Können Menschen nicht mehr hören?

  • Zitat

    Original von Wulf
    Abe warum gerade Brahms-Symphonien? Da bin ich eh ein schlechter Ansprechpartner. Für mich sind gerade seine Symphonien meist durchkomponierte Langeweile :stumm::untertauch::stumm:


    und wie findest du das deutsche requiem?

  • Ich kenne schon das eine oder andere Epos (Dream Theater ist da nicht dabei), welches ich besser finde, als eine Brahms-Sinfonie :D z. B. Relayer von Yes. Hier wird auch dem Kontrapunkt gefröhnt.


    Dream Theater sind natürlich große Virtuosen :jubel: aber in meinen Augen mäßige Komponisten, wenn auch allesamt musikstudiert.


    Ich bleib aber dabei. Man kann zwar genreübergreifend vergleichen (manches Mal geht das tatsächlich), man sollte aber nie die eine Kunst über die andere heben. Auch die eine IIntention ist nicht erhabener als die andere.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Aber es wäre ja auch unfair zu sagen wenn ich die richtigen 4 minuten aus einer symphonie raussuche, dann kann ich beweisen, das ein rocksong nicht langweiliger ist.


    Die Leistung eine Symphonie zu komponieren besteht ja auch unter anderem darin diese längen zu schaffen, ohne das es langweilig wird.


    Und ich glaube nicht, das es viele Rockkomponisten gibt, die einen song schreiben könnten, der über eine Stunde andauert, ohne dabei in klassische muster zu verfallen, also nur im gangigen Rockmuster zu bleiben, ohne das der song langweilig wird.

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    Original von Kurzstueckmeister
    und wie findest du das deutsche requiem?


    Nicht von dieser Welt - einfach bezaubernd!! Eine der wenigen Werke von Brahmsm bei denen ich nicht an ein spießig biedermeierliches Wohnzimmer in Grün- und Brauntönen denken muß. :stumm:


    Zitat


    Und ich glaube nicht, das es viele Rockkomponisten gibt, die einen song schreiben könnten, der über eine Stunde andauert, ohne dabei in klassische muster zu verfallen, also nur im gangigen Rockmuster zu bleiben, ohne das der song langweilig wird.


    Deswegen ist es ja auch ein Song!! Der Vergleich eines Rocksongs mit einer Symphonie ist eh Blödsinn, wenn dann eher mit einem klassischen Lied - als dessen moderner Vertreter man den rocksong allerhöchstens noch sehen könnte. Und im Ernst: Selbst einem Schubert wäre kein Lied gelungen, daß dich eine Stunde lang bestens unterhält, oder? (Das liefe der Intention eines Liedes - selbst im Kunstlied - entgegen.) Jetzt kann man natürlich dagegen argumentieren undf behaupten Schubert hätte musikalisch zusammenhängende Liderzyklen geschaffen. Doch ein paar konzeptuelle Alben gibt es in der Rockmusik auch, v.a. in der von Masetto geschätzten ProgRock-Richtung (die von manchen wohl auch ArtRock genannt wird).

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    Original von C.Huth


    Hi richard logiewa,


    man sollte der Fairness halber erwähnen, dass es doch nicht selten umgekehrt ganz genauso ist. Leider. Denn die Vergleiche bringen meiner bescheidenen Meinung nach so herum wie so herum einfach nur eines: nämlich nix. Und zuhören wollten oft genug die eingefleischten "Klassiker" den anderen auch nicht. Da schließt sich dann freilich auch wieder der Kreis....


    Lieber Claus,


    Dann sollst Du der Fairneß halber erwähnen, daß wir fortwährend tagtäglich strapaziert werden.
    Bist Du in einem Laden, dann hörst Du jene Musik. Fernsehen anschauen: jene Musik. Radio: idem. In der Straße: dito. Auf dem Strande, im Wagen neben einem Ampel, ja sogar im Zug, usw. Man wird von Ghettoblastern weggeblasen. Je mehr tiefe Töne, je besser. Je mehr Drumsektion dazu, je aggressiver. Und bei uns gibt es dann auch noch einige unsauberen, langhaarigen, stinkenden Persone, die Dich zwingen die Luft ihrer "Stickies" einzuatmen, obwohl es verboten ist.
    Bereits einige Male ist es passiert, daß bloß die Bitte jene Lärm etwas zu mildern, dazu führte, daß die angesprochene Person ein Messer zog (das haben offenbar fast alle Jugendlichen heute) und ohne weiteres zustach. Wenn ich mich nicht irre, wurden in den letzte fünf Jahre bereits zehn Persone so getötet.


    Und jenen Lärm müßen wir erdulden?
    Das ist doch nicht auf eine gleichwertige Basis die Sache betrachten. Es tut mir Leid, aber ich bin es allmählich satt. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich entflüchte jene Läden. Ich bleibe lieber zu Hause, als mich noch länger zu ärgern und eine Nervenzusammenbruch zu bekommen.


    LG, Paul

  • Die meisten Menschen heutzutage haben es einfach verlernt die Feinheiten und unterschiedlichen Nuancen in der Musik herauszuhören.
    Rock und Metal-Musik klingt für mich ziemlich roh, ungeschliffen und oberflächlilch.
    Da braucht man auch keine Details und Feinheiten rauszuhören weil es einfach keine gibt, dort zählt, wie musicophil schon schrieb, das Laute, Lärmende, Coole, Krasse, alles andere wäre zu anstrengend.
    Hauptsache geile Gitarrenriffs ohne "Seele", da kann man schön drauf "headbangen".
    Tempounterschiede oder Dynamikdifferenzen sind dort natürlich dann auch eher fehl am Platz, müsste man ja dann das "Kopfwackeln" stellenweise unterbrechen und wirklich zuhören, nein, nein, das will keiner.


    mit Grüßen
    Christoph

  • Diese Pauschalisierung ist ebenso oberflächlich! Einer solchen Aussage trete ich entschieden entgegen. Sie basiert sicherlich nicht auf entsprechenden Erfahrungen und gibt nur ein vages Bild wieder.


    Jedenfalls muss auch der Sinn fürs Hören geschult werden. Wer dies nicht tut, dem können sich auch keine Weltern eröffnen.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von musicophil
    daß wir fortwährend tagtäglich strapaziert werden.


    Oh ja... gerade gestern mußte ich entsetzt feststellen, daß nun auch die Musikbedudelung in ganz normalen Supermärkten (zur Zeit scheinen die ja alle REWE zu heissen) wieder zunimmt: übelster Schlagerdreck mit musikantenstadeligen Einschlag... (nicht Dudel-Radio sondern REWE-Band mit eingeschnittenen Sonderangebotshinweisen!) bei solch einer Musik bekäme wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Bevölkerung Wut beim einkaufen (wenn sie denn bewußt hinhören würde - aber dazu scheinen viele tatsächlich nicht in der Lage zu sein, sonst würden dem Filialleiter mehr Beschwerden vorliegen)

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  • Zitat

    Original von Masetto
    Jedenfalls muss auch der Sinn fürs Hören geschult werden.


    Dies ist der alles entscheidende Punkt! Nicht nur junge Leute, auch Erwachsene erleben heute Musik jeglicher Art hauptsächlich oder ausschließlich als permanente "Nebenbei-Unterhaltungs-Berieselung", als Geräuschteppich, als Stimmungshintergrund. Deshalb wird der Pianist, der ein klassisches Stück spielt oder mit Sänger ein Kunstlied aufführt, genauso wahrgenommen wie der Alleinunterhalter am Keyboard oder der DJ.


    Die größte Mühe und Kreativität bei der Vermittlung anspruchsvoller Musik liegt heute in der Vorarbeit. Ich muß die Menschen "abholen" in ihrer Lebenswirklichkeit und ich muß sie vorbereiten auf das, was sie gleich erleben. Ich muß ihnen deutlich machen, worin der Unterschied zur Hintergrundkonserve besteht. Und - dies sei einigen Diskutanten in diesem Thread dick und fett ins Stammbuch geschrieben - ich muß ihre eigenen Interessen und Vorlieben respektieren! Aus einer Position der Überheblichkeit wird nie ein Zugang zu anderen Menschen möglich und sie werden sich nie für den Gegenstand der Vermittlung öffnen (banal, aber mußte gesagt werden!).


    Es ist für einen offenen Musiklehrer mit Liebe zu seinen Schülern sehr gut möglich, sie mit Gangsta Rap / Rammstein o.ä. abzuholen und bei Bruckner / Reger oder sogar Bach zu landen. Dieser Weg macht mehr Mühe als den Leuten schlecht oder gar unvorbereitet ein Schubertlied vorzuspielen, in der Meinung, daß "hohe Kunst" für sich selbst spräche.


    Im übrigen zählt auch das Vorleben einer respektvollen Haltung zur Musik. Wenn bei uns am Ende des Gottesdienstes der Organist einen wunderschönen Bach, Reger oder Widor spielt und die Pfarrer und Kirchenvorsteher fangen im Altarraum an, sich fröhlich laut zu unterhalten - wieso soll die Gemeinde andächtig schweigen? Und wenn mir mein Neffe die neueste CD von Deichkind mit Begeisterung vorspielt, dann höre ich auch hier ernsthaft zu und lasse mir seine Begeisterung erklären. Anschließend mache ich regelmäßig die Erfahrung, daß er sich über das, was ich an seiner Musik gut und interessant finde freut, aber auch meinen kritischen Anmerkungen zu Musik und Texten zuhört.


    Wirklich kunstvolle Musik ist nicht elitär, sondern elementar! Das ist immer anspruchsvoll und nicht auf sogenannte klassische Musik beschränkt. Wer letzteres behauptet, ist ebenfalls ein Ignorant!


    Liebe Grüße :)

    Einmal editiert, zuletzt von Reiner_Klang ()

  • Zitat

    Original von Masetto
    Diese Pauschalisierung ist ebenso oberflächlich!


    Lieber Tilo,


    Was nennst Du oberflächlich? Die Beschreibung von Christoph, wie man das betrachten soll?
    Oder meine Konstatierung von Tatsachen, daß man mich überschwimmt mit Musik, "whenever and whereabouts", obwohl ich unbedingt solche Musik nicht hören will. Und das meistens noch so aufdringlich laut, daß es nervt?


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Hayate
    Da braucht man auch keine Details und Feinheiten rauszuhören weil es einfach keine gibt (...)
    Tempounterschiede oder Dynamikdifferenzen sind dort natürlich dann auch eher fehl am Platz, müsste man ja dann das "Kopfwackeln" stellenweise unterbrechen und wirklich zuhören, nein, nein, das will keiner.


    mit Grüßen
    Christoph


    Da ich Musik kenne, wo das Gegenteil der Fall ist, zeugt diese Aussage von einer gewissen Oberflächlichkeit und strotzt vor Vorutteilen. Sowas finde ich nicht gut.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Masetto


    Da ich Musik kenne, wo das Gegenteil der Fall ist, zeugt diese Aussage von einer gewissen Oberflächlichkeit und strotzt vor Vorutteilen. Sowas finde ich nicht gut.


    Ich darf deshalb annehmen, daß Du mit meinen Konstatierungen einverstanden bist, gell?


    LG, Paul

  • Nein, weil es keine Tatsache ist, sondern ein Vorturteil bzw. eine Tatsachenbehauptung, die so nicht haltbar ist, weil sie - wie ich annehme auf Unkenntnis beruht und daher mithin wenig objektiv ist.


    Deine Aussage war ja subjektiv. Das ist ja völlig i. O. ;)


    Aber wenn man von fehlenden Tempowechseln und einer fehlenden Dynamik spricht, sollte man die Musik schon kennen, um so etwas zu sagen.


    Insofern finde ich die Aussage des Herrn Klang diesbezüglich sehr objektiv. :yes:

    29.08.1958 - 25.06.2009
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  • Zitat

    Original von Masetto
    Nein, weil es keine Tatsache ist, sondern ein Vorturteil bzw. eine Tatsachenbehauptung, die so nicht haltbar ist


    O, jetzt bin ich erstaunt. Ich gab Beispiele, wie und wo ich solche Lärm dulden muß. Und das soll ein Vorurteil sein? :rolleyes:


    Wenn es zu laut ist, ist das dann kein Lärm? (Abgesehen davon, daß solche Musik für mich überhaupt - ob sanft oder laut - zu der Kategorie "Lärm" gerechnet werden soll.)


    Wenn mit Ghettoblastern den Genuß von vielen Menschen ins Freien verdorben wird, ist das dann ein Vorurteil?


    Wenn ich im Zug sitze, und einer hat seinen Kopfhörer auf und hört Musik, aber so laut, daß ich trotz einiger Plätze weiter, "mitgenießen" muß, ist das dann ein Vorurteil?


    Wenn ich im Wagen bei einem Ampel warte; neben mir steht ein Wagen, und dort ist die Musik so laut, daß meine eigene Musik dauernd gestört wird durch dumpfe Bässe aus dem Wagen neben mir, ist das dann ein Vorurteil?


    Und so kann ich noch zig Beispiele geben.


    Du darfst uneingeschränkt solche Musik genießen. Das ist Dein Geschmack. Aber bitte, befreie mich jedenfalls von jener Belästigung.


    Zitat

    Deine Aussage war ja subjektiv.


    Das Konstatieren von Tatsachen ist nicht subjektiv, sondern objektiv. :P


    LG, Paul

  • Lieber Paul,


    das ist doch in Ordnung, nachvollziehbar und richtig. Du hast mich völlig falsch verstanden. Ich bezog mich doch gar nicht auf Deine Aussage, sondern auf die Hayates! :P


    In Hayates Fall meinte ich, kann nicht von Objektivität gesprochen werden, weshalb ich dieser entgegen trete.


    Ich bezog mich nicht auf das, was Du gesagt hast, weil das absolut in Ordnung ist!

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ich kenne genug Masetto, habe ja bis zu meinem 18.Lebensjahr doch nichts anderes gehört ;)
    Und ja, ich weiß, dass es nicht immer so ist und es auch Ausnahmen gibt, bestätigen aber gerade diese nicht die Regel?-fg-


    Ach ja, und ich finde musicophil übertreibt ein bisschen. :stumm: :D


    mit Grüßen
    Christoph

  • Dann hast Du in der falschen Sparte gehört. Du musst Musik hören, wo progressive oder art... drüber steht. Da gibt es nix als Tempo- und Dynamikwechsel.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Hayate
    Ach ja, und ich finde musicophil übertreibt ein bisschen. :stumm: :D


    Leider Christoph,


    Ich gäbe vieles darum wenn Du Recht hättest. Dafür sind solche Tatsachen mir zu oft überkommen. Entweder bin ich aufmerksamer als Du, oder allmählich eher reizbar. Denn seite Jahrzehnten muß ich dies bereits dulden. Und es wird immer schlimmer.
    Diese Behauptungen meinerseits waren noch ein "understatement".


    LG, Paul

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    Original von Hayate



    Ach ja, und ich finde musicophil übertreibt ein bisschen. :stumm: :D


    Wie bitte? Übertrteiben? Bei seinem letzten Posting unterschreibe ich jedes Wort. Jeder soll die Musik hören, die er hören möchte, aber doch bitteschön nicht auch sei Umfeld damit belästigen.


    Um auf den Anfangspunkt der Diskussion zurückzukommen: es kann bei der Fragestellung ja eigentlich nicht um die Akzeptanz von klassischer Musik gehen (einmal mehr, denn dazu gibt's ja bereits einen Thread). Vielmehr ist die Tasache beobachtet worden, daß die Menschen nicht mehr zuhören können. Und das gilt nicht nur für die Klasische Musik. Pop/Rock kann auch mit langens Stücken aufwarten ("Salisbury" von Uriah Heep aus 1969 fällt mir da ein, "Revolution Nr.9" von den Beatles, nicht zu reden von den Pink Floyd-LP's), beim Jazz sind Jams Usus, die deutlich aus dem 3 Min-Format herausfallen. Dieses Musikformat ist ja eigentlich aus den beschränkten Möglichkeiten der Schallplatte heraus geboren worden, deren Aufzeichnungskapazität sich bis 1949 auf ca. 5 min pro Seite beschränkte ("New Orleans Function" von Louis Armstrong verteilte sich auf zwei Plattenseiten). Es wäre eine eigene Untersuchung wert, inwiefern sich bei Studioaufnahmen der Schellack-Zeit die Spieltempi klassischer Werke an eben dieser Aufnahmekapazität orientierten (wenn eben spätestens nach 5 min ein Schnitt gemacht werden musste).


