Anton Bruckner: Sinfonie Nr 9 mit "neukomponiertem" Finalsatz von Peter Jan Marthé

  • Lieber Blackadder,


    genau!


    Was ich meine ist nur: die Tatsache, dass Peter Jan Marthé sich auf rational nicht nachvollziehbare und damit auch nicht kritisierbare Inspiration beruft hat zwei Seiten.


    Erstens kann er damit natürlich keinen Geltungsanspruch auf wissenschaftlicher Grundlage erheben - und das will er ja auch gar nicht.


    Zweitens kann auf diese irrationale Weise aber immer noch ein vollwertiges Kunstwerk entstehen, genauso wie eine ergreifende Interpretation eines Notentextes auf wissenschaftlicher Erkenntnis aufgebaut sein kann, aber nicht sein muss.


    Wogegen ich mich wende ist jedes Ausschließlichkeitsdenken.


    Genausowenig wie Peter Jan Marthé seinen Bruckner wissenschaftlich beweisen könnte wenn er es denn wollte kann man den musikalischen Wert davon wissenschaftlich widerlegen.


    Und ich kann mir nicht helfen: der Wesenskern der Kunst liegt für mich im Irrationalen.


    Wobei ich selbst keinerlei Notwendigkeit sehe, hier zu wählen: mich ergreift Peter Jan Marthés Bruckner genauso mächtig wie mich die Cohrs et al. - Rekonstruktion interessiert. Ich bewundere die wissenschaftliche Leistung von Herrn Cohrs, was mich aber nicht daran hindert, die künstlerische Leistung von Peter Jan Marthé zu bewundern.


    Ich finde es einfach nur traurig, dass hier so ein völlig überflüssiger Grabenkrieg geführt wird, wo doch beide Standpunkte sich nicht einmal berühren.


    Eine Debatte "Religion" (im weitesten Sinne) gegen Wissenschaft kann hier gar nicht geführt werden, es fehlt am tauglichen Objekt!


    Herzlich,
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Herbert Henn
    Ah ich bin allerdings auch der Auffassung, dass Bruckner ein Sonderfall ist und ihm schon etwas sehr mystisches anhaftet! Das kann man nicht einfach so beseite reden. Dies findet sich in meinen Augen auch in dieser Einzigartiken Architektur seiner Sinfonien wieder.



    Bruckner war wohl in höchstem Maße ein Sonderling und ich denke das wusste er - zumindest muss er es anhand der Position, die er in der Gesellschaft eingenommen hat, mitbekommen haben.


    Ich gehe bin inzwischen den Schritt gegangen, das Finale des Herrn Marthé als eine große und in Teilen auch gelungene Würdigung der Person Bruckners und seiner Sinfonien zu betrachten, allerdings fühle ich mich nicht im Stande, den Anspruch, mit dem Herr Marthé den Finalsatz in die Welt gebracht hat, für mich zu übernehmen.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo Masetto,
    natürlich,wenn man so katholisch ist und wenn man eine Sinfonie
    dem lieben Gott widmet,haftet einem leicht etwas mystisches an.
    Wenn man das Mystische weg läßt,bleib große architektonisch ,
    aufgebaute Musik übrig.Aber Architektur ist auch nicht mystisch.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Blackadder
    ...


    Das ist für mich leider auch eine theologische Behauptung. Irgendwie Inhaltsleer... Läßt sich beeindruckenderweise einfach umdrehen und es klingt genauso schlüssig. Für mich eigentlich noch schlüssiger...


    Meinst du das so:
    "Die Wissenschaft ist größer, weiter und reicher als die Kunst" ?


    Das heißt, du könntest mir die Faszination eines Hamlet oder Faust, die Mona Lisa oder auch die Missa Solemnis wissenschaftlich erklären?


    Oder ist es nicht das eigentliche Wesen der Kunst, das sie über das reine "Können" hinausgeht und ein Element des nicht mehr einfach erklärbaren beinhaltet?



