Maurizio Pollini - Grenzgänger zwischen Romantik und Moderne

  • Du hast da Scriabin und Prokofjew verwechselt.

    Ja! ^^ Schon korrigiert! Ein für mich typischer Müdigkeitsfehler - wohl assoziativ ausgelöst durch die Scriabin-Reminiszenz im 2. Satz der 7. Prokofieff. :D


    Die in meinem Nachruf direkt besprochenen bzw. erwähnten Aufnahmen (ohne Verweise auf frühere Besprechungen):





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  • Es gibt Aufnahmen, die ich immer nehme, wenn in der Sammlung so gar nichts gefunden wird.


    Für die Seele, zur Aufheiterung, als Genusshäppchen:


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    Meine Referenz in Sachen Einstieg bei Mozart.

  • Mit der schönsten Punktierung aller Zeiten! Ich könnte ihn küssen für den Beginn dieses Themas.

    Eine Kleinigkeit. Ein Nichts. Wenige Noten. Und doch spielte sich mit das beim ersten Hören direkt ins Herz.


    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Ein Fest war jede Aufnahme. Sehnsüchtig erwartet. Immer wieder beim Stöbern im Frankfurter "Phonohaus" gefunden, mit den üblichen Abständen. Wenn "der Vertreter wieder da war". Unfassbar, wie das damals organisiert war.


    Während ich das schreibe, wühlt sich Pollini durchs Finale der Symphonischen Etüden - was habe ich das verschlungen, gehört bis zum Abwinken. Noch heute nimmt mich das mit und lenkt mehr und mehr von allem ab, was ich sonst tue. Bähm!, der plötzliche lichte Wechsel von Des-Dur nach B-Dur in Takt 188 - das hat mich beim ersten Hören voll geflasht. Noten habe ich gekauft, von Henle, und die habe ich heute noch. Und was habe ich das geübt. Und wie bin ich daran gescheitert! Am Finale geradezu brillant gescheitert... ;-) Mit viel mehr Spaß als Frust, glücklicherweise. Ein guter Grund, endlich wieder ein Klavier haben dürfen müssen zu wollen. Wenn wir denn den Platz dafür hätten.


    Schreibpause - hören, Noten holen - ich kann es nicht gleichzeitig...


    Neben den Aufnahmen bleiben die Erinnerungen an viele Konzerte in der Alten Oper und zwei merkwürdige persönliche Gespräche, eines nach einer Generalprobe im Großen Saal, das war unerwartet und ganz besonders, und ein andermal eines in den Gängen dahinter, bei seiner Garderobe, wo ich ihm rauchend begegnete. Was hatte der Mann riesige Hände! Meine Hand verschwand in seiner. Und ich habe keine kleinen Finger.


    Ich hatte mir mit der Zeit einen guten Kontakt zur DGG erarbeitet und besaß für mich damals wertvolle Insiderinformationen - im Netz könnte man sowas heute blitzschnell verteilen, damals genoss ich dieses stille Privileg. Jedenfalls wusste ich irgendwann vor dem Phonohaus, was wann veröffentlicht werden würde. Und ich sprach dort, wenn überhaupt, nur mit der netten Französin über solche Dinge, denn sie war es, die ich immer wieder auch im Konzert in der AO traf, auch bei Pollini.


    Ach Gott, wie traurig, dass er nun nicht mehr da ist. Erwartbar, zwar, irgendwann, doch da ich über seinen Gesundheits- oder Krankheitszustand nicht im Bilde war, kam das jetzt wirklich wie aus dem Nichts.

    Nun kann mit den Geistern über den Wassern spielen...

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Ach Gott, wie traurig, dass er nun nicht mehr da ist. Erwartbar, zwar, irgendwann, doch da ich über seinen Gesundheits- oder Krankheitszustand nicht im Bilde war, kam das jetzt wirklich wie aus dem Nichts.

    Nun kann mit den Geistern über den Wassern spielen...

    Ich feiere diesen Beitrag und Maurizio Pollini! :);(:cheers:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Hier gibt es eine kleinen biografischen Beitrag, in dem Pollini selbst spricht. Wer sollte es besser wissen? :)



    Er spricht zwar italienisch, aber die englischen Untertitel helfen ....

