Die Einsamkeit in der Musik ...

  • Ein Konzentrat der Einsamkeit ist für mich das lange Englisch-Horn-Solo in Wagners "Tristan". Die "schlichte "Weise" wird hier zum musikalischen Symbol totaler Weltverlorenheit. Schaurig-schon.


    Florian

  • Diese Art von Themen gefallen mir, da es direkt um Empfindungen beim Nachverfolgen von Musikstücken geht.


    Die Empfindung von Einsamkeit habe ich besonders bei den beiden letzten Streichquartetten Schostakowitschs (wenn das Borodin Quartett spielt: in allen Streichquartetten von DSCH, sogar im ersten).


    Weiterhin in den Solowerken für Violine und Violoncello von Bach.


    Dann noch in "Des Todes Tod" von Hindemith sowie zweimal Britten:


    Die Serenade für Tenor, Horn und Streicher und


    (da wird wahrscheinlich nicht jeder zustimmen, da ich nicht anders kann, als den beiden auch eine traurige Opferrolle zuzugestehen) in "The Turn of the Screw" fast sämtliche Stellen der beiden "Toten", die die beiden Kinder zu sich rufen.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Angesichts dieses Themas darf ein Hinweis auf meine Lieblingsoper nicht fehlen:
    In Pfitzners "Palestrina" ist die Einsamkeit des schöpferischen Menschens geradezu das Hauptthema. Folgerichtig bleibt der Titelheld am Ende auch völlig alleine in sein Orgelspiel versunken auf der Bühne zurück, während die Musik im Nichts verklingt.
    Musikalisch deutlicher läßt sich das Wesen der Einsamkeit für meine Begriffe kaum darstellen, wobei es sich um eine "notwendig" wirkende, sinnvolle, unausweichbare Einsamkeit handelt.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Uwe,
    das eben macht "The Turn" zu solch einem einzigartigen aber auch furchtbaren und grausamen Meisterwerk: Alle sind Opfer - und alle sind Täter. Sogar die Kinder. Das waren ja Brittens zentrale Themen: Einsamkeit und befleckte Unschuld.
    Wenn Quint seine "Miles"-Koloraturen herausheult, in denen Verlockung und Verzweiflung aufklingt, ist das ein Klangsymbol für nicht zu durchbrechende Einsamkeit. An Intensität fast unerträglich.
    :hello:

    ...

  • Ja, Edwin,


    genau so ist es. Du kennst Britten genauer als ich, aber teilst Du mit mir nicht auch die Meinung, dass man an Britten automatisch denken muss, wenn es um das Gefühl der Einsamkeit in der Musik geht?


    Ich würde am liebsten, wenn es nicht allzu lächerlich klänge, sogar sein mittleres Streichquartett nennen. Da klingen selbst "flotte" Melodien einsam und traurig, ähnlich wie die Streichquartette Schostakowitschs.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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  • Völlig richtig, Uwe: Durch Brittens Musik zieht sich die Einsamkeit als roter Faden. Sogar ein vermeintlich vergnügliches Werk wie das nach Volksliedern komponierte Orchesterstück "A Time There Was" hat im letzten Satz ein Englischhornsolo, das einem die Kehle zuschnürt.
    Britten und Schostakowitsch, die auch musikalisch viel gemeinsam haben, teilen diese Einsamkeits-Erfahrung durch die persönlichen Lebensumstände: Britten als Homosexueller, Schostakowitsch als nicht-parteikonformer Künstler in der Sowjetunion. Beide wissen um ihre Außenseiterrolle und thematisieren sie unablässig in ihrer Musik. Wahrscheinlich ermöglicht ihnen genau diese Erfahrung, eine zutiefst emotionale Musik zu komponieren, ohne in Kitsch zu verfallen.

    ...

  • Hallo Edwin, hallo Uwe!


    Wenn wir bei Britten noch kurz bleiben wollen, so fallen mir zum Thema Einsamkeit noch die Cello-Suiten ein. In diesem Meisterwerk gehen Einsamkeit, Verzweiflung und endlose Traurigkeit Hand in Hand.
    Ich muss auch offen gestehen: während mir die 1. Suite op. 72 noch sehr gut gefällt, bekomme ich bei der 2. und 3. Suite so meine Probleme.
    Ein Werk, das ich mir relativ selten anhöre und wenn, dann mit größtmöglicher Konzentration. Denn ich finde, jede kleine Ablenkung seitens des Hörers, scheint sofort durch die Musik "bestraft" zu werden.


    LG
    Wulf.