    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Naja lieber Herbert,


    diesen mystischen Aspekt will ich nicht von der Hand weisen. Bei den Sinfonien 8 und 9 verspüre ich auch etwas jenseits von musikalischer Tektonik. Nennen wir es gerne Andacht oder auch grenzenloses Erstaunen. Mit einen Religionsbekenntnis hat das wenig zu tun, auch wenn ich mich selbst als überzeugten Christen bezeichnen würde.


    Der aktuelle Thread hat immerhin nun mein Interesse geweckt, mir die beiden bruckneresken Sätze Nr. 4 der 9. anzuhören. Für Bruckner lasse ich nur gelten, was der Meister auch selbst vollendet hat. Und das sind bei der 9. eben nur die Sätze 1-3. Was aber nichts gegen die Arbeit von Ben Cohrs et. alt. oder Peter Jan Marthé sagt. Ich bin gespannt.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Lieber Barockbassflo:
    Damit sprechen Sie allerdings unserer Arbeit jegliche künstlerische Inspiration ab. Besten Dank auch... :kotz:


    Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß die wissenschaftliche Grundlage das eine ist; auf der anderen Seite ist Nicola Samale nicht nur Dirigent, sondern auch ein guter, erfahrener und in Italien sehr erfolgreicher Komponist, der gerade die Urauffühurung seiner sechsten Oper vorbereitet... :yes:


    Natürlich ist es bei aller nur erdenklicher Sorgfalt in der Methode unerläßlich, sich in Bruckners Geisteswelt einzufühlen -- worum wir nunmehr seit über 20 Jahren prozesshaft bemüht sind. Wenn Sie uns dieses Einfühlungsvermögen absprechen (wie es auch Herr Marthe tut), machen Sie sich genau jener Methode schuldig, derer Sie mich bezichtigen. :angry:


    Aus genau diesem Grund neulich mein Posting mit den Worten Ethan Allens:


    »Die, die Vernunft in Frage stellen, sollten ernsthaft überlegen, ob sie gegen die Vernunft mit der Vernunft argumentieren oder ohne sie. Falls mit Vernunft, dann errichten sie eben das Prinzip, das sie zu entthronen sich bemühen – aber wenn sie ohne Vernunft argumentieren (was sie tun müssen, um sich nicht zu widersprechen), lassen sie sich weder rational überzeugen noch sind sie ein rationales Argument wert.«


    :motz:


    Ihre Vorwürfe sind auch für mich ganz persönlich umso mehr verletzend, weil ich mein Leben und Arbeiten nicht zuletzt damit zubringe, eine Balance zu finden zwischen Vernunft und Gefühl. :no:

  • Nachtrag: Glaubt Ihr nicht, daß wir nicht auch auf die Idee hätten kommen können, in der Öffentlichkeit zu verbreiten, wir hätten einen direkten Draht zu Bruckner? Welch bodenlose Anmaßung!

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Lieber Barockbassflo:
    Damit sprechen Sie allerdings unserer Arbeit jegliche künstlerische Inspiration ab. Besten Dank auch... :kotz:


    Nein, wie kommst Du denn darauf? Habe ich das irgendwo geschrieben?


    Zitat

    Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß die wissenschaftliche Grundlage das eine ist; auf der anderen Seite ist Nicola Samale nicht nur Dirigent, sondern auch ein guter, erfahrener und in Italien sehr erfolgreicher Komponist, der gerade die Urauffühurung seiner sechsten Oper vorbereitet... :yes:


    Wer bestreitet denn das?


    Zitat

    Natürlich ist es bei aller nur erdenklicher Sorgfalt in der Methode unerläßlich, sich in Bruckners Geisteswelt einzufühlen -- worum wir nunmehr seit über 20 Jahren prozesshaft bemüht sind. Wenn Sie uns dieses Einfühlungsvermögen absprechen (wie es auch Herr Marthe tut), machen Sie sich genau jener Methode schuldig, derer Sie mich bezichtigen. :angry:


    Ich würde Deine Wut ja verstehen, wenn es denn so wäre - aber über Deine und Deiner Mitstreiter künstlerische Inspiration habe ich doch gar nichts gesagt? Warum sollte ich bestreiten wollen, dass man auf wissenschaftlicher Basis inspiriert arbeiten kann?


    Wo habe ich denn irgendwem das Einfühlungsvermögen abgesprochen?



    Lieber Ben,


    wer täte das nicht? Im Ernst, das ist doch eine Grundherausforderung der menschlichen Existenz!


    Und bitteschön, ich stelle alles mögliche in Frage, aber sicher nicht die Vernunft - man muss sich nur ihrer Grenzen bewusst sein.


    Ich verstehe wirklich wirklich wirklich nicht, warum man sich in diesen Fragen nicht einfach vertragen kann.


    Ich hab' halt einfach gern soviel Bruckner wie nur möglich: Karajanbruckner, Jochumbruckner, Furtwänglerbruckner, Cohrsbruckner, Marthébruckner - mir gibt (fast) alles irgend etwas und bereichert mich.


    Betrübte Grüße,
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hallo lieber Thomas,
    das passiert mir natürlich auch,Erschütterung ,Andacht,
    oder grenzenlose Bewunderung für ein Werk.Aber das
    beschränke ich nicht auf Bruckner.Bei sehr vielen Werken
    kann ich bis zu Tränen bewegt sein.Das passiert mir
    bei heiterer Musik genau so,wie bei ernsten Werken,
    wenn es sich um große Musik,oder um eine große
    Interpretation handelt.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Ich wage es, Sie zu zitieren:


    ""Ich bewundere die wissenschaftliche Leistung von Herrn Cohrs, was mich aber nicht daran hindert, die künstlerische Leistung von Peter Jan Marthé zu bewundern."


    Ergo: Meine (gemeint ist sicherlich unsere Gemeinschafts-)Leistung wäre wissenschaftlich, die von Herrn Marthe künstlerisch, was im Umkehrschluß heißt, seine Leistung ist keine wissenschaftliche (was in der Tat stimmt), und unsere Leistung ist keine künstlerische ...

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  • Lieber Ben,


    da hüpft mir ja das Herz im Leibe: was hat denn meine ganz persönliche Bewunderung oder nicht-Bewunderung Deiner künstlerischen (unabhängig von Deiner wissenschaftlichen) Leistung mit der Frage zu tun, ob Eure Leistung eine rein wissenschaftliche oder (was sie natürlich ist!) auch eine künstlerische ist???


    Ich halte daher Deinen aus meiner Äußerung gezogenen Umkehrschluss für nichts weniger als zwingend.


    Lieber Ben,


    bitte - warum muss sich beides denn per se ausschließen?


    ?(


    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Das Faß habe ICH nicht aufgemacht. Aber Herr Marthe ... Lies mal die entsprechenden Äußerungen in seinen Interviews...


    Lieber Ben,


    OK.


    Mein Wunsch an alle Beteiligten: kann man sich wirklich nicht darauf einigen, dass jeder sein Recht auf seinen Bruckner nach seinen Kriterien hat und dass auf dieser Welt genug Platz ist für beides?


    Herzlich,
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Genau! Mutti zurück an den Herd, und ja keinen ausübenden Musiker an seine Defizite erinnern, insofern er sich lediglich nebulös nur auf sein Fühlen beruft. Man ist eben MUSIKER und kein WISSENSCHAFTLER ...I BÄH! :untertauch:


    Ich finde es einfach nur übel, wie jegliches Bemühen um das Wissen der Musik heutzutage vor allem von denen verunglimpft wird, die eben nichts Grundlegendes darüber wissen. :D


    Und wehe, jemand bekennt sich dazu, sich "historisch zu informieren" oder gar Künstler UND Forscher zu sein: Das ist fast so schlimm, wie die Monogamie in Frage zu stellen oder sich gar als bisexuell zu outen -- denn dann fühlen sich immer beide Seiten bedroht. :stumm:


    Das sind dann in der Regel "Spinner", "Außenseiter", "Verweigerer", und allenfalls kurz vor dem Sterben (oder im Nachruf) widerwillig anerkannte "eigenwillige Künstler"... :lips:


    Wie gut, wenn man sich da als Künstler nicht nur auf seine Intuition, sondern auch noch Seeleneinflüsterungen des verstorbenen Meisters selbst berufen kann... Dann braucht man ja gar keine Forschung mehr ... :hahahaha:


    Aprospos: Dazu eine wunderbare Anekdote:


    Angeblich bei einer Aufführung eines Beethoven-Klavierkonzerts (mag auch Bach oder Mozart gewesen sein) kamen Arthur Schnabel und Otto Klemperer in einen Disput.


    "Herr Schnabel, warum spielen Sie nicht, was Beethoven da geschrieben hat?"


    "Herr Klemperer, ich habe heute Nacht mit dem Geist von Beethoven Kontakt aufgenommen und er sagte mir, ich soll es genauso spielen."


    In der nächsten Probe am nächsten Tag brach Klemperer an der gleichen Stelle ab und sagte: "Herr Schnabel, ich habe heute Nacht auch mit dem Geist Beethovens Kontakt aufgenommen, und er sagte mir, ich solle Ihnen ausrichten, er habe sich doch geirrt." :pfeif:

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  • Zitat

    "Original von Theophilus
    Meinst Du das so:
    Die Wissenschaft ist größer, weiter und reicher als die Kunst" ?


    Ich meine das in dem Sinne, dass die Wissenschaft keinen Deut weniger zauberhaft, ideenreich und entsprechend größer, weiter und reicher ist, als die Kunst. Mir ist dieses Ausspielen der beiden Sachen extrem suspekt, weil sie einen Subjektivismus bedient, bei dem sich einfach Dinge behaupten lassen, ohne dass man Gründe dafür anführen muss...


    Zitat

    Das heißt, du könntest mir die Faszination eines Hamlet oder Faust, die Mona Lisa oder auch die Missa Solemnis wissenschaftlich erklären?


    Ich sollte wahrscheinlich Hamlet oder Faust, die Mona Lisa oder auch die Missa Solemnis wissenschaftlich eher erklären können (Konjunktiv!) als dass mir die Missa Solemnis irgendwas über Quantenmechanik oder tatsächlich den Sinn des Lebens erklärt.


    Zitat

    Oder ist es nicht das eigentliche Wesen der Kunst, das sie über das reine "Können" hinausgeht und ein Element des nicht mehr einfach erklärbaren beinhaltet?


    Das unterschreib ich in diesem Sinne, dass mir Musik etwas mitteilt, was mir eben nur Musik mitteilen kann und nicht ein Fachbuch oder ein Diagramm besser verstünde. Dann spricht es aber eben nur meinen ästhetischen Rezeptionsapparat an und macht darüberhinaus keine Aussagen, es "gäbe etwas außer mir"...


    :hello:

  • Lieber Blackadder,


    dann sind wir uns einig - ich sehe gerade, dass ich mich missverständlich ausgedrückt bzw. zu sehr auf den Kontext vertraut habe: ich wollte natürlich keineswegs die Kunst als umfassendes Mittel der Welterkenntnis propagieren, sondern nur sagen, dass sich in der Kunst selbst das Wesentliche der emotionalen Wirkung (die Eichendorff'sche Seele die ihre Flügel ausspannt und nach Haus fliegt) nicht ausschließlich wissenschaftlich erklären lässt.


    Und gleich zur Klarstellung:


    NATÜRLICH leistet die Wissenschaft in der Kunst extrem wichtige Beiträge - ich als hardcore-HIPist könnte schwerlich etwas anderes vertreten. Nur: sie ist eben nicht alles in der Kunst.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Dass Politik und Religion "no-go-areas" in diesem Forum sein sollten, ist natürlich völlig einsichtig. Aber ich halte die Aussage, Herrn Marthes, er habe mit Bruckner sinngemäß "gechannelt" für sehr problematisch. Sollte darin ein Funken Ironie gezündet haben, dann ist er mir entgangen und ich wünsche Aufklärung. Dass Kunst natürlich keine (oder kaum) Axiome hat, macht sie natürlich anfällig für sämtliche Behauptungen, die man hinter ihr verstecken kann. Sektierertum wäre nur eine harmlose Konsequenz...

  • Also ich konstruiere die Kunst- und Religionsfreiheit durchaus so weit dass ein Mensch das Recht hat, zu glauben, er habe mit Bruckner "gechannelt".


    So lange er kein Pogrom auf Wissenschafter ausruft ;)


    Bedenklich wird es für mich eher, wenn man so einem Ansatz die Berechtigung abzusprechen versucht: da ist es dann mit der Freiheit nicht mehr weit her - denn der Rationalismus kann am falschen Ort auch in Sektierertum oder Schlimmeres ausarten.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von Peter Jan Marthé


    Deshalb hier eine kurze Klarstellung: wie ich oben bereits ausgeführt habe, lebe ich in einer „Bruckner-Welt“, die weltweit immer mehr Menschen mit mir teilen wollen. In diesem Punkt gedenke ich auch in die Fußstapfen meines Lehrmeisters Celibidache zu treten, dessen „Gemeinde“ bis zu seinem Tode 1996 - wie ja allgemein bekannt ist - ständig angewachsen ist, um schließlich zu einer „Familie“ zu werden - das konnte auch das ätzende Gezänk einiger sich giftenden Schreiberlinge nicht verhindern.


    Interessant. Herr Marthés Vergleich von Anfeindungen Celibidaches und seiner eigenen Person... Celibidaches Wirken und Person mögen Flächen zum Widerspruch geboten haben, dennoch dürfte er heutzutage relativ uneingeschränkt als herausragender, sehr wichtiger Brucknerdirigent gelten. Ich schätze ihn sehr. Aber mich desshalb einer Celibidache-"Gemeinde" anzuschliessen wäre lächerlich und undenkbar für mich. Zumal natürlich auch mir die Vielfältigkeit eines "Furtwänglerbruckner, Harnoncourtbruckner, Giulinibruckner, Böhmbruckner, Klempererbruckner", etc. etc. sehr wichtig ist. Und der Krampf gar, den Celibidache-Sohn Serge Ioan in den Booklets von EMI und DG hinterlassen hat, ist erst recht äusserst kritikwürdig. Daß Marthé aber die Celibidache-Kritik ins Felde führt, sieht mir so aus, als wollte er sich in den Lichtkegel des Nachruhms seines "Lehrmeisters" stellen. Denn was hat denn Celibidache mit Marthé zu tun? Muß man Celibidache nicht schützen vor dieser Nachbarschaft? Daß Celibidache einen "reloadeden" Bruckner gutgeheissen hätte ist ja wohl das allerletzte anzunehmende.


    Und wie lebt man in einer "Bruckner-Welt, die weltweit immer mehr Menschen mit mir [Marthé] teilen wollen"? Wenn die Marthé-Brucknerwelt eine ganz speziell andere ist, als die "Welten" der Bruckner-Interpretationen von Celibidache, Giulini, Wand, Jochum, Böhm, Karajan, Harnoncourt, Horenstein, Walter, Klemperer, dann lass ich lieber die Finger von der schönen, neuen, reloadeten Marthé-Welt. Klingt mir irgendwie nach "Bruckner für Herr der Ringe-Fans..."

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  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Meiner Meinung nach ,sollte die Wissenschaft in der Musik


    eine untergeordnete Rolle spielen.


    :hello:Herbert.


    Der Meinung bin ich überhaupt nicht. Ich würde mal wagen, zu sagen, dass es dann die Hälfte der Musik, die wir so lieben heute gar nicht mehr geben würde.


    Musik bietet mehr, als hören und gefallen. Musik bietet auch Mystik. Das bestätigst Du ja selbst ein wenig, indem Du der Wissenschaft in der Musik einen vergleichsweise geringen Stellenwert einräumst. Insofern verstehe ich Deinen Beitrag, indem Du meintest, keine (Bruckner) Spiritualität in der Musik zu brauchen noch weniger. ?(

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Klappern gehört zum Handwerk


    Zitat

    Ich finde es einfach nur traurig, dass hier so ein völlig überflüssiger Grabenkrieg geführt wird, wo doch beide Standpunkte sich nicht einmal berühren.


    Ich bin sogar der Meinung, daß dieser "Grabenkrieg" notwendig ist/war um ein wenig das Interesse auf diese beiden Versionen zu lenken.
    Inwieweit die beiden Protagonisten sich darüber im klaren sind wie nützlich dieser Streit war ist mir nicht ganz klar, jedoch habe ich eine persönliche Meiunung zu diesem Punkt.