    Wir müssen konstatieren, daß die Welt unserer Wahrnehmung vertärkt in "Formate" aufgeteilt wird. Auch müssen alle Sinne zusammen angesprochen werden, ein einzelner Popsong ohne Video dazu geht eigentlich gar nicht mehr. Nachrichten im TV ohne nichtssagende Flimmerbilder: geht nicht mehr (ich habe da ja noch die nahezu film- und jinglefreie alte Tagesschau der 1970er Jahre im Kopf). Und auch die Klassikwelt setzt auf diese "sinnliche" Synergie: man denke nur an das Waldbühnenkonzert, mit dem Besucher des Saturn Köln permanent gequält werden. Anlässlich der Veröffentlichung des "Tristan" mit Domingo und Stemme im vergangenen Jahr auf CD fühlte sich der Kölner Stadanzeiger bemüßigt, das Ende der Opern-GA auf CD herbeizuschreiben. Künftig würde es Neueinspielungen nur noch als DVD geben.


    Die Frage lautet also tatsächlich: Können Menschen einem gesprochenen oder musizierten Gedanken nicht mehr folgen, der länger dauert als drei Minuten? Genau diese Frage muß wohl mit "ja, das ist so" beantwortet werden. Wer das Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" von Neil Postman zur Lektüre anempfohlen.


    Man kann sich natürlich Gedanken machen, ob wir mit unserer Konzentrationsfähigkeit mithin darauf reagieren, daß wir unsere Informationen nur noch in den Formnaten vorgesetzt bekommen, die die vorgenannte Tatsache bedienen (will heißen: etwas anderes wird ja nicht trainiert, weil kaum gefordert), oder ob wir uns umgekehrt durch Medieneinfluß dergestalt gewandelt haben. Daß sich das über die Generationen hinweg vertärken mag, will ich wohl glauben (wobei ich den den Generationenbegriff im Sinne von Hermann Lübbes "Generationenschrumpfung" für einen Zeitraum von maximal acht Jahren (dies nun private Empirie) gebrauchen möchte).


    Vielleicht ließe sich ja auch ketzerisch fragen, ob die Klassikindustrie ihre zunehmenden Wiedergabe-Tempi braucht, um ein jüngeres Publikum anzusprechen (mit Grausen denke ich an eine Aufnahme Roger Norringtons von Schuberts 9. Sinfonie. Die habe ich törichterweise seinerzeit gekauft -weil HIP der Ankündigung nach- ohne zuvor hineinzuhören. Nach einmaligem Hören habe ich die CD umgehend zurückgebracht, mit dem Kommentar, daß dieses fürchterliche Gehetze bestenfalls Klassik für Manager sei). Aber das ist wieder eine ganz andere Baustelle.


    Also die Frage zurück in diese Runde: wie sieht's aus bei uns mit unserer Fähigkeit, größeren Zusammenhängen zu folgen, Klemperers Eroica (ca. 58 min) zuzuhören und nicht der von Gielen (ca. 38 min, bitte um Korrektur, wenn ich die Zeiten jetz falsch im Kopf habe)?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Santoliquido
    Also die Frage zurück in diese Runde: wie sieht's aus bei uns mit unserer Fähigkeit, größeren Zusammenhängen zu folgen, Klemperers Eroica (ca. 58 min) zuzuhören und nicht der von Gielen (ca. 38 min, bitte um Korrektur, wenn ich die Zeiten jetz falsch im Kopf habe)?


    Ich bezweifle mal, dass 38 oder 58 min. die Frage nach der Fähigkeit, Zusammenhänge zu hören, beantworten. Schließlich gibt es mit dem Ring einen mehrtägigen Koloss, der ganz andere Anforderungen an Aufmerksamkeitsdauer stellt bzw. kann ein kurzes sehr dichtes Stück schwieriger bezüglich Erkennen von Zusammenhängen sein als ein längeres.


    Wie soll man nun die Fähigkeiten der Klassikhörer von heute und vor 50 Jahren vergleichen können?

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Ich bezweifle mal, dass 38 oder 58 min. die Frage nach der Fähigkeit, Zusammenhänge zu hören, beantworten. Schließlich gibt es mit dem Ring einen mehrtägigen Koloss, der ganz andere Anforderungen an Aufmerksamkeitsdauer stellt bzw. kann ein kurzes sehr dichtes Stück schwieriger bezüglich Erkennen von Zusammenhängen sein als ein längeres.


    Wie soll man nun die Fähigkeiten der Klassikhörer von heute und vor 50 Jahren vergleichen können?


    Nun, der von Dir angesprochene Punkt war vielleicht meinerseits unglücklich formuliert. Bei dieser Zeitdifferenz rede ich jetzt nicht von der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, sondern von der verlängerten Konzentrationsbereitschaft.


    Was den "Ring" betrifft: Größer als 2,5 h sind die Zumutungen da ja nicht. Die Kurzoper "Rheingold" hat keine Pause, die übrigen jeweils deren zwei, in Bayreuther Auslegeung jeweils eine Stunde, und nach den ersten beiden Abenden sind erst einmal ein zwei Tage Erholung angesagt, bis es mit Siegfried weitergeht. Aber Du hast natürlich recht, daß die Herausforderungen des "Ringes" schon erheblich sind.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich habe nochmals den Threadbeiträgen gelesen, und glaube, daß der Threadtitel "Können Menschen nicht mehr hören" keine richtige ist.
    Besser wäre "Können Menschen Musik, die was länger als üblich dauert, nicht mehr hören".


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Santoliquido


    Nun, der von Dir angesprochene Punkt war vielleicht meinerseits unglücklich formuliert. Bei dieser Zeitdifferenz rede ich jetzt nicht von der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, sondern von der verlängerten Konzentrationsbereitschaft.


    Beethoven, der alte Hitzkopf, litt anscheinend an mangelnder Konzentrationsfähigkeit ;), deswegen schrieb er Tempi vor, die die Eroica nur knapp 45 min. dauern lassen. Kein Wunder, er war ja auch nicht durch Wagner-Akte gestählt...


    Klemperer mogelt übrigens; der Kopfsatz dauert in seiner Mono-Aufnahme (EMI 1955) von op. 55 15:48, also ungefähr ebensolange wie im korrekten Tempo, aber das wird durch Weglassen der Expositionswiederholung erreicht. (Gesamtspieldauer hier übrigens knapp 50 min. Gielen/SWF ca. 44 min.)


    Im Ernst, ich schätze Klemps Mono-Aufnahme durchaus, aber die Überlegung "moderne, hektische Zeit, daher (unangemessen) schnelle Tempi" ist eins mein Lieblings-Milchmädchen-Argumente.


    Schonmal in einer Kutsche Galopp über Kopfsteinpflaster gefahren und das Tempogefühl mit dem in der S-Klasse auf der Autobahn oder im ICE bei Tempo 200 verglichen? Schonmal eine typischen Mozart-Tagesablauf in einer Biographie gesehen? Wir leben vielleicht oberflächlicher als damals, aber nicht in einer Weise schneller, die irgendeinen nennenswerten Einfluß auf musikalische Tempi hätte.
    (m.E. sind die zentralen Faktoren hier immer noch Puls- und Atemfrequenz, die haben sich in den letzten 5000 Jahren nicht groß verändert)


    Die überlieferten Tempi aus dem 18. u. 19. Jhd. etablieren die zügigen Zeitmaße, auf die etwa Beethovens Metronomziffern deuten, von einigen wenigen Schreibfehlern abgesehen, über jeden vernünftigen Zweifel.


