DESSAU, Paul: DIE VERURTEILUNG DES LUKULLUS

  • Paul Dessau (1894-1979):
    DIE VERURTEILUNG DES LUKULLUS
    Oper in 12 Szenen - Libretto von Bertolt Brecht


    Uraufführung der 1. Fassung als „Das Verhör des Lukullus“ am 17. März 1951 in Berlin, Deutsche Staatsoper;

    Erstaufführung der 2. Fassung am 12. Oktober.1951 ebenda.


    Personen der Handlung:
    Lukullus, römischer Feldherr (Tenor)

    Friesgestalten:

    Der König (Bass)

    Die Königin (Sopran)

    Zwei Kinder (stumm)

    Zwei Legionäre (Bässe)

    Lasus, Koch des Lukullus (Tenor)

    Der Kirschbaumträger (Tenor)

    Totenschöffen:

    Das Fischweib (Alt)

    Die Kurtisane (Mezzosopran)

    Der Lehrer (Tenor)

    Der Bäcker (Tenor)

    Der Bauer (Tenor)

    Tertullia, eine alte Frau (Alt)

    Frauenstimmen (Soprane im Orchester)

    Stimmen der drei Ausruferinnen (Soprane)

    Der Totenrichter (Bass)

    Eine kommentierende Frauenstimme (Sopran im Orchester)

    Fünf Offiziere (drei Tenöre, zwei Bässe)

    Sprecher des Totengerichts

    Drei Ausrufer

    Zwei junge Mädchen

    Zwei Kaufleute

    Zwei Frauen

    Zwei Plebejer

    Ein Kutscher

    Chor, Statisten: Menge, Volk, Sklaven, Schatten

    Kinderchor.


    Ort und Zeit: Rom und das Schattenreich im Altertum (etwa 56 v. Chr.).


    Szene 1: Der Trauerzug.
    Der römische Feldherr Lukullus ist gestorben und die wichtigsten Männer Roms geben seinem Katafalk das letzte und ehrende Totengeleit. Ein riesiger Fries, der sein Grabmal schmücken soll, und auf dem seine ruhmreichen Taten dargestellt sind, wird von Offizieren seines Regiments hinter dem Katafalk hergetragen. Nur das Volk, das neugierig an der Wegstrecke steht und den Trauerzug beobachtend begleitet, steht dem Ruhm des Feldherrn ablehnend gegenüber, denn es hatte nicht nur unter seiner Herrschaft zu leiden, sondern auch unter seinen Kriegen. Man darf sich also nicht wundern, dass es den Lobeshymnen auf Lukullus keinen Glauben schenkt, sondern im Chor ausruft

    Wann wird man uns mit dem Gewäsch von Ruhm verschonen?


    Zweite und dritte Szene: Das Begräbnis.
    An der berühmten Via Appia wird der Katafalk in einem Staatsakt in dem vorbereiteten Grab beigesetzt. Fünf Offiziere verabschieden sich mit militärischen Ehrenbezeigungen von ihrem ehemaligen Befehlshaber und wenden sich dann zynisch ihren Vergnügungen zu.


    Vierte Szene: In den Lesebüchern.
    Was in vielen Ländern üblich ist, wird auch in Rom praktiziert: Die Schulkinder müssen die Daten der Kriegszüge und Schlachten des römischen Eroberers auswendig lernen und wie mit dem Bogenpfeil geschossen aufsagen können.


    Fünfte Szene: Der Empfang.
    Im Vorraum zum Schattenreich muss Lukullus warten und regt sich darüber auf, dass er nicht sofort vorgelassen wird; die ihm auf der Erde gewährte Vorzugsbehandlung gilt hier nicht. Die alte Tertullia, die vor ihm an der Reihe ist, versucht ihn zu beruhigen und klärt ihn auf, dass vor den Richtern des Schattenreiches alle „Kandidaten“ gleich seien, denn auf den Nutzen eines Menschen geben sie das meiste.