    Es ist nichts Neues - und auch nichts ungewöhnliches, daß sich zwei Klassikströmungen bekämpfen - und zwar mit allen Mitteln.


    Da gab es die Lullisten und die Ramisten, es gab den Konflikt Brahms vs. Bruckner, Mozart vs. Salieri, und die Impresarios des 18. Jahrhundert wollten sogar einen "Krieg" Haydn v.s Pleyer entfachen, was lediglich daran scheiterte, daß die beiden Herren eine Abmachung miteinander trafen, die sich letzlich für beide als sehr einträglich erweisen sollte......


    Nichts Neues also.


    Neu ist lediglich, daß es in diesem Jahrhundert passiert, wo man das Interesse an Klassischer Musik im allgemeinen totgesagt hat .... :P


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Masetto


    Der Meinung bin ich überhaupt nicht. Ich würde mal wagen, zu sagen, dass es dann die Hälfte der Musik, die wir so lieben heute gar nicht mehr geben würde.


    Musik bietet mehr, als hören und gefallen. Musik bietet auch Mystik. Das bestätigst Du ja selbst ein wenig, indem Du der Wissenschaft in der Musik einen vergleichsweise geringen Stellenwert einräumst. Insofern verstehe ich Deinen Beitrag, indem Du meintest, keine (Bruckner) Spiritualität in der Musik zu brauchen noch weniger. ?(


    Salut,


    wie man Wissenschaft und Kunst miteinander veknüpfen soll, weiß ich auch nicht so recht. Untrittig benötigt man beides [vorrätig zu gleichen Teilen]. Haydn allerdings wusste es und sagte über Mozart, dass dieser über "die größte Kompositionswißenschaft" verfüge. Wenn es je ein Lager mit 200% Kunst und 200% Wissenschaft gibt, sind dies immer noch zwei Lager. Hochqualifizierte zudem. Wenn aber ein Lager beides gleichzeitg beinhaltet, halte ich dies für besser. Nichts anderes hat Haydn wohl gemeint.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Ich finde es herrlich. wenn ich abend den PC einschalte, ist es das erste zu sehen war hier los ist. Hier findet ein Kampf statt, alle Mittel sind erlaubt. Spannender als im Fernsehen.
    Baumgartner gegen Marthé
    Ben Cohrs gegen Marthé


    Und dann gibts noch einige Mittstreiter auf beiden Seiten, wobei die Marthé-Gegener überwiegen. Wenn man es genau nimmt, steht Marthé eigentlich allein da.


    ABER: Welch Überraschung Ben Cohrs ist angezählt. Er hat die Fassung verloren. Er, der bisher sehr sachlich geblieben ist, im Gegensatz zu Baumgartner und Marthé greift in die unteren Schubladen.
    Tut mir leid, der massenhaft vorhandene "Credit" ist damit bei mir ziemlich verspielt.


    Ich kenne viele Finale-Fassungen.
    Carragan 83, die ich übrigens sehr reizvoll finde
    Samale Mazzuca 85,
    Cohrs at al 92
    und Cohrs'Fragmente = Harnoncourt


    und nun Marthé


    Alle diese Versionen haben eines gemeinsam. Sie sind spannend von der ersten bis zu letzten Sekunde. Auch Marthé. Ich hab seine Version mittlerweile ca. 15x gehört und sie ist für mich schlüssig vom 1-4 Satz.
    Auch das Scherzo ist spannend und hat Kraft. Nur man muß bereit sein, seine liebgewordenen Schlüsselstellen zu vergessen und sich neue suchen. Die sind massenhaft vorhanden. Aber sie sind noch nicht da, wenn man sie zum ersten mal hört. Sie können sich erst nach mehrmaligem hören entwickeln. Und das interessante ist, die neuen Schlüsselstellen haben mehr Kraft als die alten.


    Damit schließt sich aber auch der von Marthé angesprochene Zusammenhang mit Cheli. Den bei ihm muß man seine Hörgewohnheiten auch ablegen. Man hört und spürt hier Passagen , die bei anderen Interpreten nicht vorhanden sind - weil zu schnell.


