar. "Spannend" stammt aus dem gleichen Sprachreseservoir wie "gegen den Strich gebürstet", "keine Kanten geglättet", "auf Siedehitze dirigiert".Zumeist wirkt das auf mich abwertend, da mit diesen Beschreibungen das Exzeptionelle einer Aufnahme (zumeist ein Studiomachwerk mit unzähligen Schnitten wie auf dem Tisch eine Schönheitschirurgen oder eine nachbearbeitete Live-Aufzeichnung) unterstrichen und Vorhandenes in den Bereich des Biederen, Allgemeinen geschoben wird. Tatsächlich scheint das eine moderne Marotte zu sein, da gerüttelt Maß an Vergleichsaufnahmen vorhanden sein muss. Früher tauschte man sich aus über das, was man in Rundfunk und Konzert hörte. Das beliebte Beschwören des Neuen, Anderen scheint mir vor allem eine Marketingattitude zu sein, denn irgendwie muss man den Leuten klar machen, dass von einem bestimmten Werk mal wieder einen neue Plate gekauft werden müsse, da die Aufnahme das Werk in nie zuvor gehörter Weise darböte. Aus Sicht der Firmen geht es nur um eines:Platte verkaufen. In Bezug auf das Programm heißt das vor allem: kein Risiko Wir werden erstickt mit den immer selben Beethovenbrahmsbrucknermozarthaydnschubertstraussbachvivaldihändelmendelsohnundbruch und wenn man in diesem Hamsterrad mitläuft mag es vielleicht wirklich hilfreich sein, wenn eine Aufnahme "Spannend, gegen den Strich gebürstet, kantig und ungeglättet und idealerweise noch auf Siedehitze dirigiert" ist. Und wenn man sowas mag und braucht.


    A propos Harnoncourt: ich finde den wirklich nicht übel. Der hat ja nicht nur das Gängige gespielt sonder auch viel Unbekanntes erforscht und aufgenommen. Ich frage mich nur, warum man sich stets auch noch an Beethoven austoben muss. Wahrscheinlich, weil Beethoven spannend ist.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Harnoncourt: ich finde den wirklich nicht übel. Der hat ja nicht nur das Gängige gespielt sonder auch viel Unbekanntes erforscht und aufgenommen. Ich frage mich nur, warum man sich stets auch noch an Beethoven austoben muss. Wahrscheinlich, weil Beethoven spannend ist.

    Lieber Thomas,


    ich habe mich ehrlich gefreut, Deinen Namen hier wieder regelmäßig zu lesen! Deine Beiträge habe ich sehr vermißt.


    Auch ich finde Harnoncourt gar nicht übel, aber Deinen Einwand betr. Beethoven kann ich gut nachvollziehen. Mir ging es ähnlich bei Mozart: Die Teldec-Aufnahmen der Sinfonien mit dem Concertgebouw-Orchester mögen ihre Meriten haben, vor allem was die exakte Beachtung der Wiederholungszeichen angeht, aber die Interpretation schien mir über weite Strecken kalt und ziemlich - lieblos. Da schätze ich doch sehr meinen "alten Böhm".

    Hingegen hat mich die etwa zu gleicher Zeit entstandene Aufnahme der Mozart-Konzerte KV 488 & KV 537 mit Friedrich Gulda restlos überzeugt, und das sowohl was den Pianisten als auch Harnoncourt betrifft. Für mich die überzeugendste Leistung Harnoncourts auf Platten außerhalb der Barockmusik:


    Mozart: Piano Concerto No. 23/26 by Harnoncourt & Gulda (2000-06-20)



    Ohne mich hier als Laie weiter in eine doch etwas fachmännische Diskussion einschalten zu wollen, möchte ich doch einen alten Artikel hier einstellen, weil ich denke, daß er noch heute eine gewisse Aktualität hat. Er erschien im Januar 1959 in dem renommierten Hamburger Wochenjournal DIE ZEIT mit dem Titel "Gibt es moderne und unmoderne Interpretationen?" und zeigt, daß schon damals über Modeerscheinungen in der Musik nachgedacht wurde. Hier ist der Essay:


    Eine klangtechnisch glänzend wiedergegebene, aber ohne Geist dirigierte Symphonie langweilt, eine inspirierte Interpretation desselben Werkes fesselt auch dann, wenn die Wiedergabe nicht den letzten technischen Errungenschaften entspricht - viele ältere Aufnahmen großer Künstler bieten hierfür beredte Beispiele. (...)

