"Ganz zum Überfluss" möchte ich noch zu beschreiben versuchen, was mich an den Davidsbündler-Tänzen fasziniert: Vor allem anderen ist es die Freiheit der Fantasie, das "Fantastische", das Erkunden von Fremdartigem, auch Verstörendem, die wilde Leidenschaft und zarte Innigkeit. In manchen dieser Eigenschaften und vor allem in ihrer Vielfalt gehen die Tänze noch über die Kreisleriana oder den Carnaval hinaus, nur die C-Dur-Fantasie steht für mich als Schumanns wahrscheinlich bedeutendstes Klavierwerk über allem. Ich beschäftige mich mit den Tänzen seit Jahrzehnten und staune dennoch immer wieder über kühne Einfälle wie z.B. den Übergang zur Reprise des 6. Tanzes, wo ganz plötzlich die Triolenbewegung durch zwei Duolen der linken Hand und den rhythmischen Stillstand der rechten in Frage gestellt wird. Das Besondere daran ist: Das ist eigentlich kein Übergang sondern ein Fremdkörper, so als ob für einen Moment das Stück in eine ganz andere Richtung gehen könnte, gar nicht weiß wie, dann aber doch zur Reprise findet. Das sind nur eineinhalb Take, aber ich kenne in der Musik nichts Vergleichbares (und so etwas wie die rhythmischen Verschiebungen zwischen beiden Händen in diesem Tanz gab es bis dahin auch nicht; sie dürften György Ligeti gefallen haben...). Oder die vollkommen unerwartete, auch rätselhafte Wiederholung des 2. Tanzes am Ende, der dann aber ebenso unerwartet aus seiner träumerischen Stimmung zu einer fantastischen, leidenschaftlichen Steigerung führt.
Diese unvergleichliche Vielfalt an Charakteren und Ideen wäre nur ein großes Stückwerk, wenn sie nicht durch die strenge Faktur zusammengehalten würde. Angefangen von Clara Wiecks "Motto" über die allgegenwärtige Polyphonie bis zu einem ausgeklügelten Tonartenplan sind die einzelnen Stücke dicht miteinander verwoben. Der Zyklus ist grenzensprengend fantasievoll und gleichzeitig "gelehrt". Die beschriebene "Nervosität" sehe ich vor allem in dieser nur mit größter Anstrengung zu bändigenden Fantasie, die immer neue Einfälle hervorbringt, sie sofort entwickelt, aber oft schon gleichzeitig mit dem nächsten Einfall fortfährt. Dadurch wirken auf mich die wenigen Ruhepunkte, vor allem der 14. Tanz, umso bewegender. Nachdem ich vor ca. 15 Jahren Schumanns Krankenakten aus Endenich (herausgegeben von Bernhard Appel) und Peter Härtlings darauf beruhenden Künstler-Roman gelesen habe, kann ich dieses Stück nicht mehr ohne gedankliche Verbindung dazu und ohne tiefes Mitgefühl hören oder spielen. An dieser Stelle möchte ich nicht verhehlen, dass ich die Verknüpfung einer - angeblichen oder tatsächlichen - "Geisteskrankheit" mit einem "fragwürdigen Charakter" fast persönlich verletzend, jedenfalls grob unangebracht und unsensibel fand.
Die Schumannsche Gedankenwelt ist extrem reichhaltig, voller Kühnheit und Genialität, kann aber gerade deshalb in ihrer Wildheit und Schamlosigkeit auch verstörend wirken. Ihre Interpretation muss das meines Erachtens als ein wichtiges Element zulassen, sollte dabei aber gleichzeitig das Interesse am Unerhörten wecken. Das setzt einen offenen, unvoreingenommenen Hörer voraus, der bereit ist, in der Erfahrung des Fremden, Neuartigen von Schumanns Musik auch sich selbst zu hinterfragen. Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt.