Und wenn angeblich das emanzipatorische Interesse so zweitrangig ist in Deinen Augen, warum wurde dann Schiller mit seinen "Räubern" über Nacht berühmt?
Lieber Holger,
er wurde damit berühmt, weil er ein großartiges, mitreißendes und extrem wirkungsmächtiges Stück auf die Bühne brachte, dessen Kritik am System zudem einen wunden Punkt traf. Berühmt ist die Wirkung, die das Stücke seiner Zeit hatte:
"Das Theater glich einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht."
Das zeigt doch, dass das Stück auf dramatischer Ebene sehr gut gemacht ist - und damit bezeichne ich seine außerordentlich unterhaltsame Wirkungsmacht. Die es übrigens bis heute behalten hat. Für mich gehört die von Dir zu Recht angesprochene "empfindsame Rührung" auch zur Kategorie Unterhaltung, da sie die Sinne anspricht. Wie das Wort Unterhaltung im 18. Jh. verwendet wurde, spielt doch gar keine Rolle, ich habe es natürlich aus unserer Perspektive des 21. Jh. verwendet und will hier nicht zu kleinteilig werden. Deine These war doch, dass es eine Zeit gab, in der das Bürgertum quasi nur "Gesellschaftskritik auf der Bühne sehen wollte" und dass Unterhaltung keine Rolle spielte. Das ist meines Erachtens wie gesagt nicht haltbar und geht am Bedürfnis der Zuschauer damals und heute vorbei. Wenn es nicht unterhaltsam oder wirkungsmächtig ist, wird die Gesellschaftskritik nicht wahrgenommen. Das wusste Schiller genau, und natürlich wollte er über diesen rührenden oder bewegenden Zustand hinaus auch eine moralische Wirkung erzielen. Im Spätwerk (Braut von Messina) setzt er dann einen kommentierenden Chor ein, um den Zuschauer auf der moralischen Ebene anszusprechen (was auf Brecht vorausweist). Und das gelingt nur deshalb einigermaßen, weil er selbst diese - überspitzt gesagt - verkopfte dramaturgische Idee (die er von den Griechen übernommen hat) wirkungsmächtig umzusetzen weiß. Aber das Stück war natürlich lange nicht so erfolgreich wie die viel unterhaltsameren Räuber. Du kennst seine Schriften, ich auch - das müssen wir hier nicht vertiefen, interessiert auch keinen. Die Reaktionen auf Schillers Räuber zeigt jedenfalls, dass das eine famose Show gewesen sein muss, die die Menschen zutiefst bewegt hat. Schiller hat seine luzide Gesellschaftskritik eben über die grandiose Wirkungsmacht des Stücks an die Menschen gebracht, er war bei allem Anspruch immer ein großartiger Dramatiker, darin auch viel besser als Goethe.
Du sagst: "Für Schiller ist die moralische Wirkung im ästhetischen Erleben entscheidend (und gerade nicht die Unterhaltung)". Das stimmt natürlich absolut! Aber er hat sich aller Möglichkeiten bedient, den Weg dorthin fesselnd, rührend, dramatisch usw. zu gestalten, er war ein Meister im Dramatisieren des ästhetischen Erlebens. Und auch deshalb sprechen diese Stücke noch heute zu uns. So, das war nun wirklich das Letzte, was ich dazu sage.
Viele Grüße
Christian