    Sechste Szene: Wahl des Fürsprechers.
    Nach Tertullias Verhandlung, die schnell vonstatten geht, wird Lukullus aufgerufen und soll vor den Totenrichtern – einem Richter mit fünf Schöffen (einem früheren Fischweib, einer Kurtisane, einem Lehrer, einem Becker und einem Bauern) – Rechenschaft ablegen, ob er den Menschen „genützt oder geschadet habe“. Der ehemalige Feldherr wird aufgefordert, einen Fürsprecher zu benennen, und er wählt ohne lange zu überlegen, Alexander den Großen – offensichtlich sein großes Vorbild. Doch den kennt man hier nicht! Lukullus ist entsetzt, dass man hier den großen König und Eroberer nicht kennt und wählt den Fried, der seinen Triumphzug abbildet.


    Siebte Szene: Herbeischaffen des Frieses.
    Die Totenrichter bestehen zu Lukullus’ Erstaunen darauf, dass man die Schatten der auf dem Fries abgebildeten Menschen zum Erscheinen aufruft. Darunter sind natürlich auch Opfer seiner Machenschaften. Sein Einspruch gegen die Anordnung des Gerichts ist aber vergeblich.


    Achte Szene: Das Verhör.

    Der Fries wird von Sklaven herbeigeschafft und das Gericht ruft die Abgebildeten zur Aussage auf: ein König und seine Königin, zwei Legionäre, zwei Kinder, ein Koch und ein Kirschbaumträger sind als Zeugen aufgerufen, Lukullus’ Handlungen zu beschreiben. Das Gericht erfährt, dass der König samt seinem Reich unterworfen wurde, und seine Königin die von der Soldateska des Lukullus vergewaltigt wurde. Eine Kurtisane belastet Lukullus ebenfalls schwer, außerdem sagen zwei Kinder stellvertretend für Tausende von getöteten Kindern in den 53 von Lukullus zerstörten Städten ungünstig gegen ihn aus. Lukullus hält sich aber für schuldlos und behauptet, dass der König auch nicht gerade ein Ausbund an Gerechtigkeit gewesen sei. Lukullus verteidigt sich mit dem Hinweis, er habe schließlich auf Befehl Roms gehandelt. Das weist der Lehrer-Schöffe jedoch zurück mit dem Hinweis, dass nicht das Volk von Rom, sondern dass die Reichen hinter dem Befehl steckten. Zu Gunsten von Lukullus wird vermerkt, dass er Gold nach Rom gebracht und damit den Staatshaushalt stabilisiert habe. Plötzlich bemerkt der Richter, dass der Feldherr müde wirkt und ordnet eine Pause an.


    Neunte Szene: Rom.
    In der Verhandlungspause belauscht Lukullus das Gespräch von zwei hinzugekommenen Schatten, die das harte Los der römischen Bevölkerung schildern. Der Feldherr sehnt sich zurück nach Rom.


    Zehnte Szene: Das Verhör wird fortgesetzt.
    Das Fischweib, eine der Schöffen, hat nie etwas von dem Gold bemerkt und will wissen, was mit dem Gold geschehen sei. Lukullus wirft ein, dass er nicht „für Roms Fischweiber“ in den Krieg gezogen sei – aber mit „unseren Söhnen“ antwortet das Fischweib und teilt mit, dass man auch ihren Sohn eingezogen habe, der dann in einem der blutigen Kriege als Legionär getötet wurde. Zwei Legionäre werden aufgerufen und befragt, aber Lukullus lehnt es ab, mit diesen Zeugen zu sprechen, denn die „verstehen nichts vom Krieg“. Der Totenrichter ist von der Argumentation des Fischweibs angetan und wirft ein, dass gerade sie sehr wohl den Krieg beurteilen könne, denn sie habe ihren Sohn durch den Krieg verloren.

    Elfte Szene: Weiter im Verhör.
    Die Triumphe und Taten des Lukullus, meint das Gericht, können nicht für ihn sprechen, vielleicht aber seine Schwächen, die möglicherweise menschliche Züge auffinden ließen. Folglich lässt Lukullus seinen Koch rufen und der spricht für seinen Herrn. Als ein Liebhaber köstlicher Speisen bot Lukullus seinem Koch alle Möglichkeiten, sich zu einem Meister seiner Kunst zu entwickeln. Der Bauer, einer der Schöffen, lobt die Einführung des Kirschbaums aus Asien als die bedeutendste Tat des Feldherrn. Leider aber ist das auch ein Negativum, denn es wurden 80.000 Legionäre für die „Eroberung“ des Kirschbaums geopfert.