    Marthé hat nicht komponiert, wie Bruckner damals 1896 komponiert hätte. Er versucht darzustellen, wie hätte Bruckner heute, mit allem Wissen was nach ihm war, sein eigenes Themenmaterial verarbeitet. Wenn man es dabei beläßt - was offensichtlich nicht möglich ist - kann jeder damit leben.


    Und damit - ab in die nächste Runde.
    Wer geht als nächster k.o.

    lg
    Georg Andreas
    _____________________________________
    Nur was stecken bleibt tut weh. Was im Fluß
    ist wird dorthin geschwemmt, wo es hingehört.

  • Die Äußerung seitens Herrn Corhs bezüglich meiner „bodenlosen Anmaßung eines persönlichen Drahts zu Bruckner“ halte ich persönlich schlichtweg für eine Anmaßung seinerseits, da ihm ganz einfach dazu das nötige Instrumentarium fehlt, hierin eine kompetente Aussage zu tätigen. Ob Herr Marthé in diesem Punkt die Wahrheit spricht oder nicht, kann nur von Hellsehern, Schamanen oder Yogis beurteilt werden. Wissenschaftler sind aber keine Hellseher, sondern Dunkelseher, da sie so gut wie nichts sehen - außer materielle Körper und ihre sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten. Wunderbar in der Realität unseres Alltags, verheerend im Zusammenhang mit Kunst.


    Kunst (vor allem diejenige Bruckners) hat ihre Wurzeln in der Mystik und ist ausschließlich aus ihr zu verstehen.
    Ich habe überhaupt keine Ursache, dasjenige, was Herr Cohrs am „materiellen Corpus“ der Brucknerschen Musik geleistet hat, auch nur irgendwie zu schmälern. Ganz im Gegenteil.
    Nur, er sollte dabei bleiben, was er ist und sich keine Urteile über eine „Welt“ anmaßen, wozu er offensichtlich keinen Zutritt hat.
    Wissenschaft und Kunst sind soweit von einander entfernt wie das Matterhorn vom Planeten Pluto (dem übrigens von der Wissenschaft erst kürzlich die „reale Existenz“ offiziell aberkannt wurde - na klar: er gilt ja auch als der „mystische Planet“).


    Ich möchte nicht schon wieder das vielzitierte Shakespeare-Wort strapazieren: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als uns die Schulweisheit…etc. etc. etc….“
    Genau von diesen „Dingen zwischen Himmel und Erde“ spricht ja eingehend Bruckners Musik.

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  • Zitat

    Original von Georg Andreas
    ABER: Welch Überraschung Ben Cohrs ist angezählt. Er hat die Fassung verloren.


    Keine Überraschung - welch ein Unglück! Da geht die ganze Arbeit von vorne los...


    :rolleyes: :untertauch:


    Sorry, Ben! :O


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Ich rede von der Musikwissenschaft. Zu den anderen Wissenschaften habe ich insofern ein gespaltenes Verhältnis, als das sie das Sinnliche und das pure Wunderbare oftmals einfach außen vor lassen und dies auch noch lehren. So bleibt der Blick für anderes oftmals verschlossen - die tausend und abertausend Wunder, die jeden einzelnen Tag füllen.


    Ich bin im Übrigen nicht der Meinung, dass Herr Cohrs hier Credite verspielt hat. Es ist eine hitzige Diskussion, die hier geführt wird. Ich denke, das verstehen beide Seiten. Ich attestiere beiden Seiten einfach mal, mit ganz viel Herzblut bei der Sache zu sein.


    Zur Mystik. Ich denke nicht, dass es möglich ist, das Wesen Bruckners in der heutigen Zeit wirklich nachzuempfinden. Jeder Mensch hat Geheimnisse und Abgründe in sich, die kein anderer kennt. Wir haben das Glück, dass wir diese Welt Bruckners aus seiner Musik heraus erahnen können. Seine "Ticks" waren da sicherlich nur die Spitze des Eisberges.


