Die funktionsharmonische Analyse allein reicht bei Wagner allerdings nicht aus, wenn man versuchen will, zu verstehen, was er da macht, was man daran mag oder auch nicht. Für mich ist z.B. immer wichtig, wie er denn die Stimmführungen im Satz vertikal und horizontal aufbaut (das Voicing, wie man im Jazz- oder Pop sagt), welche emotionalen Wirkungen die jeweiligen Intervalle auslösen, welche Funktionen z.B. ein -9b-Intervall beim ihm hat, wie er das auflöst, oder in neue Spannungen überführt……etc.
Lieber Glockenton,
nun hole ich einiges Versäumte und Aufgeschobene nach! Diese Stimmführungsproblematik finde ich auch sehr wichtig - gerade hier weist Wagner in Richtung Neue Musik. Stichwort: "Stimmführungsdissonanzen" bei Schönberg. Carl Dahlhaus hat sehr schön an einigen Beispielen von Wagner gezeigt, wie die Stimmführungsbewegung an die Stelle einer rein harmonischen Sukzession tritt. Da ist ein großes Vorurteil der traditionellen Musiktheorie im Spiel - die sich immer an der Harmonik als "Zeit"-Phänomen orientiert aber den Bewegungscharakter von Musik unterschlägt. Das populärste Vourteil ist wohl, dass Musik eine reine Zeitkunst sei. Über diese Vernachlässigung von Bewegung und Raum in der Musiktheorie habe ich zuletzt einen Vortrag im Leuvener Husserl-Archiv gehalten.
Allerdings hätten jene Versuche von harmonischen Analytikern, den tonalen Bezug der Tristanharmonik zu erklären (gab es das nicht schon zu seinen Lebzeiten?) bei ihm wahrscheinlich nur Verachtung hervorgerufen.
Ja - das Problem bei diesen Funktionsanalysen sehe ich darin, dass sie immer "Eindeutigkeit" unterstellen. Gerade bei Wagner zeigt sich aber, dass harmonische Bezüge eine unauflösliche Mehrdeutigkeit behalten und sich in dieser Disfunktionalität einer "Analyse" entziehen. Die Wissenschaft hat eben die Neigung, alles zu rationalisieren!
Das, was ich an nun der Kritik eines Nietzsche oder anderen vermisse, wäre dann auch, dass sie konkret ein Werk und eine Stelle beispielhaft benennen, also mit Taktangabe von ----> bis, und dann wirklich deutlich und fachlich beschreiben (von mir aus auch mit Kringeln um die Noten herum) was sie daran auszusetzen haben (oder eben anders herum, für die Anhänger seines Sounds).
Solche Kritiken muß man letztlich richtig zu nehmen verstehen, meine ich. Nietzsche wollte Musik wohl gar nicht analysieren, sondern von ihrer Wirkung und ihrer kulturellen, ästhetischen Bedeutung her beschreiben. Ich sehe das so, dass dies als hermeneutische Andeutung und Anregung für den Leser gemeint ist, das dann selber durch eigene Analyse und Erfahrung zu bestätigen. "Exakte" Analysen können für sich genommen auch im sehr öden Fliegenbeinzählen enden (wobei die Analytiker sich dann unendlich darüber streiten, wie viele Fliegenbeine es eigentlich gibt). Ästhetische Betrachtungen geben der Analyse Orientierung und Sinn, das man überhaupt weiß, was man eigentlich analysieren soll, damit die Analyse nicht nur Banalitäten oder szientistische Selbstläufer produziert, sondern wirklich zu einem bereichernden und klärenden Sinnverständnis von Musik führt.
Leute wie Goethe und Nietzsche sind geniale Virtuosen, wenn es um die Macht des Wortes geht, aber sie weichen doch zwangsläufig immer auf genau auf das Spielfeld ihrer ureigenen verbalen Ebene aus, wenn sie ihre Thesen über eine Musik mit Argumenten hinterlegen.
Die Gefahr ist natürlich, dass diese Art über Musik zu schreiben, sich in ihrer eigenen Logik zirkulär verfängt. Deswegen muß man das als (kritischer) Leser finde ich aufbrechen. Wobei ich finde, dass Nietzsche viel näher am Phänomen und Wagner-"Erlebnis" dran bleibt als etwa Adorno. Mit seinem Wagner-Buch habe ich bis heute große Schwierigkeiten, weil ich letztlich nicht weiß, ob Adorno statt über Wagner eigentlich über sich schreibt. Bei Mahler ist das anders - da paßt Adornos "negative Dialektik" einfach genau zum Phänomen Mahler.
Der pompöse Beginn hat aber auf mich immer eine ganz pompöse Wirkung, er zieht mich wie in einem Sog sofort hinein ins dramatische Geschehen. Man hat gar keine Möglichkeit, sich abzuwenden. Ähnlich wirkt auf mich der Beginn des Holländer. Der hat auch diese Sogwirkung.
Ja, lieber Rheingold. Das ist das "Problem" von Wagners Rhetorik. Man kann sie kaum eliminieren und sie zieht uns unwiderstehlich in ihren Bann. Aber das liegt im Wesen von Rhetorik überhaupt, dass sie uns "vereinnahmt".
Celibidache hat die Meistersinger auch noch in der Oper dirigiert und danach ganz Abstand genommen von Opernaufführungen. Sie seien zu "unsauber", sagte er. Damit war gemeint, dass sich ein so langer Opernabend nicht bis ins allerletzte Detail bestimmen lasse. Es würden sich zu viele Ungenauigkeiten einschleichen, was ja stimmt. Darin sehe ich aber - gerade bei Wagner - einen Teil der elementaren Wirkung.
Ich habe mir gestern Abend den Celibidache mit der Meistersinger-Ouvertüre nochmals in Ruhe ganz angehört und war sehr fasziniert - die CD habe ich mir eben bestellt!
Herzlich grüßend
Holger