Während des Auftritts von Jonas Kaufmann wurde es unruhig im Großen Saal der Elbphilharmonie, nicht nur einzelne, sondern mehrere Besucher schlichen sich hinter den Zuschauerreihen Richtung Eingangsbereich, um von dort aus besser hören zu können, manche gingen gar. In der nächsten Liedpause wurde nicht nur gehustet, sondern von Teilen des Publikums Unmut geäußert, man würde den Sänger überhaupt nicht hören können. Kaufmann zeigte sich zunächst irritiert, ließ sich nach freundlichem Beifall des vor ihm sitzenden Publikums aber nicht weiter beirren. Was war geschehen, eigentlich nichts, nur sang der Tenor, wie üblich, nach vorn, so dass seine Stimme, physikalischen Regeln gehorchend, den hinter dem Orchester Sitzenden nicht mehr an deren Ohr gelangte, bzw. von dem Mahlers „Lied der Erde“ spielenden Sinfonieorchester Basel (Leitung Jochen Rieder) übertönt wurde. Wir saßen auch schon einmal hinter dem Orchester und hörten dort ganz wunderbar eine Mahler-Sinfonie; den im Vorprogramm im Rahmen eines modernen Stücks auftretenden Bariton Bo Skovhus, der auch nicht schlecht bei Stimme war, hatten wir allerdings auch akustisch kaum wahrgenommen. Wer ist daran Schuld, sicher nicht der Konzertsaal, dessen Akustik auf Orchester (deren Instrumente den Schall in alle Richtungen abgeben) eingerichtet ist, sicher auch nicht der Sänger, den man selbst in der Oper nicht hören würde, wenn er, hinter dem Orchester positioniert, in den Bühnenraum hineinsingt. Bei Mahlers Lied der Erde kommt hinzu, dass das Stück schon eine gewisse Lautstärke braucht, um Wirkung zu zeigen. Zuletzt sahen wir es vor geraumer Zeit als Neumeier-Ballett. Obwohl die beiden Sänger (Tenor und Bariton) akustisch günstig seitlich ganz vorn am Bühenportal aufgestellt waren, hörte man den Bariton kaum, den Tenor Klaus Florian Vogt wegen seiner glanzvollen Stimme aber schon; schon wegen seiner hellen Stimmfarbe war er aus dem auch nicht leisen Orchesterklang herauszuhören gewesen.
Jonas Kaufmann hatte heute beide Rollen übernommen, die des Tenors und die des Baritons; er sang, nach etwas vibratoreichem Beginn beim „Trinklied vom Jammer der Erde“ mit silbrig-goldenem Timbre ganz wunderbar und machte auch bei den tiefer liegenden, für Bariton geschriebenen Liedern mit modulationsfähiger Stimme Eindruck. Das Sinfonieorchester Basel klang ebenfalls ausgezeichnet. Vor der Pause war Franz Schuberts (1797-1828) letzte, unvollendete Sinfonie gespielt worden, allerdings mit Einsprengseln von Luciano Berio (1925-2003). Letzteres hörte sich an, als ob die Musiker aus dem Tritt kämen und etwas Zeit bräuchten, um sich wieder mit Schubert zurechtzufinden. Aber, wie gesagt, sie spielten ausgezeichnet.
Wer hatte nun Schuld an der vorgenannten Unruhe? Hätte Kaufmann wissen müssen, dass er mit einem Mahler-Orchester im Rücken die noch weiter dahinter sitzenden Zuhörer nicht hätte erreichen können? Bei seinem letzten von uns gehörten Liederabend mit Diana Damrau stand nur ein den Gesang dezent begleitender Flügel und nicht ein 80-Mann-Orchester auf dem Podium. Vielleicht liegt es auch am Veranstalter, er hätte ja die Laeizshalle für diese Art der Darbietung wählen können. Da hätte Kaumann für alle hörbar vor dem Orchester gesungen. Wäre der Saal aber ebenso gut zu füllen gewesen wie die Elbphilharmonie? Jedenfalls amortisieren sich die vermutlich hohen Gagen des weltberühmten Sängers in der Elbphilharmonie wohl eher als in der Laeiszhalle. Außerdem sollte man als Zuschauer mittlerweile schon wissen, dass auf den (preiswerteren) Plätzen hinter dem Orchester nach vorn zum Parkett hin (und nicht nach hinten) gesungen wird. Da wir dieses Malheur auch schon einmal erlebt hatten (unser Pro Arte-Abo-Plätze befinden sich jetzt innerhalb des gesanglichen Schalltrichterbereichs im Bereich V), hatte ich für die oben genannte Wanderung einiger Zuschauer aus dem toten Winkel heraus nach vorn durchaus Verständnis. Viele liebe Grüße, Ralf Reck
PS: falls dieser text besser woanders aufgehoben wäre, möge man ihn bitte dorthin verschieben.