    Zwölfte Szene: Das Urteil.

    Diese 80.000 Gefallenen treten auf und mit ihnen spricht das Gericht schließlich das Urteil: „80 000 Menschen für einen Kirschbaum! Ins Nichts mit ihm und mit allen wie er“...


    Anmerkungen:

    1939 schrieb Brecht in seinem schwedischen (nach anderer Lesart in Dänemark) Exil das 1940 von Radio Beromünster (Bern) gesendete Hörspiel „Das Verhör des Lukullus“. Da Dessau einer Vertonung zunächst ablehnte, bot Brecht den Text Igor Strawinsky an, der allerdings auch absagte; später komponierte Roger Sessions das Radiostück „The Trial of Lucullus“ (1947).


    Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse wurde der ursprüngliche Schluss, der Gut und Böse gegeneinander abwog und kein Urteil fällte („Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück“), in der Oper dahingehend abgeändert, dass die Richter verkündeten: „Ah ja, ins Nichts mit ihm, und ins Nichts mit allen wie er!“ Als Zwischenstation auf dem Weg von dem anfänglichen Radiostück zur endgültigen Opernfassung fungierte die Probeaufführung (als „Das Verhör des Lukullus“) im März 1951. Bereits der endgültige Titel der Neubearbeitung, „Die Verurteilung des Lukullus“, zeigt die veränderte Akzentuierung an; die Premiere fand im Oktober 1951 unter Hermann Scherchen statt. In der Inszenierung von Wolf Völker und den Bühnenbildern von Caspar Neher sang Alfred Hülgert die Titelrolle. Als verbindlich hat sich eine Fassung (5. Fassung) mit vereinfachten Dialogen anlässlich der Leipziger Aufführung von 1957 erwiesen. Auch nach dieser Version nahm Dessau für eine Neuaufführung (Regie: Ruth Berghaus) an der Deutschen Staatsoper Berlin 1960 weitere Veränderungen vor, desgleichen für eine dortige Neueinstudierung anlässlich seines 70. Geburtstages 1965, die Berghaus-Inszenierung stand bis 2000 auf dem Spielplan der Berliner Staatsoper. Eine bemerkenswerte Inszenierung realisierte Dietrich Hilsdorf 1994 in Dessau.

    (Quelle der Anmerkungen: Rolf Fath)

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    MUSIKWANDERER

  • Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse wurde der ursprüngliche Schluss, der Gut und Böse gegeneinander abwog und kein Urteil fällte („Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück“), in der Oper dahingehend abgeändert, dass die Richter verkündeten: „Ah ja, ins Nichts mit ihm, und ins Nichts mit allen wie er!“

    DAS VERHÖR DES LUKULLUS


    Lieber Musikwanderer,


    wenn ich den Worten von Hans Borgelt, dem Autor des Buches "Das war der Frühling von Berlin" (Schneekluth-Verlag, München, 1980) glauben darf, so war die Entstehung und Rezeption des LUKULLUS wesentlich komplizierter, als aus Deiner Beschreibung hervorgeht. Die zahlreichen Änderungen, die nachträglich in Text und Musik vorgenommen wurden, waren weniger auf den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 zurückzuführen als auf ideologische Vorgaben der ostdeutschen SED und ihrer Führungsspitze.


    Die Premiere des Stücks fand unter dem obigen Titel am 17. März 1951 in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin-Ost, statt. Es war keine Probeaufführung, sondern die offizielle Premiere des Werks.


    Bereits im Vorfeld hat ein heftiger Kampf um die Aufführung der Oper stattgefunden. Es ging vornehmlich darum, ob das Werk als "realistisch", wie es die Parteilinie der SED verlangte, oder als "formalistisch", wie es nach neuesten Vorgaben aus Moskau nicht zu sein hatte, einzustufen sei. Selbstverständlich folgten die ostzonalen Machthaber gehorsam den Vorgaben des "großen Bruders".


    Die folgenden Zitate sind sämtlich dem oben genannten Buch von Hans Borgelt entnommen, der zum Zeitpunkt der Premiere des Stücks als Musik- und Kulturredakteur bei der "Berliner Zeitung" beschäftigt war, die in Ost-Berlin verlegt wurde.