  • Du hast da Scriabin und Prokofjew verwechselt.

    Lieber Holger,


    danke sehr für den Nachruf Pollinis. Die Premierenplatte mit Schubert kombinierte mit der Wanderer-Fantasie die Sonate a-moll (nicht A-Dur) D 845.


    LG Siamak

  • jpc hat (noch?) keinen Hinweis zum Tode Pollinis auf der Website. Das wundert mich.

    Nun ja, mit Byron Janis ist einige Tage vor Pollini ein ebenfalls großartiger Pianist verstorben, was zumindest hier im Forum sehr viel weniger Echo verursachte (in den Vereinigten Staaten sieht das naturgemäß etwas anders aus). Und gestern starb Péter Eötvös. Soll jpc jetzt wegen jedes Todesfalls seine Website anpassen?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Nun ja, mit Byron Janis ist einige Tage vor Pollini ein ebenfalls großartiger Pianist verstorben, was zumindest hier im Forum sehr viel weniger Echo verursachte (in den Vereinigten Staaten sieht das naturgemäß etwas anders aus). Und gestern starb Péter Eötvös. Soll jpc jetzt wegen jedes Todesfalls seine Website anpassen?

    Siehe hier:

    https://www.jpc.de/jpcng/classic/home

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Soll jpc jetzt wegen jedes Todesfalls seine Website anpassen?

    Ja. Soll. Natürlich. Was denn sonst? Ignorieren?

    Die olle Website braucht ohnehin dringend eine Frischzellenkur - da könnte man flexiblen Platz für solche Info schaffen.


    Und vielleicht hat sowas auch einen todernsten Marketingaspekt. Die Würdigung solcher Künstler als Anziehungspunkt für deren Repertoire auf der Website... Wenn ich auf den schmalen Eintrag zu Pollini klicke, lande ich bei seinen CDs.

    Das würde ich mit Janis und Eötvös genauso handhaben.

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

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  • danke sehr für den Nachruf Pollinis. Die Premierenplatte mit Schubert kombinierte mit der Wanderer-Fantasie die Sonate a-moll (nicht A-Dur) D 845.

    Lieber Siamak,


    natürlich! ^^ Noch so ein dummer Fehler! Habe ihn Dank Deines Hinweises schon korrigiert! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Maurizio Pollini ist regelmäßig im Münchner Herkulssaal aufgetreten und er hat dort viele seiner Aufnahmen eingespielt. Der klassizistische Saal gehört zum schönsten Ensemble der Stadt, der sogenannten Residenz. Sie befindet sich sich am Ende der Leopoldstraße, links von der Feldherrnhalle, die der Loggia dei Lanzi in Florenz nachgebaut wurde. Zum weitläufigen Ensemble gehören das Residenztheater, die Staatsoper, das Antiquarium - der größte Reniassance-Saal nördlich der Alpen -, Museen, Schatzkammern und wunderbare, aber in der Regel leider unzugängliche Innenhöfe. Und es gehört dazu auch der Hofgarten, über den man durch ein Tunnel direkt in den Englischen Garten gelangt. Der Hofgarten mit seinen Arkaden ist für mich ein besonderer Ort, eine Oase der Ruhe inmitten der Stadt. Und an der Südseite des Hofgartens befindet sich der Eingang zum Herkulessaal, in dem Pollini in der Regel einmal im Jahr gespielt hat.


    Ich kann mir gut vorstellen, dass Maurizio Pollini neben der Akustik die klassizistische Architektur dieses Ensembles geschätzt hat.


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  • Jan Brachmann hat in seinem gestern (25. 3. ) im Feuilleton der FAZ erschienenen Artikel "Zum Tod des Jahrhundertpianisten Maurizio Pollini" dessen Klavierspiel beim Chopin-Wettbewerb in Warschau 1960 mit den Worten charakterisiert:

    "Seine sagenhafte Technik, die scharfgeschnitttene Artikulation, unbeirrbare Phrasierung, lebhaft, doch weitgehend im Verzicht auf Temposchwankungen - das berühmte Rubato - und die perfekt ausbalancierte Statik der Mehrstimmigkeit verblüfften die Welt. "

    Und er fügte hinzu, sein Wesen als Pianist allgemein charakterisierend:

    "Pollini spielte die Formwerdung des persönlichen Erlebens gleichsam immer mit und darin die Verallgemeinerung des Subjektiven durch Kunst". Und er schloss mit den Worten: "Mit ihm verliert die Welt einen überragenden Pianisten, der bewies, dass die klassischen großen Formen für den Menschen bewohnbar sind und deren Schönheit das Subjekt adelt."