    Was den Draht zu Bruckner anbelangt bin ich der Meinung, dass man über gewisse Dinge einfach schweigen und das Ergebnis für sich sprechen lassen sollte. Viel schöner ist es, wenn die Zuhörer sagen - "Mensch, der muss ja einen direkten Draht zu Bruckner gehabt haben". Dies zu sagen fällt mir leider leider leider aufgrund des ganzen Rummels im Vorfeld sehr schwer, da dort dieser Draht vielleicht etwas überstrapaziert wurde.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon


  • hoffentlich verlieren carragan und nowak nicht auch noch ihre....

  • NIEMAND hat hier Kredite verspielt !!!


    Weder Ben Cohrs, noch Jan Peter Marthé , noch Edwin Baumgartner.
    Die Moderation hat in allen Fällen auf kleinere "Wadelbeissereien" (Seitenhiebe)
    nicht reagiert, weil die Unmutsäusserungen, wenngleich nicht sympathisch zu lesen, doch menschlich verständlich waren.


    Die "Kredite" die hier "verspielt" wurden, waren Kapital, daß gar nicht existierte - immer lächelnde Musikfreunde - immer nett - und niemals aus der Rolle fallend. Die Fassung zu verlieren ist IMO kein Beinbruch - lediglich in unseren Zeiten, da Politiker eiskalt in die Kamera lächeln wenn sie lügen - ungewöhnlich.


    Und letzteres ist hier auch nicht wirklich passiert, was wir zu lesen bekamen war allenfalls Ausdruck unterdrückten Ärgers von allen Seiten.


    Die Diskussion wäre auch viel milder verlaufen, hätte nicht jeder der Beteiligten das Gefühl sich "vor der Klassikwelt" profilieren zu müssen um zu "überleben".


    Das ist zwar verständlich, sollte aber im Rahmen bleiben - und das tat es bisher auch (grade noch)


    Es ist ein Irrglauibe, anzunehmen, daß sich eine der beiden Fassungen als "endgültige" Volllversion durchsetzen würde, weil es gibt noch DREI weiter Gruppen:


    Jene die meinen, Bruckners 9. bedürfe keines 4. Satzes (schließlich hat Bruckner selbst sich mit diesem Gedanken mehr oder weniger angefreundet als es zu Ende ging)


    Jene die dem Vorschlag Bruckners folgend, das Te Deum spielen.


    Jene die eine andere Ergänzung spielen (wurden oben schon genannt)


    Jene die vorhandene Fragmente spielen, aber keine endgültige Aufführungsversion (mit Ergänzungen) wollen



    Man sieht also, eine engültige Lösung ist nicht in Sicht.


    ABER: Umso interessanter ist der Umgang mit diesem Umfeld:


    Ich begann mich für die Rekonstruktion zu interessieren - und ebenfalls für die "Hommage an Bruckner" von Marthe - wie ich dieses Finale insgeheim getauft habe Damit nehme ich dem Projekt jeden Anflug von "Unseriosität"
    - Andrerseits: Hand aufs Herz - wer hätte hier drüber geschrieben, wenn nicht die Werbetrommel das Marthé Projekt ein wenig in den Vordergrund gestellt hätte ?


    Genau hier ist der schwache Punkt von Ben: Ein WISSENSCHAFTLICHES Projekt DARF NICHT GRELL WERBEN - und verschwindet somit schnell wieder in den Archiven. (ein bitterer Gedanke für jemand der ehrlich recherchiert hat, daß eine Neukomposition eines Anderen offensichtlich für mehr Schlagzeilen sorgt als die (behutsam ergänzte) Eigenkomposition Bruckners.


    Interessanterweise ist es aber genau diese von Ben "bekämpfte" Version die auch "seine" in den Blickpunkt des Interesses gerückt hat -Wobei es nicht von Bedeutung ist, ob die Wildner Einspielung die Allerletzten Erkenntnisse berücksichtigt oder nicht.


    Herr Marthé hat in Sachen Bruckner-PR ganze Arbeit geleistet - sanft unterstützt durch das Tamino Klassikforum ;)


    Es wird in der Klassikwelt nun kaum jemand geben der diesen Streit nicht irgendwie wahrgenommen - und sich für die Thematik interessiert. ausser einigen Tonträgerfirmen, die gerade dabei sind ihre alten Aufnahmen zum 10. Male mit neuen Covern zu versehen....................



    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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