    "Ausgerechnet in dieser wilden Zeit liefen in der Staatsoper die Vorbereitungen für ein ganz besonderes, aber plötzlich sehr gefährlich gewordenes Ereignis: die Uraufführung einer Oper von Bertholt Brecht mit der Musik von Paul Dessau; Titel: DAS VERHÖR DES LUKULLUS.

    Es war eine avantgardistische Oper. Ihre Musik fußte nicht unbedingt auf dem 'kulturellen Erbe', und sie erhob auch kaum Anspruch darauf, sich in die Ohren schlichter Werktätiger einschmeicheln zu wollen. Mit anderen Worten: Dessaus Musik war abstrakt und neutönend, kühn instrumeniert. Ja, es muß gesagt werden: sie war >formalistisch<.

    Aber - der Komponist war Altkommunist.

    Und der Inhalt, aus einem früheren Hörspiel Brechts weiterentwickelt: Lukullus, der römische Feldherr, gerät nach seinem Tod in das >Reich der Schatten< und wird schließllich vor das Gericht der Unterwelt gerufen. Dieses hatte zu entscheiden, ob eines seiner vermeintlichen Verdienste ausreicht, ihn vor der Verdammung ins Nichts zu bewahren (...) Ein Stück also, in dem nicht die Sonne des Optimismus lachte, obendrein mit unübersehbarer pazifistischer Tendenz, was in Anbetracht der Drohgebärden allüberall so gar nicht in die SED-Landschaft paßte ....

    Aber - der Dichter war Altkommunist.


    Es läßt sich leicht denken, daß der Intendant der Staatsoper, Ernst Legal, auf den dieses Stück sich mit rasanter Geschwindigkeit zubewegte, sich in einer prekären Lage befand. Zumal er mit dem Makel behaftet war, aus dem bürgerlichen Lager zu kommen.

    Im damals noch nicht durch die Sektorengrenzen behinderten Berlin sprach sich rasch herum, daß sich in der Staatsoper etwas tat, was möglicherweise zu einer Sensation werden könnte. Man hörte teils Wunderdinge von der Eigenheit des neuen Werks, und entsprechend hoch waren die Erwartungen des Publikums, doch zwei Tage vor der Premiere stand plötzlich an den Kassenschaltern: "Kein Vorverkauf", und wer am Premierenabend zur Oper eilte, wurde lapidar mit dem Wort "Ausverkauft" abgespeist.

    Hans Borgelt, der als Pressevertreter natürlich im Besitz einer Karte war, fährt in seiner Beschreibung fort: "Als ich meinen Platz einnahm, staunte ich noch mehr. Das ganze Parkett war von Mitgliedern der Volkspolizei und der FDJ besetzt, Uniformen gemischt mit Zivilkleidung. Da ging mir ein Licht auf: Das zuständige Ministerium hatte die Karten an ein 'ausgewähltes Publikum' verteilt; was da saß, war nichts anderes als ein Querschnitt durch das 'Volk der Werktätigen'. 'Vox populi' war hier befohlen."

    In der Ehrenloge hatten Staatspräsident Wilhelm Pieck und kein Geringerer als der 'Spitzbart' Walter Ulbricht, der sicher alles andere als ein Experte für Musik und Kultur gelten konnte, Platz genommen. Scheinbar sollte unliebsames Aufsehen vermieden werden, denn wie hätte es ausgeschaut, wenn zu diesem Anlaß keine offiziellen Vertreter erschienen wären?


    "Die Aufführung begann. Das Publikum, die meisten von ihnen wahrscheinlich zum erstenmal in einer Oper (...) erlebten in einer kühnen Tonsprache eine Musik, die sich schnell einprägte, mit folkloristischen Motiven neben kunstvoll durchgearbeiteten Zwölftonsätzen. Fast bewegungslos lauschten die Zuhörer. Zwei Stunden später erlebte die Staatsoper den sensationellsten Erfolg, den es je hier gegeben hatte, hallte der Raum von rasenden Beifallsstürmen wider."


    Nicht zuletzt klatschten die Uniformierten, während den von der SED-Führung bestellten Pfeifern bald die Luft ausging. Den Parteifunktionären ebenfalls. Sie blickten irritiert auf ihren Präsidenten, der sich nebst Begleitung ganz rasch entfernte und nicht mehr gesehen ward.