    Ich habe mir den Mitschnitt seines Chopin-Spiels in Warschau eben mal angehört. Er erschien 1965 als LP bei Heliodor, basierend auf einer "Aufnahme Polskie Nagrania, Warschau", und er enthält auch noch Chopin-Interpretationen von Michael Block, ebenfalls Teilnehmer dieses Wettbewerbs. Ich fand die Platte nach mühseliger Suche unter meinem sehr großen - natürlich völlig ungeordneten - Bestand an alten LPs, warf meinen Thorens TD 125, Mk II mit SME-V-Tonarm an, - und war hingerissen. Jan Brachmann hat die spezifische Eigenart von Pollinis Chopin-Interpretation präzise getroffen.

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  • Jan Brachmann hat in seinem gestern (25. 3. ) im Feuilleton der FAZ erschienenen Artikel "Zum Tod des Jahrhundertpianisten Maurizio Pollini" dessen Klavierspiel beim Chopin-Wettbewerb in Warschau 1960 mit den Worten charakterisiert:

    "Seine sagenhafte Technik, die scharfgeschnitttene Artikulation, unbeirrbare Phrasierung, lebhaft, doch weitgehend im Verzicht auf Temposchwankungen - das berühmte Rubato - und die perfekt ausbalancierte Statik der Mehrstimmigkeit verblüfften die Welt. "

    Ich weiß nicht, ob Pollini 1960 tatsächlich weitgehend ohne "das berühmte Rubato" gespielt hat, aber berühmt wurde er jedenfalls unter anderem für sein Rubato. In einem Interview hat er auf die Bemerkung, er spiele mit viel Rubato, mal mit der Antwort gekontert, es käme ja wohl mehr auf die Qualität als die Quantität des Rubatos an.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich habe mir den Mitschnitt seines Chopin-Spiels in Warschau eben mal angehört. Er erschien 1965 als LP bei Heliodor, basierend auf einer "Aufnahme Polskie Nagrania, Warschau", und er enthält auch noch Chopin-Interpretationen von Michael Block, ebenfalls Teilnehmer dieses Wettbewerbs. Ich fand die Platte nach mühseliger Suche unter meinem sehr großen - natürlich völlig ungeordneten - Bestand an alten LPs, warf meinen Thorens TD 125, Mk II mit SME-V-Tonarm an, - und war hingerissen. Jan Brachmann hat die spezifische Eigenart von Pollinis Chopin-Interpretation präzise getroffen.

    Toll, dass Du solche Schätze hast, lieber Helmut. :) Es gibt diese Mitschnitte auch auf CD - beim Werbepartner für 9,99 Euro zu haben:



    Die Charakterisierung von Jan Brachmann finde ich auch sehr treffend! Den FAZ-Nachruf hatte ihn gleich nach Erscheinen schon am Samstag gelesen:


    Zum Tod des Pianisten und Dirigenten Maurizio Pollini (faz.net)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Es ist tatsächlich in diesem Mitschnitt von 1960 kein ausgeprägtes Rubato zu vernehmen.

    Nach meinem Empfinden spielt er hier (zum Glück) durchaus mit ausgeprägtem Rubato:


    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Nach meinem Empfinden spielt er hier (zum Glück) durchaus mit ausgeprägtem Rubato:

    Jan Brachmann sprach, in Kenntnis dieser Aufnahmen, von einem "weitgehenden Verzicht auf Temposchwankungen". Und so höre ich das auch. Das Tempo wird, bis auch das Ende der jeweiligen musikalischen Phrase, bemerkenswert konstant eingehalten.

    Das könnte ich jetzt auf der Grundlage des Notentextes im einzelnen nachweisen. Aber ein diesbezüglicher Diskurs mit einem hier im Forum als ausgewiesener Fachmann auftretenden Mitglied kommt für einen Laien wie mich nicht infrage.

    Tut mir leid!