    Bei Brahms, Bruckner, Wagner, Schubert deutet die Mehrzahl der historischen Aufnahmen darauf hin, dass seit dem zweiten Weltkrieg eher eine Verlangsamung der Tempi eingesetzt hat
    Das merkt man u.a. daran, dass zB Klemperer ca. 1960, der Beethoven oft zum Mitschreiben dirigiert, bei Brahms (zB Requiem) oder Bruckner (zB 4.,7.) sehr oft viel flüssigere Tempi wählt als spätere Interpreten.


    Abgesehen davon, ist es wohl absurd, durch unangemessen breite Zeitmaße Zusammenhänge (besonders rhythmischer Art) schwieriger erfaßbar zu machen.


    Und es gibt meiner Erfahrung nach tatsächlich den von KSM genannten umgekehrten Fall. Ich selbst hatte früher große Schwierigkeiten (und weiß von anderen Hörern, dass es ihnen ähnlich ging) mit Stücken wie Chopins Preludes oder Etudes; die waren mir zu kurz. Andere Hörer haben Probleme mit dem Tempo und der Ereignisdichte eines Haydn-Hauptsatzes, weil sie Brucknersche Breite gewohnt sind.
    Von Webern wollen wir gar nicht anfangen...


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister


    Sieh an, wir verkneifen uns die Nennung desselben Komponisten
    ;)


    Aber vermutlich aus unterschiedlichen Gründen; ich nämlich, weil ich selber mit den ganz kurzen Stücken von Webern nicht viel anfangen kann ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Im Ernst, ich schätze Klemps Mono-Aufnahme durchaus, aber die Überlegung "moderne, hektische Zeit, daher (unangemessen) schnelle Tempi" ist eins mein Lieblings-Milchmädchen-Argumente.


    Schonmal in einer Kutsche Galopp über Kopfsteinpflaster gefahren und das Tempogefühl mit dem in der S-Klasse auf der Autobahn oder im ICE bei Tempo 200 verglichen? Schonmal eine typischen Mozart-Tagesablauf in einer Biographie gesehen? Wir leben vielleicht oberflächlicher als damals, aber nicht in einer Weise schneller, die irgendeinen nennenswerten Einfluß auf musikalische Tempi hätte.
    (m.E. sind die zentralen Faktoren hier immer noch Puls- und Atemfrequenz, die haben sich in den letzten 5000 Jahren nicht groß verändert)


    In der Tat zählen Kurzschlüsse von der Art "schnellebigere Zeiten - schnellere Tempi in der Musik" zu den inflationär verbreiteten kulturgeschichtlichen Analogien, die sich vor allem durch Beliebigkeit auszeichnen. Allerdings würde ich (komplexe, nicht eindimensionale) Zusammenhänge zwischen der musikalischen Tempofrage und den (von der mentalitätsgeschichtlichen Forschung dokumentierten) Veränderungen des "Zeitgefühls" im Gefolge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nicht ausschließen.


    Ich dilettiere und spintisiere mal vor mich hin ;) :


    Möglicherweise gibt es in der Musik teilweise (!) gegenläufige Entwicklungen zu den Beschleunigungstendenzen der Industrialisierung: Während bei Haydn, Mozart, Beethoven schnelle Tempi eindeutig dominieren, gibt es schon bei Schubert eine deutliche Tendenz zur Verlangsamung, teilweise bis hin zum Stillstand (D 894 und 960, Anfang des G-dur-Streichquartetts). Das setzt sich etwa bei Bruckner fort, der ja auch stark dazu tendiert, den "schnellen" ersten Satz abzuschaffen. Ein Werk wie Wagners "Parsifal", das im ersten und dritten Akt extrem von langsamen Tempi dominiert wird, wäre in dieser Hinsicht 50 Jahre früher nicht denkbar gewesen und versteht sich ja auch explizit als kunstreligiöser Gegenpol zur beschleunigten Moderne ("Zum Raum wird hier die Zeit"). Dagegen sind Phänomene wie das Virtuosentum Paganinis oder Liszts vielleicht eher von Fortschrittstendenzen im Sinne eines "höher, schneller, weiter" geprägt.


