In der NZZ las ich gestern einen sehr interessanten Artikel von Rainer Hank.
Er berührt einige Fragen mit denen wir uns in dem Forum auch gelegentlich beschäftigen.
Sein Text ist die gekürzte Wiedergabe eines Referats, das er am 1. September 2019 im Rahmen des Lucerne Festival beim NZZ-Podium «Macht» gehalten hat.
Ob er je wirklich zugestochen hat, ist nicht bekannt; doch er warf mit Dingen nach seinen Musikern und scheute sich auch sonst nicht, Macht auszuüben: Arturo Toscanini (1867–1957) gilt bis heute als Prototyp des autoritären Dirigenten. (Bild: Emmerich Gara / Getty Images)
Die Gewalt der Töne
Musik übt unmittelbar Macht über unsere Gefühle und Empfindungen aus und vermag die Rationalität auszuschalten. Das verleiht ihr gleichermassen Licht- wie Schattenseiten.
Rainer Hank
29.9.2019
«Dirigenten sind verkappte Diktatoren, die sich glücklicherweise mit der Musik begnügen.» Der Ausspruch wird dem grossen deutsch-rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache zugeschrieben und ist in Wirklichkeit viel weniger kokett, als er vermutlich gemeint war. Denn er enthüllt, dass es bei der Herstellung von Musik im Kern um Macht geht. Zugleich entfaltet Musik auch in ihrer Wirkung grosse Macht: Sie bedient sich menschlicher Emotionen unter raffinierter Umgehung der kühl-distanzierten Rationalität.
Ihrer ästhetischen Unschuld beraubt, zeigt die Musik somit gleichsam im Brennglas, wie Macht funktioniert und was sie anzurichten vermag. Macht ist weder per se gut, noch ist sie per se schlecht. Sie ist einfach da, mal attraktiv, mal abscheulich, mal begehrt, meist geleugnet. Wir werden die Macht nicht los, ob wir wollen oder nicht. Sie gehört zur «condition humaine». John Locke nennt sie einen «Trieb unserer Natur».
Dirigent und Orchester
Was gibt dem Dirigenten seine Macht? Im letzten Teil von «Masse und Macht», dem 1960 erschienenen philosophischen Hauptwerk Elias Canettis, findet sich eine berühmte Miniatur über den Dirigenten und seine Macht. Dass es im Orchester um Macht gehe, sei nur deshalb so selten aufgefallen, weil alle meinten, es gehe – nur – um Musik. Folgen wir Canetti: Der Dirigent steht. Er allein steht. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer. Diese oder jene Stimme erweckt er plötzlich zum Leben – durch eine kleine Bewegung mit der Hand oder dem Stab. Die Verschiedenheit der Instrumente steht für die Verschiedenheit der Menschen. Ihre Bereitschaft, zu gehorchen, ermöglicht es dem Dirigenten, sie in eine Einheit zu verwandeln.
In der politischen Ökonomie würde man den Dirigenten als einen «benevolenten Diktator» beschreiben. Er ist ein Tyrann, aber er will vorgeblich ja nur das Beste: nämlich höchste künstlerische Qualität. Das war allemal das kampfabwehrende Argument – von Toscanini über Karajan bis jüngst zu Daniel Barenboim –, wenn es um Kritik am autoritär-cholerischen Verhalten des Maestro ging. Für den Dirigenten sind die Männer und Frauen an den Holzbläserpulten oft auch nicht Herr oder Frau Müller, sie sind einfach «die Oboen» oder «die Klarinetten». Individualität würde stören, die persönliche Geschichte der Musiker tut nichts zur Sache.
Was Canetti übersehen hat: Auch eine Diktatur hat ihre Dialektik. Die Untergebenen, das Orchester, die «Objekte» der Macht, sind alles andere als ohnmächtig. Oder anders gesagt: Es gibt eine geheime Macht der Ohnmächtigen, die sich nicht nur aus ihrer zahlenmässigen Überlegenheit ableitet. Das Orchester hat sublime Möglichkeiten der Gegenwehr. Es kann den Mann da vorne am Dirigentenpult auflaufen lassen, ihm seine Entbehrlichkeit demonstrieren. Es kann sogar putschen. Kurzum: Dirigent und Orchester, so gegensätzlich sie sind, leben in einer Art Symbiose, sind auf Gedeih und Verderb voneinander abhängig.