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  • Jan Brachmann sprach, in Kenntnis dieser Aufnahmen, von einem "weitgehenden Verzicht auf Temposchwankungen". Und so höre ich das auch. Das Tempo wird, bis auch das Ende der jeweiligen musikalischen Phrase, bemerkenswert konstant eingehalten.

    Da dürfte das Missverständnis liegen: Anders als Jan Brachmann schreibt, ist Temposchwankung nicht dasselbe wie Rubato. Rubato hat z.B. Pier Francesco Tosi im 18. Jahrhundert als "rubamento di tempo sul movimento equale d’un Basso" beschrieben, und Mozart beschwerte sich 1777 in einem Brief an seinen Vater über die Jugend:

    "Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß, könen sie gar nicht begreifen. beÿ ihnen giebt die lincke hand nach."

    Auch von Chopin gibt es Aussagen bzw. Beschreibungen seines Spiels, die das Rubato als Zeitgestaltung über einem gegebenen Puls darstellen, also gerade nicht als "Temposchwankung". Die Behauptung, Pollini spiele Chopin "weitgehend" ohne "das berühmte Rubato", ist falsch. Wodurch sein Rubato charakterisiert ist, und worin es sich z.B. von dem Rubinsteins unterscheidet, müsste man genauer analysieren. Ich finde, dass beide in dieser Hinsicht gar nicht so extrem auseinander liegen.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Jan Brachmann sprach, in Kenntnis dieser Aufnahmen, von einem "weitgehenden Verzicht auf Temposchwankungen". Und so höre ich das auch. Das Tempo wird, bis auch das Ende der jeweiligen musikalischen Phrase, bemerkenswert konstant eingehalten.

    Die Bemerkung mit dem "weitgehenden Verzicht auf Temposchwankungen" ist in der Tat entscheidend! Ich habe mir gestern Abend die Aufnahmen (nicht alle natürlich) angehört. Mit welcher Reife, welchem gestalterischen Vermögen und welchem Tiefgang er die Trauermarschsonate spielt - einfach unglaublich für einen 18jährigen! :hail: Dazu habe ich mir zwei Mazurken angehört, zwei Etüden und dann das Nocturne op. 48 Nr. 1 mit den Oktaven. Pollini spielt schon Rubato! Die Frage ist, warum man es denn so wahrnimmt, dass er kaum oder sogar kein Rubato spielt. Das liegt meiner Ansicht an seiner integralen Sicht und der Wahl eines einheitlichen Grundtempos, was in der Zeit (1960) sich auch durchgesetzt hat. Pierre Boulez fordert das in seinen Schriften, was ja nicht selbstverständlich ist, wenn man an Richard Wagner denkt, der gerade "Modifikationen des Tempos" wollte (ausgeführt in seiner Schrift über das Dirigieren). Die aus dem 19. Jhd. herkommende Pianistengeneration hat eher die individuelle Gestaltung der Einzelphrase betont. Sie hat dabei vielleicht nicht mehr oder weniger Rubato gespielt als Pollini (oder Rubinstein), aber das fällt dann einfach auf als Rubato, weil das einheitliche Grundtempo als Orientierung fehlt. Dann hat jede musikalische Sinneinheit ihre eigene musikalische Zeit und das Rubato wird zur individualisierenden Komponente.


    Pollini folgt in etwa Heinrich Neuhaus, dem Lehrer von Svjatoslav Richter und Emil Gilels, der sagte: Damit das Rubato nicht zum Diebstahl von Zeit wird, muss man die Zeit, die sich das Rubato nur geliehen hat, auch wieder zurückgeben. Dann wird die dominierende Wahrnehmung aber das einheitlich durchgehende Zeitmaß und nicht die Rubato-Temposchwankung und das erklärt, warum Pollini einerseits Rubato spielen kann und man andererseits in der Wahrnehmung aber den Eindruck hat, dass er gar kein oder kaum Rubato spielt. ^^ Pollinis Rubato unterstreicht zudem die Gliederung und den Aufbau des Stücks und wirkt deshalb nicht als eine subjektive Freiheit, die sich der Interpret nimmt. Interessant das Nocturne op. 48 Nr. 1. Da spielt Pollini sehr deutlich ein einheitliches Tempo, was ja auch zum Marschcharakter passt. 1960 ist er aber viel "klassischer" als in seiner späten Studioaufnahme. Die ist bezeichnend auch eine ganze Minute schneller! Der späte Pollini betont den "barocken" durchgehenden Bewegungszug mit seiner dynamischen Dramaturgie und klangfarblichen Abschattung, der frühe die architektonische Gliederung. Auch seine meisterhafte Studioaufnahme der Barcarolle (mit gekonnten Rubato!), ist da der alte Pollini, der klassisch in Phrasen und einem Aufbau von Phrasen denkt. Also nicht beirren lassen - was man hört, hört man. Die Frage ist nur, wie sich das erklärt. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Pollini spielt schon Rubato! Die Frage ist, warum man es denn so wahrnimmt, dass er kaum oder sogar kein Rubato spielt.