    "Was war geschehen? Ganz einfach: Dichtung und Musik, so schwer sie in Einzelheiten vielleicht verständlich war, hatten das Publikum in ihren Bann gezwungen, mitgerissen. Ein 'befohlenes' wie unvorbereitetes Publikum hatte dem neuen Werk ein echteren Empfang bereitet, als es einem versnobten Premierenpublikum jemals möglich gewesen wäre.


    Der Dirigent der Aufführung war übrigens kein Geringerer als Hermann Scherchen, der nach der so spektakulären Uraufführung entnervt das Feld räumte.


    Borgelt weiter: "Dessau und Brecht, immer wieder gerufen, tanzten voller Freude vor dem Vorhang umher, neben ihnen die genialen Helfer: Scherchen, Völker, Caspar Neher und die Sängerschar. (...)

    Ich schrieb eine überschwengliche Kritik und ging damit zum Verlagsleiter. 'Da haben sie die Reaktion des Publikums. Sie war ungeheuer.' Er hatte bereits davon gehört, schien es aber noch nicht wirklich zu glauben ....

    Meine Kritik erschien weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Keine Zeitung des Ostsektors nahm auch nur mit einer Zeile von dem Ereignis Kenntnis."


    Damit die Leser des Ostsektors nicht ausschließlich auf westliche Presseberichte angewiesen waren, beauftragte die SED-Führung schließlich den Kulturredakteur des SED-Zentralorgans 'Neues Deutschland', Franz Lüdecke, eine 'keimfreie' Kritik herauszugeben. Sie erschien am 22.3.1951 mit folgendem Wortlaut:


    "Ein hochbegabter Dramatiker und ein talentierter Komponist haben sich in ein Experiment verirrt, das aus ideologischen und künstlerischen Gründen mißlingen mußte und mißlungen ist. (...) Das Weltfriedenslager mit seinen mehr als 800 Millionen unter der Führung der Sowjetunion ist nicht nur kein 'Schattengericht', sondern es hat die reale Macht, alle Kriegsverbrecher einer sehr irdischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.

    Die Musik ist dünn und bruchstückhaft (....) Brecht selbst dürfte schon um 1940 (als sein Text entstand) zu der Einsicht gekommen sein, daß sein dichterisches Sinnbild nicht auf der Höhe der historischen Situation war und heute ganz offensichtlich nicht der Wirklichkeit entspricht."


    Nach Monaten des Schweigens, am 12. Oktober 1951, kam schließlich die Neuinszenierung des "Lukullus" heraus. Tatsächlich hatten Brecht und Dessau klein beigegeben und an ihrer Oper die befohlenen "Verbesserungen" vorgenommen. Dessau hatte sicher großes Interesse daran, sein erstes Musikdrama auf die Bühne zu bringen, und Brecht war bekanntlich keine Kämpfernatur. Er hatte seinen Text noch einmal überarbeitet und alle "anrüchigen" Stellen entweder gestrichen oder entschärft. Die entscheidende Änderung wurde aber dem Titel des Stücks zuteil: Aus dem 'objektivistischen' Titel 'Das Verhör des Lukullus' wurde 'DIE VERURTEILUNG DES LUKULLUS', und damit wurde der 'negative Held' von vorneherein abqualifiziert. Das genau entsprach den Wünschen und Vorgaben der SED.


    Ich zitiere noch einmal Hans Borgelt: "Brecht und Dessau wollten eine 'gewisse Disproportioniertheit berichtigen, die darin bestand, daß das Gericht musikalisch nicht so zu Worte kam wie der Angeklagte'. Genauer gesagt: die gerügte pazifistische Tendenz wurde abgeschwächt, der 'Verteidigungskrieg' dagegen aufgewertet. Und als Lukullus gefragt wurde, weshalb er im Schattenreich der Toten weile, antwortete er nunmehr:


    'Weil ich, das Land zu verteidigen, aufrief:

    Mann, Kind und Frau

    In Hecke und Wasserloch

    Mit Beil, Hacke und Pflugschar

    Am Tag, in der Nacht

    In der Rede, im Schweigen

    Frei oder gefangen

    Im Angesicht des Feinds

    Im Angesicht des Todes.'