Man kann das Unternehmen «Orchester» als Urform einer – zeitlich begrenzten – Diktatur mit streng vorgegebener Rollenhierarchie deuten. Man kann es somit als Vorlage nehmen zum besseren Verständnis anderer Organisationen: Wirtschaftsunternehmungen und Staaten zum Beispiel. In einem Wirtschaftsunternehmen gelten die Gesetze der Macht, nicht die des Marktes. Eine Firma ist eine autoritäre Veranstaltung mit strikter Hierarchie und mit einem CEO oder Verwaltungsratspräsidenten an der Spitze. Präzise Berichtslinien von unten nach oben und Befehlslinien von oben nach unten müssen beachtet werden.
Das Gerede von flachen Hierarchien, was eine Art demokratischer Gleichberechtigung suggeriert, ist meist nur Rhetorik der Management-Literatur. Die «Firma» ist und bleibt eine autoritäre Veranstaltung. Warum? Weil es effizienter ist, nicht alles Wirtschaften den freiwillig-egalitären Tauschprozessen des Marktes zu überlassen: Arbeitsteilung schafft Effizienz durch Grössenvorteile (Skaleneffekte) und verringert Transaktionskosten.
Es mag überraschen, doch im Vergleich zu Orchestern und Wirtschaftsunternehmen sind Staaten die am wenigsten auf die Macht eines Einzelnen bezogenen Organisationen. Während die Stellung des Dirigenten in seinem Orchester im Lauf der Zeit und sogar noch über 1945 hinaus immer diktatorischer wurde, wurde die Macht des Staatslenkers in der Neuzeit immer mehr begrenzt: Demokratische Wahlverfahren sind Entmachtungsverfahren. Gewaltenteilung begrenzt, wie der Name schon sagt, die Autorität der Regierungen. Demokratien hegen die Macht ein. Hier geht es weniger autoritär zu als in einer Firma oder in einem Orchester.
Doch seit geraumer Zeit ist eine politische Gegenbewegung unübersehbar, die auf eine neuerliche Monopolisierung der Macht hinausläuft. In Wladimir Putin lebt die zaristische Tradition, in Recep Tayyip Erdogan das Sultanat wieder auf. Trump, Johnson, Orban e tutti quanti – es sind Männer an der Staatsspitze, die sich offen zur Lust an der Macht bekennen und darin ganz offensichtlich nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Untergebenen gefallen. Sie verwandeln offene Demokratien in protektionistische Autokratien. Trump und Co. wollen ein Land wie eine Firma – oder eben ein Orchester – führen: autoritär.
Was aber unterscheidet gute Macht von böser Macht? Macht ist in der Regel immer dann unproblematisch, wenn sie begrenzt wird. Der Dirigent ist als Tyrann nicht nur deshalb relativ harmlos, weil er Musik und keine Atombomben herstellt. Er ist vor allem deshalb ungefährlich, weil seine Macht mit dem letzten Applaus endet. Und weil er dem Wettbewerb durch die anderen, womöglich besseren, zeitgemässeren, jüngeren Konkurrenten ausgesetzt ist. Wettbewerb ist allemal das beste und fairste Entmachtungsverfahren.
Vernunft und Emotion
Dass die Musik eine erschütternde, weltverändernde Macht hat, ist nicht neu. Es ist die alte Geschichte von Orpheus, die seit der Antike die Dichter und Komponisten immer wieder angeregt hat. Immer schon war es den Menschen nicht ganz geheuer, was die Musik mit ihnen anrichtet, wenn sie sie hören. Musik galt in den ästhetischen Theorien unter allen Künsten als die problematischste, weil sie sich der Vernunft zu entziehen scheint – und direkt und ohne Kontrolle auf die Emotionen trifft. Emotionen wie Reaktionen auf bestimmte Reize sind Kräfte, die uns zum Handeln zwingen. Diese Kräfte können von der Musik ausgelöst werden, unter Umgehung oder gar Ausschaltung unseres Willens. Womöglich werden sie sogar durch die Musik erst ins Werk gesetzt?
Kaum irgendwo wird das so anschaulich wie in Heinrich von Kleists Novelle «Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik». Darin machen sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts, als die Bilderstürmerei in den Niederlanden wütete, drei niederländische Halbstarke nach Aachen auf, um das Kloster der heiligen Cäcilie – bekanntlich die Schutzpatronin der Musik – zu stürmen und dem Erdboden gleichzumachen, und zwar just an dem Tag, an dem die Nonnen das Fronleichnamsfest feiern. Die Halbstarken werden jedoch von der einsetzenden Kirchenmusik so stark ergriffen, dass sie ihren Plan nie ausführen, sondern ihr Leben fortan der unterwürfigsten Anbetung Christi verschreiben, die Formen des Wahnsinns trägt.