    Wer ist "man"? Ich nehme es z.B. beim Impromptu vom zweiten Ton an wahr. Es ist ja nun mal auch unbestreitbar da, warum sollte man es also nicht wahrnehmen können? Meines Erachtens ist die Sache viel einfacher: Jan Brachmann hat Tempoänderungen mit Rubato verwechselt bzw. gleichgesetzt. Pollini spielt bei (weitgehend) einheitlichem Tempo mit viel (Impromptu), etwas (Nocturne) oder kaum (Etüde) Rubato. Wie alles an seinem strukturell extrem transparenten Klavierspiel ist auch das ganz klar wahrnehmbar.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Tempowechsel macht Pollini durchaus 1960 auch - deutlich hörbar bei den Mazurken. Wie man etwas wahrnimmt und dann bewertet, hängt auch vom Vergleich ab. Bekanntlich ist im Vergleich mit wärmer warm kalt und mit kälter kalt warm. Wie war die Spieltradition? Im Vergleich damit fällt Pollinis Modernität auf. Seine Spielart wurde und wird immer noch als Novum empfunden. Pollini spielt Rubato durchaus - aber ohne dass dies zu einem Charakteristikum wird. Früher hat man von einem Pianisten einen individuellen Vortragsstil erwartet und entsprechend ein sehr individuelles Rubato als Erkennungsmerkmal künstlerischer Individualität. Pollinis "neusachlicher" Stil ist, dass das Rubato kein Erkennungsmerkmal von Subjektivität und Individualität mehr ist und sein will sondern im Dienst der objektiven Darstellung des musikalischen Sinnes steht.

  • Früher hat man von einem Pianisten einen individuellen Vortragsstil erwartet und entsprechend ein sehr individuelles Rubato als Erkennungsmerkmal interpretatorischer Individualität. Pollinis "neusachlicher" Stil ist, dass das Rubato kein Erkennungsmerkmal von Subjektivität und Individualität mehr ist und sein will sondern im Dienst der objektiven Darstellung des musikalischen Sinnes steht.

    Die Frage ist, wann war "früher"? Fünf Jahre vor Pollini hat Adam Harasiewicz in Warschau den ersten Preis gewonnen, Vladimir Ashkenazy den zweiten. Beiden kann man meines Erachtens nicht vorwerfen, ihr Rubato wäre bloß subjektiv statt "im Dienst der objektiven Darstellung des musikalischen Sinnes". Das mag vielleicht für manche Pianisten gelten, die ihre Wurzeln noch im 19. Jahrhundert hatten, z.B. Alfred Cortot, auch wenn die das sicher bestritten hätten (womit sich wieder einmal die Frage stellt, ob die alten Ausdrucksmittel in Wahrheit nicht genauso "modern" waren und sich einfach nur an ein anderes Publikum gewandt haben). Aber schon bei Rubinstein (geb. 1887), der über Jahrzehnte und bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als "der" Chopin-Spieler schlechthin galt, ist das Rubato doch bei aller Freiheit immer auch strukturell gebunden, vor allem durch die Kraft des Rhyhthmus'. Ich kann da keinen prinzipiellen Unterschied zu Pollini hören und bezweifle deshalb, dass er in dieser Hinsicht ein Neuerer war. Ich finde auch, dass die übliche Beschreibung als "neusachlich", "strukturalistisch", "analytisch", "mit eiserner Formlogik" usw. seinem Spiel nur teilweise entspricht: Vor allem im Konzert, aber selbst in vielen seiner (vor allem späteren) Aufnahmen hatte er daneben doch immer auch ein spontanes, ungeplantes, manchmal soger experimentelles Moment in seinem Spiel. Dieses "Mal sehn, was daraus wird" gehörte für mich genauso zu ihm wie seine überlegene architektonische Planung. Er selbst hat ja in dem Monsaingeon-Film auch gesagt, dass die Spannung, wie der Flügel reagiert, der wichtigste Grund sei, dass er immer noch gern Pianist sei. Ich glaube nicht, dass das allein auf den Klang bezogen war.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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  • Man kann natürlich immer alles zerreden. Hier ging es darum zu verstehen, was Jan Brachmann gemeint hat und das nachvollziehbar zu machen. Und das kann man mit Helmut Hofmanns und meinen Ausführungen. Keiner hat behauptet oder behaupten wollen, dass Ashkenazy oder Harasiewicz einfach altmodische Chopin-Interpreten sind.