    Ein weiteres Argument gibt diesem Grundsatz erhöhte Bedeutung. Das Erleben einer Komposition ist das Ergebnis öfteren Hörens, zu einer Zeit, in einem Ausmaß, wie es der Hörer selbst bestimmen kann, was letztlich nur die Schallplatte gestattet. Öfteres Hören ein und desselben Werkes aber erfordert schon deshalb die höchste Qualität der Interpretation, weil die Empfangsbereitschaft des Hörers leicht abgenutzt wird: Je genialer die Interpretation, desto ausdauernder ist die Aufnahmefähigkeit des Hörers.

    Oft heißt es, die Interpretation klassischer Musikstück unterliege ebenso wie die Kleidung der Mode, die Methoden der Interpretation wandelten sich, sie seien vom allgemeinen Zeitgeist abhängig, und der Interpret habe dem Rechnung zu tragen. Doch die praktische Erfahrung bestätigt diese Auffassung nicht. Jede ernstzunehmende Interpretation erwächst aus zwei Grundtatsachen: der vom Komponisten verfertigten Partitur, zu der auch die dynamischen und sonstigen Ausführungsbestimmungen gehören, und die Belebung dieses Notenbildes durch den ausführenden Künstler. Eine noch so sorgsame Beachtung der Notenwerte und der Bezeichnungen bedeutet an sich noch nicht mehr als eine 'Ausführung'. In ihrer nackten Wiedergabe bleiben die Noten nichts als Noten; die Angaben des Komponisten erhalten ihren musikalischen Sinn und Wert erst durch das Hinzutreten eines zweiten Faktors. Dieser Faktor ist die 'Auffassung' des Interpreten. Sie besteht in der Vorbereitung und Befreiung der dem Notengefüge innewohnenden Spannungen verschiedenster Art und ist in sich eine schöpferische Leistung. Auf der einen Seite läßt nun auch die genaue Wiedergabe des Notentextes verschiedene Auffassungen zu, entsprechend der Persönlichkeit des Interpreten; andererseits müssen diese Auffassungen, wenn sie nicht in Willkür ausarten sollen, sich streng an die Partitur halten, ferner auch an das, was hinter dem Text steht: den Stil. Der 'Stil' eines Musikstückes hat seinen Ursprung in der Person und der Zeitgebundenheit des Komponisten wie auch der Kompositionsgattung. Jede Interpretation, die sich an diese Gegebenheiten hält, wird, sofern sie in spieltechnischer oder stimmlicher Hinsicht den Anforderungen genügt und als geistige Leistung des Interpreten Berechtigung hat, ihren absoluten Wert behalten. Die alten Aufnahmen Carusos oder Schaljapins, die Darstellung Chopin'scher Werke durch Cortot, Rubinstein oder Lipatti, Fritz Buschs 'Don Giovanni' , Erich Kleibers 'Rosenkavalier', Wanda Landowskas Bach- oder Arthur Schnabels Beethoven-Aufnahmen - um nur einige der bedeutsamsten zu nennen - sind zeitlos gültig, sie behalten unabhängig von jeder Mode ihren Wert. Im Gegenteil: 'Mode' in der Darstellung kann den wahren Gehalt der Musik verhüllen oder gar entwerten.

    Wie weit die Möglichkeiten einer zeitlos gültigen Interpretation ohne Beeinträchtigung des Werkes selber voneinander abweichen können, dafür gibt es zahlreiche Belege; man denke nur an die grundverschiedenen, aber doch gleicherweise gerechtfertigten Darstellungen des Violinkonzertes von Ludwig van Beethoven durch Wolfgang Schneiderhan (DGG), Zino Francescatti (Philips) und Jascha Heifetz (RCA). Man könnte unzählige weitere Beispiele anführen, wenn sie nicht den Raum, der hier zur Verfügung steht, sprengen würden.


    Ich habe vor einiger Zeit mal Beethovens Fünfte mit Teodor Currentzis gehört. Das mag ja modern und vor allem sensationsträchtig sein, aber mit Beethovens Musik und Intentionen hat das m.E. wenig bis gar nichts zu tun. Auffallen um jeden Preis, scheint mir hier die Devise zu sein.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

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