Die Macht, die Musik in Kleists Novelle entfaltet, geht von einer uralten Messe aus, wobei strittig ist, wer sie eigentlich dirigiert hat. Schwester Antonia, die Kapellmeisterin des Klosters, liegt todkrank in ihrer Zelle und kann es nicht gewesen sein. Kleist bietet in der Novelle zwei Deutungen an, die nebeneinanderstehen: Die fromme Deutung, der die Nonnen anhängen, glaubt, dass es die heilige Cäcilie selbst gewesen sei, die die Messe zur Aufführung gebracht und das Kloster vor der Verwüstung gerettet habe. Die Mutter der Halbstarken dagegen mutmasst, es müsse «die Gewalt der Musik» selbst gewesen sein, die es vermochte, den Burschen das Handwerk zu legen.
Die Musik hat die Gewalt, die Brüder auf schauderhafte Weise zu entrücken und seelisch zu zerstören. Fortan leben sie im Irrenhaus den ganzen Tag quasi körperlos «geisterhaft», essen nicht, trinken nicht, «bloss in der Verherrlichung des Heilands» begriffen. Kein Laut kommt über ihre Lippen. Aber regelmässig in der Stunde der Mitternacht erheben sie sich von ihren Sitzen, um mit einer Stimme, «welche die Fenster des Hauses bersten macht, das gloria in excelsis zu intonieren». Die Gewalt der Töne hat unmittelbar auf das Innere der Zuhörer eingewirkt, den destruktiven Willen der Bilderstürmer gelähmt und sie am Ende radikal verändert.
Die Macht der Musik changiert zwischen Spiel und Schrecken. Das könnte der Grund sein, warum viele Menschen, auch solche, die sich selbst als wenig «musikalisch» beschreiben würden, von der Musik ein Leben lang nicht wegkommen können und wollen. Die dazugehörige Musikästhetik des Erhabenen, die der Novelle Kleists zugrunde liegt, wurde zwar um 1800 entwickelt, ihre musikalische Umsetzung findet sich freilich mit am eindringlichsten bei Richard Wagner und, an ihn anschliessend, bei Richard Strauss und Gustav Mahler.
Beat und Manipulation
Was erfahren wir über die Macht, wenn wir versuchen, diese «Gewalt der Töne» zu verstehen? Der Zusammenhang liegt auf der Hand, nicht zuletzt durch das Stichwort Wagner. Der Gesamtkunstwerker war kompositorisch selbst eine Art Diktator, der seine Hörer mit allen Mitteln in den Bann ziehen wollte – und dies bis heute bei vielen vermag. Im Umkehrverfahren führt das indes dazu, dass Gesellschaften und ihre Herrscher sich die machtvolle, manipulative, ja destruktive Wirkung der Musik zunutze machen können. Je autoritärer das Regime, umso massiver der Einsatz wirkungsvoller Töne.
Kriegslieder etwa haben die Aufgabe, Loyalität herzustellen und haltbar zu machen. Um nicht viel anderes geht es bei den Schlachtgesängen in den Fankurven der Fussballstadien. Sie sind «reale» Kampfhandlungen, dienen der Ermutigung und dem Lobpreis der eigenen Mannschaft und wollen zugleich den Gegner aggressiv belästigen und beleidigen. Das Skandieren, «spontane Intonationsformen und Sprechchöre ohne klangliche Instrumentierung in der Nähe des Gebrülls» (Petra Gehring), ist weder Musik noch Sprache, eher Rhythmus, Beat, verbunden mit einer Art körperlicher Ekstase: ein Sprechakt der Körper in der Masse. Das Skandieren setzt nicht einfach nur Emotionen frei, die irgendwo still schlummern, sondern erzeugt sie in diesem Akt allererst.
Man könnte darüber nachdenken, wie sich die «Gewalt der Töne» gegen die heutigen Lügenpopulisten einsetzen liesse. Der DDR-Lyriker Reiner Kunze liess einmal in einem 1976 entstandenen Gedicht alle Orgeln Ostdeutschlands schlagen, «um die Lügen hinwegzufegen, von denen die Luft so schön gesättigt ist, dass der um Ehrlichkeit Bemühte kaum noch atmen kann».
Rainer Hank leitete bis zum Sommer 2018 die Wirtschafts- und Finanzredaktion der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». Er lebt als Publizist in Frankfurt am Main. Sein Text ist die gekürzte Wiedergabe eines Referats, das er am 1. September 2019 im Rahmen des Lucerne Festival beim NZZ-Podium «Macht» gehalten hat.