    Wenig später siedelte Hans Borgelt nach West-Berlin über und war dort als freier Journalist für diverse Zeitschriften tätig. Er starb 2000 in Berlin.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Lieber nemorino, in Deinem Beitrag sehe ich eine ganz wichtige Ergänzung zum Thema, möchte aber auch erwähnen, dass musikwanderer die Quelle für seine Darstellung ausdrücklich erwähnt hat. Über die Entstehung der Oper, die ich – einschließlich ihres Werdegangs - für eines der bedeutendsten Werke des Musiktheaters nach dem Zweiten Weltkrieg halte, gibt es viel einschlägige Literatur – im Ost wie in West. Offenkundig reicht da eine Quelle nicht aus. Will man die Geschichte des Scheiterns der DDR nachvollziehen, landet man irgendwann bei der Auseinandersetzung um diese Oper. Die SED-Führung hatte nämlich in einem so zähen wie eiskalten Machtkampf versucht, sich über die Kunst das Sagen und das letzte Wort zu behalten. Künstler sollten auf den Sozialismus sowjetischer Prägung eingeschworen werden. Brecht und auch Dessau, so klug und hinterlistig sie waren, retten ihr Werk, indem sie sich nach außen unterwarfen. Und handelten wie Galilei, dem Brecht ein großes Lehrstück gewidmet hatte. Das ging aber nur eine Weile gut. Der Rest ist hinlänglich bekannt. Den Autoren schwebte vor, dass das Publikum die Einsicht gewinnen und selbst entscheiden sollte, was mit Lukullus zu geschehen habe. Es sollte auch Richter sein. Die Oberen in der DDR misstrauten dieser Dialektik, obwohl sie sich bei jeder Gelegenheit gern selbst darauf beriefen. So wurde – kurz gesagt - aus dem ursprünglichen Titel die Verurteilung des Lukullus.


    Die Premiere des Stücks fand unter dem obigen Titel am 17. März 1951 in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin-Ost, statt.

    Aufführungsort war die Ausweichspielstätte der im Krieg zerstörten Stasoper - der Admiralspalast (heute Metropoltheater) am Bahnhof Friedrichstraße. An ihrem angestammten Platz Unter den Linden wurde das Haus erst 1955 wiedereröffnet.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Eine bemerkenswerte Inszenierung realisierte Dietrich Hilsdorf 1994 in Dessau.

    (Quelle der Anmerkungen: Rolf Fath)

    nixx Dessau - Aalto Theater Essen; und zwar sicher: ich bin seinerzeit zweimal drin gewesen - Horst Hiestermann war der Lukullus und Wolf Dieter Hauschild hat dirigiert . . . - meine Güte, sechzehn Vorstellungen gab es seinerzeit (aus Gründen, die hier zu weit führen, weiß ich's zufällig genau!); 30 J. später dürfte man wohl froh sein, wenn sie wenigstens halb so viele anböten!

    Egoismus in der Wolfshaut, Egoismus im Schaafpelz. Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft. Energie ohne Grundsäze, Grundsäze ohne Energie. Strenge ohne Menschlichkeit, Menschlichkeit ohne Strenge. Heuchlerische Gefälligkeit, schaamlose Unverschämtheit, altkluge Jungen, läppische Männer. Man könnte die Litanei fortsezen von Sonnenaufgang bis Mitternacht und hätte kaum ein Tausendtheil des menschlichen Chaos genannt! (Hölderlin, Brief an J. G. Ebel, 10.01.1797)

  • Ich habe das Stück in Essen gesehen (mit Hiestermann in der Hauptrolle). Einige Zeit vorher (ich muss das Programm noch finden) wurde es in Gelsenkirchen gespielt. Eine Inszenierung vom großartigen Regisseur Jaroslav Chundela, der leider früh starb. Hier hatte die Hauptrolle Mario Brell, der vorzügliche Charaktertenor des Hauses. Es gibt so etwas wie eine Arie im klassischen Sinne, der Hit des Stückes, die Klages des Fischweibes über ihren gefallenen Sohn Faber; eine sehr bewegende "Arie". Überraschend auch hier ein Motiv Brechts: die gefallenen Krieger in der Unterwelt wollen/dürfen ihren Müttern nicht begegnen, die sie in den Krieg geschickt haben...

