Noch kurz ein Gedanke zum Cantus firmus. Dieses Lamentione "Incipit lamentatio Jeremiae Prophetae" gehörte in der Gregorianik traditionell in die Karwoche, was der Gattung nach zwar passend, inhaltlich aber nur indirekt logisch erscheint. Es wird eine Verbindung von den Klageliedern Jeremias zum Kreuzestod Jesu gezogen obwohl Jeremia weniger traditionell im Lichte messianischer Verheißung gelesen wird, als z.B. Jesaja. Diese Lamentiones sind eine eigene Gattung der Prophetie, die uns heute von Jeremia am bekanntesten ist, die jedoch in hebräischen, aramäischen und weiteren Quellen tausendfach auch von heute unbekannten Verfassern vorliegen. In der Regel geht es in diesen Texten eher um Bedrohung und Untergang Israels, weniger um den kommenden Messias und natürlich noch weniger um individuelle Trauer am Grab (wenngleich sie interessanterweise im typischen Versmaß einer jüdischen Totenklage verfasst sind). Dass Mozart diese alte und völlig ander konutierte Melodie hier in einer Trauermusik der Freimaurer verwendet
Das wurde häufig kritisch betrachtet; im von mir w.o. verlinkten Essay zum Bezug zu M. Haydns Schrattenbach-Requiem heißt es u.a.
Das Choralthema stammt aus verschiedenen Verwendungskontexten. Lange wurde vermutet, dass als Grundlage lediglich die traditionelle gregorianische Choralmelodie der Lamentationen des Jeremias diente, die in der katholischen Karwochenliturgie gesungen werden. Dieser Aspekt mag zunächst befremden, doch bemerkte der Musikwissenschaftler Philippe A. Autexier, dass die Thematik der Lamentationen, nämlich die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (der Cantus firmus erscheint auch im jüdischen Tempelgesang), im freimaurerischen Kontext symbolisch nur die Zerstörung des „leiblichen Tempels“ eines Freimaurers und dessen Erhebung in den Meistergrad ausdrücken könne.
Nach dieser Deutung bestünde also ein direkter Bezug zwischen freimaurerischem Ritual und der Komposition.
Aber auch:
ZitatEinen alternativen Erklärungsansatz liefert Helmut Hell. Durch seine Analyse auf Basis gregorianischer Stilistik gelingt es ihm, per Ausschlussverfahren den Psalmtext herauszufiltern, der seiner Meinung nach ausschließlich auf das gregorianische Choralthema verwendet werden konnte. Es handelt sich um den ersten Vers des bekannten Psalm 133, dessen Text lautet: „Ecce quam bonum et quam iucundum habitare fratres in unum.“ Luther übersetzt dies mit: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!“ Dieser Psalm betont das für die Freimaurerei bedeutende Ideal der Brüderlichkeit. Noch heute hat dieser Psalm für die Freimaurer eine besondere Bedeutung. Ein enger Zusammenhang zwischen der Trauermusik und dem freimaurerischem Denken ist auch bei dieser Deutungsvariante gegeben.
Die Entscheidung, welche dieser Auffassungen nun die überzeugendste ist, sei jedem selbst überlassen. Sie weisen jedoch alle darauf hin, dass das Werk in seiner musikalischen Anlage freimaurerisch-rituelle und religiöse Züge aufweist. Mozart schuf auf diese Weise eine der Trauermusik inhärente Verbindung zur freimaurerischen Praxis und Weltanschauung und machte sein Werk deshalb auch ohne Text zu einer genuin freimaurerischen Musik.