  • Wulf
    Dir habe ich nun das Kennenlernen der Cello-Suiten von Britten zu verdanken. Und das Ergebnis? Ich teile mit Dir sämtliche Aussagen Deines letzten Beitrags. Besonders die erste Suite, aber nein: alle, sind ein Gewinn für mich.



    Auch wenn es nun abgedroschen klingen mag: Für mein Empfinden sind die späten Streichquartette Beethovens in ihrer Gänze vom Gefühl der Einsamkeit durchzogen; nicht ausschließlich, aber auch. Sicher, die Biographie und sonstige Hintergründe, die auf die persönliche Einsamkeit, besonders am Ende seines Lebens, hinweisen, sind bekannt und beeinflussen sicherlich das Empfinden beim Hören der Werke.


    Ganz besonders die langsamen Sätze, auch wenn sie vom Ungarischen Streichquartett gespielt werden, vermitteln mir dieses Gefühl. Ich glaube, dass die ständigen "einfachen" Sekundläufe dieses Gefühl mitverschulden.


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Hi


    Zitat

    Für mein Empfinden sind die späten Streichquartette Beethovens in ihrer Gänze vom Gefühl der Einsamkeit durchzogen; nicht ausschließlich, aber auch.


    Ich würde dies auch von seinen späten Klaviersonaten sagen. Wenn man die Komponisten durchgeht und ihre späten und reifsten Kammermusikkompositionen anhört, wird man diese Eigenschaft vermutlich sehr häufig feststellen können. Das liegt fast in der Natur der Sache (lediglich Schubert fällt mir spontan als Ausnahme ein, da er solche Werke schon als relativ junger Mann geschrieben hat, und eigentlich nicht wissen konnte, dass es seine späten Kompositionen werden würden).


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Einsamkeit? Sofort dachte ich an der ganzen Winterreise. Und möglich einige Lieder aus der Schönen Müllerin.
    Da sah ich, daß die bereits öfter genannt wurden.


    Aber auch dachte ich an dem Ende von Sullivans "The Yeomen of the Guard", als der Narr Jack Point die von ihm so heißgeliebten Elsi, mit einem anderen geheiratet seht:



    Und Osmin ist doch am Ende der Entführung eigentlich auch ganz einsam?


    LG, Paul

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  • Zitat

    Original von Theophilus


    Ich würde dies auch von seinen späten Klaviersonaten sagen. Wenn man die Komponisten durchgeht und ihre späten und reifsten Kammermusikkompositionen anhört, wird man diese Eigenschaft vermutlich sehr häufig feststellen können. Das liegt fast in der Natur der Sache (lediglich Schubert fällt mir spontan als Ausnahme ein, da er solche Werke schon als relativ junger Mann geschrieben hat, und eigentlich nicht wissen konnte, dass es seine späten Kompositionen werden würden).


    Das kann ich ehrlich gesagt bei Beethovens späten Quartetten nur sehr bedingt nachvollziehen. Der einzige Satz, der mir hier spontan bei Einsamkeit einfallen würde, ist der erste des cis-moll-Quartetts. Aber auch dieses Stück sehe ich eigentlich objektiver, als eine Art Fundament, Ursuppe, was auch immer, für das folgende Werk.
    Viel eher denke ich an Sätze wie den 2. aus op.59,3 oder op.95,ii, "Die Abwesenheit" in op. 81a. Bie den späten Sonaten paßt am meisten das Arioso dolente in op.110 oder das adagio in op.106.


    Aber insgesamt habe ich bei Beethoven eher den Eindruck der "splendid isolation", des "Der Starke ist am Mächtigsten allein" (Schillers Tell), als der melancholischen Einsamkeit. Oder moderner: Die Einsamkeit Messners beim Alleingang auf den Mount Everest. Er muß eben allein weiter, weil keiner sonst die Fähigkeit und Kühnheit besitzt mitzukommen.
    Und wie gesagt, bei der überwiegenden Zahl der Stücke, egal aus welcher Phase, teile ich diesen Eindruck gar nicht.
    Schubert ist da ein ganz anderer Fall, auch Brahms, der ja f-a-e, "frei aber einsam", zwischenzeitlich zum persönlichen Motto erhoben hatte. Oder Schumann, das (IIRC) erste Lied in op.39 (In der Heimat hinter den Blitzen rot) u.v.a.
    Beethovens Musik scheint mir hier, ungeachtet seiner Lebensumstände, doch sehr weit von der Kultivierung dieses Einsamkeitsgefühls der Romantiker entfernt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Aus Anlass eines anderen Threads fällt mir der Topos des "einsamen Herrschers" in Oratorium und Oper ein:


    Ganz erstaunlich Herodes in seiner Arie im ersten Teil von Berlioz' "L'enfance du Christ", völlig querstehend zur sonstigen Zeichnung dieser Figur in Literatur, Kunst und Musik: der verzweifelte, einsame Herrscher, der seines Amtes überdrüssig ist und mit den Hirten durch Felder und Wälder ziehen möchte.