  • Hier ging es darum zu verstehen, was Jan Brachmann gemeint hat und das nachvollziehbar zu machen. Und das kann man mit Helmut Hofmanns und meinen Ausführungen.

    Ob "man" das kann, weiß ich nicht, ich kann es jedenfalls nicht. Brachmann schreibt, Pollini hätte 1960 "weitgehend" ohne Rubato gespielt, was wie gesagt nicht stimmt. Du bestätigst das einerseits, indem Du schreibst, er habe sehr wohl mit Rubato gespielt, behauptest aber andererseits, "man" würde das nicht als solches wahrnehmen. Das ist genauso falsch, denn ich nehme es wahr. Soweit die Fakten, das Zerreden überlasse ich Dir :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Klar, Faktum ist nur, was für Dich richtig ist. Leider kennst Du nur Schwarz-Weiß und verweigerst dich differenzierterem Denken. Wer eine Ahnung davon bekommen will, dass sich bei Pollini eine andere Chopin-Welt auftut, der kann sich Sergei Rachmaninows sehr bekannte und einflussreiche Interpretation der Sonate op. 35 anhören. Da ist der Unterschied zu Pollini, gerade was das Rubato-Spiel angeht, geradezu handgreiflich.


    Und damit beende ich die Diskussion über das Thema.


    Rachmaninoff plays Chopin Sonata in B-flat minor, op. 35 (youtube.com)

  • Als Mitleser schwanke ich manchmal zwischen schweigen (raushalten) und kommentieren. Nun also ein Kommentar:


    Ein interessanter Schritt wäre in meinen Leseraugen tatsächlich, Formulierungen von "man" zu "ich" zu ändern.

    Ich glaube, das klärt manches und macht es nicht immer so vermeintlich allgemeingültig. Sowohl bei "man" = "ich", wie auch bei "man" = "du"/ "andere" (hier).


    Man könnte es ja mal ausprobieren.

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Ein interessanter Schritt wäre in meinen Leseraugen tatsächlich, Formulierungen von "man" zu "ich" zu ändern.

    "Man" ist Ausdruck einer Verallgemeinerung und Verallgemeinerbarkeit. Und die lässt sich eben nicht einfach mit "ich" ersetzen - wenn eben genau diese Verallgemeinerbarkeit über die individuelle Privatmeinung hinaus beansprucht wird. Aber ich diskutiere hier nicht weiter. Ein Diskurs, dessen primärer Sinn das Abstreiten der Meinung des Anderen und das Rechthaben um des Rechthabenwollens ist, macht keinen Sinn. Er bringt nämlich schlicht keinen Erkenntnisgewinn. Ich höre bei Pollini auch ein Rubato, habe aber deshalb nicht einfach die Wahrnehmung von Brachmann und Helmut Hofmann abgestritten, sondern mich bemüht, sie zu verstehen und eine Erklärung angeboten, wonach sich beide scheinbar gegensätzlichen Eindrucke und verschiedenen Wahrnehmungen durchaus vereinbaren lassen und eben nicht ausschließen müssen. Ein solches diskursives Verfahren halte ich für sinnvoller, als einer bestimmten Wahrnehmung einfach ihr Recht abzusprechen.

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