    Ich habe auch eine CD, aber die muss ich erst suchen. Insgesamt eine sehr lohnende Oper! Im Opernorchester freuen sich immer die Geiger, wenn dieses Stück angesetzt ist, dann können sie nämlich zu Hause bleiben.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • die Klages des Fischweibes über ihren gefallenen Sohn Faber; eine sehr bewegende "Arie",

    die - irre ich jetzt nicht sehr - (über weite Strecken wenigstens) nur von einem Akkordeon begleitet wird:!:

    Egoismus in der Wolfshaut, Egoismus im Schaafpelz. Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft. Energie ohne Grundsäze, Grundsäze ohne Energie. Strenge ohne Menschlichkeit, Menschlichkeit ohne Strenge. Heuchlerische Gefälligkeit, schaamlose Unverschämtheit, altkluge Jungen, läppische Männer. Man könnte die Litanei fortsezen von Sonnenaufgang bis Mitternacht und hätte kaum ein Tausendtheil des menschlichen Chaos genannt! (Hölderlin, Brief an J. G. Ebel, 10.01.1797)

  • Die Premiere des Stücks fand unter dem obigen Titel am 17. März 1951 in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin-Ost, statt. Es war keine Probeaufführung, sondern die offizielle Premiere des Werks.

    Aufführungsort war die Ausweichspielstätte der im Krieg zerstörten Stasoper - der Admiralspalast (heute Metropoltheater) am Bahnhof Friedrichstraße.

    Wo auch immer die Premiere stattfand, sie wurde aufgezeichnet.


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    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Wo auch immer die Premiere stattfand, sie wurde aufgezeichnet.

    Der Mitschnitt der Premiere als "Das Verhör des Lukullus" im Admiralspalast im Ostteil Berlins gelangte erst mit mehr als fünfzigjähriger Verspätung an die Öffentlichkeit. Er wurde am 1. Mai 2004 von Deutschlandradio Berlin - ergänzt durch eine Gesprächsrunde im Studio - gesendet. Nach meinen Informationen erstmals. Übrigend genau an dem Tag, an dem in Dublin die Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedsstaaten feierlich begangen wurde. Es besteht für mich kein Zweifel, dass Cantus Classics bei seiner Veröffentlichung auf diese Rundfunksendung, die in vielen privaten Sammlungen bewahrt wird, zurückgegriffen hat. Warum auf dem Cover und auch in der rückseitigen Besetzungsliste von "Chor und Orchester der Berliner Volksoper" die Rede ist, kann ich mir nicht erklären. :no:

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    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Bereits im Vorfeld hat ein heftiger Kampf um die Aufführung der Oper stattgefunden. Es ging vornehmlich darum, ob das Werk als "realistisch", wie es die Parteilinie der SED verlangte, oder als "formalistisch", wie es nach neuesten Vorgaben aus Moskau zu sein hatte, einzustufen sei.

    Dass ein Werk formalistisch zu sein habe, war sicher keine Vorgabe aus Moskau, denn der sogenannte Formalismus wurde in der Sowjetunion als Gegensatz zum erwünschten sozialistischen Realismus in der Kunst gerade aufs heftigste bekämpft. Das erste berühmte Opfer des Formalismus-Vorwurfs in der Musik war 1936 bekanntermaßen Schostakowitsch' "Lady Macbeth von Mzensk". Soweit ich weiß, ist die Kulturpolitik der DDR hier brav den Vorgaben des großen Bruders gefolgt.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Dass ein Werk formalistisch zu sein habe, war sicher keine Vorgabe aus Moskau, denn der sogenannte Formalismus wurde in der Sowjetunion als Gegensatz zum erwünschten sozialistischen Realismus in der Kunst gerade aufs heftigste bekämpft. Das erste berühmte Opfer des Formalismus-Vorwurfs in der Musik war 1936 bekanntermaßen Schostakowitsch' "Lady Macbeth von Mzensk". Soweit ich weiß, ist die Kulturpolitik der DDR hier brav den Vorgaben des großen Bruders gefolgt.

    So habe ich das auch in Erinnerung. Schostakowitsch hat das Werk dann bearbeitet, und es gab eine Wiener Uraufführung (wenn es denn stimmt) im Jahre 1964 (63 ginge auch, ich muss aber das Programm noch finden) in Anwesenheit von zwei illustren Gästen, Schostakowitsch und ich (im 5. Rang Stehplatz):untertauch:.