    Und natürlich Verdis König Philipp in "Don Carlos", einsam im riesigen Escorial hockend und sich nur noch aufs Grab freuend. So einsam, dass er sich sogar zunächst über die Gelegenheit eines Plauschs mit dem Großinquisitor freut.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Aber insgesamt habe ich bei Beethoven eher den Eindruck der "splendid isolation", des "Der Starke ist am Mächtigsten allein" (Schillers Tell), als der melancholischen Einsamkeit. Oder moderner: Die Einsamkeit Messners beim Alleingang auf den Mount Everest.


    Das kommt schon ganz gut hin. Keinesfalls meinte ich die Kultivierung des Einsamkeitsgefühls der Romantiker, sondern den Meister alleine mit sich und seinem Werk, ein Werk das sehr intim und nicht für ein breites Publikum gedacht ist (Bach mit seinen Cello-Suiten, den Partiten für Violine, den Goldberg-Variationen, die Kunst der Fuge; jede Menge später Beethoven und Schubert; Smetana "Aus meinem Leben"; Strauss Metamorphosen; etc....). Da könnte man wahrscheinlich eine lange Liste zusammenbringen.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • @J.R.

    Zitat

    Aber insgesamt habe ich bei Beethoven eher den Eindruck der "splendid isolation", des "Der Starke ist am Mächtigsten allein" (Schillers Tell)


    Natürlich. Dies durchzieht all seine Werke; dennoch empfinde ich, besonders in den späten Werken, gleichfalls Momente der Einsamkeit; nicht in einigen Stellen, sondern im Prinzip in seiner Sprache insgesamt. Aber, und das macht den späten Beethoven ja gerade aus, es sind genauso Humor, Freude und weitere Emotionen gleichermaßen enthalten. Er gibt sich aber nicht, je nach Befinden, lediglich einer emotionalen Seite hin, sondern verarbeitet es zu einer alles gleichsam beinhaltenden Sprache. Ich meine, bezogen auf dieses Thema: trotz Einsamkeit kein ungehindertes Leiden.


    Deshalb sind wir uns völlig einig im letzten, auf das romantische Gefühl einschränkenden Satz:


    Zitat

    Beethovens Musik scheint mir hier, ungeachtet seiner Lebensumstände, doch sehr weit von der Kultivierung dieses Einsamkeitsgefühls der Romantiker entfernt.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

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  • - Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ, BWV 639 (arrangiert von Busoni)
    - Präludium h-moll aus dem kleinen Bücklein für Wilhelm Friedemann Bach, transkribiert von Siloti, aber nur von Weissenberg gespielt, die Stadtfeld-Version ist viel zu gehetzt, da kommt keine Einsamkeit, Verlassenheit oder Traurigkeit auf.

  • Franz Schubert (1797-1828) hat ein Gedicht von Karl Lappe in einem Lied vertont. Einsamkeit kann auch diese Färbung besitzen.


    Der Einsame


    Wenn meine Grillen schwirren,
    Bei Nacht, am spät erwärmten Herd,
    Dann sitz ich mit vergnügtem Sinn
    Vertraulich zu der Flamme hin,
    So leicht, so unbeschwert.


    Ein trautes, stilles Stündchen
    Bleibt man noch gern am Feuer wach,
    Man schürt, wann sich die Lohe senkt,
    Die Funken auf und sinnt und denkt:
    Nun abermal ein Tag!


    Was Liebes oder Leides
    Sein Lauf für uns dahergebracht,
    Es geht noch einmal durch den Sinn;
    Allein das Böse wirft man hin,
    Es störe nicht die Nacht.


    Zu einem frohen Traume
    Bereitet man gemacht sich zu,
    Wenn sorgenlos ein holdes Bild
    Mit sanfter Lust die Seele füllt,
    Ergibt man sich der Ruh.


    O wie ich mir gefalle
    In meiner stillen Ländlichkeit!
    Was in dem Schwarm der lauten Welt
    Das irre Herz gefesselt hält,
    Gibt nicht Zufriedenheit.


    Zirpt immer, liebe Heimchen
    In meiner Klause eng und klein.
    Ich duld' euch gern: ihr stört mich nicht
    Wenn euer Lied das Schweigen bricht
    Bin ich nicht ganz allein.

    .


    Fritz Wunderlich, Tenor, Hubert Giesen, Piano.
    Salburger Festspiele 1965.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928