    Davon nochmal zu unterscheiden sind unterschiedliche Tempovorstellungen bei der Aufführung von Musik: parallel lässt sich auch hier - z.B. bei den Beethoven-Sinfonien - im 19. Jahrhundert durchaus eine Wendung zu langsameren Tempi feststellen, die nicht allein auf die Konstellation Mendelssohn vs. Wagner reduziert werden kann. Was sich in den letzten Jahrzehnten beobachten lässt, könnte man evtl. eine Betonung der Extreme nennen (aber bitte nicht "Verlust der Mitte"): auf der einen Seite die unleugbaren Beschleunigungen nicht nur bei HIP-Praktikern (wobei diese ja durchaus im Namen philologischer Korrektheit handeln), auf der anderen Seite im Fall der ohnehin "langsameren" Musik der zweiten Hälfte des 19. Jh. immer langsamere Tempi bei Dirigenten, die dann dafür gelegentlich kultisch verehrt werden (Celibidache, z.T. auch der späte Bernstein).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Möglicherweise gibt es in der Musik teilweise (!) gegenläufige Entwicklungen zu den Beschleunigungstendenzen der Industrialisierung: Während bei Haydn, Mozart, Beethoven schnelle Tempi eindeutig dominieren, gibt es schon bei Schubert eine deutliche Tendenz zur Verlangsamung, teilweise bis hin zum Stillstand (D 894 und 960, Anfang des G-dur-Streichquartetts). Das setzt sich etwa bei Bruckner fort, der ja auch stark dazu tendiert, den "schnellen" ersten Satz abzuschaffen. Ein Werk wie Wagners "Parsifal", das im ersten und dritten Akt extrem von langsamen Tempi dominiert wird, wäre in dieser Hinsicht 50 Jahre früher nicht denkbar gewesen und versteht sich ja auch explizit als kunstreligiöser Gegenpol zur beschleunigten Moderne ("Zum Raum wird hier die Zeit"). Dagegen sind Phänomene wie das Virtuosentum Paganinis oder Liszts vielleicht eher von Fortschrittstendenzen im Sinne eines "höher, schneller, weiter" geprägt.


    Ich nehme mal an, dass durch zunehmendes Komplexitätsbedürfnis wegen permanentem Bezug auf das große Vorbild Beethoven das langsamere Tempo eventuell vorgezogen wurde. Im 20. Jh. ist damit ohnehin Schluss. In den 20ern etwa, wo man sich gar nicht traditionsgebunden fühlte, sind die sportlichen Sätze wieder groß in Mode - so wie damals, als die Klassik noch frisch war.

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ich nehme mal an, dass durch zunehmendes Komplexitätsbedürfnis wegen permanentem Bezug auf das große Vorbild Beethoven das langsamere Tempo eventuell vorgezogen wurde.


    Zumindest bei Schubert, auch bei Bruckner, sehe ich (manchmal) eher den Versuch, sich diesem Komplexitätsbedürfnis auf sehr kunstvolle Weise zu entziehen. In diesem Sinne hat doch mal irgendjemand - war's nicht W. Rihm? - das "Aussingen" bei Schubert und Bruckner gegen das "Arbeiten" bei Beethoven ausgespielt. Die Tendenz, sich dem Komplexitätsbedürfnis zu stellen, sehe ich eher bei Brahms, bei dem sich das aber kaum in der Tempofrage niederschlägt.



    Zitat

    Im 20. Jh. ist damit ohnehin Schluss. In den 20ern etwa, wo man sich gar nicht traditionsgebunden fühlte, sind die sportlichen Sätze wieder groß in Mode - so wie damals, als die Klassik noch frisch war.


    Klar. Allerdings gibt es doch gerade später im 20. Jahrhundert immer wieder den Versuch, die Zeit "stillzustellen" - Stichwort "Klangflächenmusik". Oder?


    Viele Grüße


    Bernd

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