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  • ..... So habe ich das auch in Erinnerung. Schostakowitsch hat das Werk dann bearbeitet, und es gab eine Wiener Uraufführung (wenn es denn stimmt) im Jahre 1964 (63 ginge auch, ich muss aber das Programm noch finden) .......

    Katerina Ismailowa, an der Schostakowitsch seit 1956 gearbeitet hatte, wurde am 8. Januar 1963, also in der Zeit des Tauwetters unter Nikita Chruschtschow, am Stanislawski-Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater in Moskau uraufgeführt.

    In Wien wurde „Katerina Ismailowa" am 12. Februar 1965 erstmals in deutscher Sprache aufgeführt, das war also eine Erst- und keine Uraufführung!

    So steht es schwarz auf weiß in: "Schostakowitsch in Wien" von Manfred Murgauer auf Seite 50.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • In Wien wurde „Katerina Ismailowa" am 12. Februar 1965 erstmals in deutscher Sprache aufgeführt, das war also eine Erst- und keine Uraufführung!

    Der Mitschnitt hat sich erhalten - und zwar in dieser Besetzung:


    Dmitri Schostakowitsch

    Katerina Ismailowa

    Chor und Orchester der Wiener Staatsoper


    Dirigent Jaroslav Krombholc

    Wien, 12. Februar 1965


    Kateria

    Ludmila Dvorakova

    Boris

    Paul Schöffler

    Sinovij

    Karl Terkal

    Sergej

    Gerhard Stolze

    Axinija

    Ruthild Boesch

    A Farmer

    Peter Klein

    The Priest

    Georg Schnapka

    A Policeman

    Alois Pernerstorfer

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Man kann sogar bei Opera-Depot einen kurzen Aussschnitt daraus mit Ludmila Dvorakova hören.

    Das Aufnahmedatum ist aber nicht das der Premiere, sondern laut Plattencover der 12. Dezember 1965.


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  • Das Aufnahmedatum ist aber nicht das der Premiere, sondern laut Plattencover der 12. Dezember 1965.

    Problem ist gelöst: die letzte Vorstellung dieser Serie in Wien war am 4. November 1965, also ist die Angabe auf dem Cover falsch, da nach dieser 9. Vorstellung eine Pause bis 1968 eintrat.

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  • Aufführungsort war die Ausweichspielstätte der im Krieg zerstörten Stasoper - der Admiralspalast (heute Metropoltheater) am Bahnhof Friedrichstraße.

    Völlig richtig, lieber Rüdiger! Das Haus der Staatsoper "Unter den Linden" war natürlich völlig zerstört und konnte erst im Jahr 1955 wieder eröffnet werden. Insofern war meine Information irreführend.

    Soweit ich weiß, ist die Kulturpolitik der DDR hier brav den Vorgaben des großen Bruders gefolgt.

    Ich hatte versehentlich das Wort "nicht" ausgelassen. Das habe ich soeben korrigiert. Danke für den Hinweis.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Danke für die Korrektur; jedenfalls war ich bei dieser Erstaufführung dabei. Dass die in deutscher Sprache war, hatte ich auch vergessen. Allerdings war es eine tolle Aufführung. Mein Lieblingstenor in Wien war immer Gerhard Stolze, der hier den Sergej sang, etwa als Nerone in der "Poppäa" oder als "Herodes" in der "Salomé".

    Auf den Stehplätzen im 5. Rang kommt man sich rasch näher und tauscht sich aus. Es gab auch nie eine Rangelei oder Konflikte. Wir wussten, dass wir das "wahre" Publikum waren. Unten, im hintersten Winkel des Parketts, gab es auch Stehplätze; davon habe ich nie einen ergattert.

    Klatsch und Tratsch war natürlich gang und gäbe. An eine Sache kann ich mich erinnern: "Gerhard Stolze kann keine Noten lesen!" Mir war das egal, der Mann konnte nicht nur toll singen, sondern auch überzeugend spielen, also das, was ich heute an Asmik Grigorian bewundere (etwa als Suor Angelica; die Schlussszene findet sich bei YT).

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