Ausgehend von einer Box mit dem Prager Streichquartett, das in den 70er Jahren eine Gesamtaufnahme vornahm, liegen folgende Werke von Antonín Dvorák für Streichquartett vor (B. bezieht sich auf das Werkverzeichnis von Jarmil Burghauser):
Streichquartett Nr. 1 A-Dur op. 2 B. 8 (März 1862, 48 ½ Minuten)
Streichquartett Nr. 2 B-Dur B. 17 (um 1869/70, 49 ½ Minuten)
Streichquartett Nr. 3 D-Dur B. 18 (um 1869/70, fast 70 Minuten)
Streichquartett Nr. 4 e-Moll B. 19 (um Dezember 1870, fast 36 Minuten)
Streichquartett Nr. 5 f-Moll op. 9 B. 37 (September/Oktober 1873, 33 ½ Minuten)
Quartettsatz a-Moll (um 1873, 6 ½ Minuten)
Streichquartett Nr. 6 a-Moll op. 12 B. 40 (November/Dezember 1873, fast 32 Minuten)
Streichquartett Nr. 7 a-Moll op. 16 B. 45 (September 1874, 29 ½ Minuten)
Streichquartett Nr. 8 E-Dur op. 80 B. 57 (Jänner/Februar 1876, knapp über 27 Minuten)
Streichquartett Nr. 9 d-Moll op. 34 B. 75 (Dezember 1877, 34 ½ Minuten)
Streichquartett Nr. 10 Es-Dur op. 51 B. 92 (Dezember 1878-März 1879, 31 ½ Minuten)
Zwei Walzer op. 54 B. 105 (um Februar 1880, 7 Minuten)
Streichquartett in F-Dur B. 120 (Fragment) (Oktober 1881, 9 Minuten)
Streichquartett Nr. 11 C-Dur op. 61 B. 121 (Oktober/November 1881, 39 Minuten)
Zypressen B. 152 (April/Mai 1887, 39 Minuten)
Streichquartett Nr. 12 F-Dur op. 96 B. 179 “Amerikanisches Quartett” (Juni 1893, 24 ½ Minuten)
Tamino Klassikforum Link:
Dvorak, Antonin: Streichquartett Nr 12 op 96 "Amerikanisches"
Streichquartett Nr. 13 G-Dur op. 106 B. 192 (November/Dezember 1895, knapp über 37 Minuten)
Streichquartett Nr. 14 As-Dur op. 105 B. 193 (März-Dezember 1895, fast 32 Minuten)
Tamino Klassikforum Link:
Dvorak: Die zwei letzten Streichquartette op.105 und op.106
Ich versteige mich gerne schwärmerisch zur Formulierung, nach dem Durchhören dieser neun CDs (DGG Collectors Edition Box 463 165-2), eingespielt zwischen Dezember 1973 und April 1977 in Prag (Narodní dom Žižkov), sowohl kompositorisch als auch aufnahmegeschichtlich sicher etwas ganz Großes, in der Musikgeschichte Einmaliges gehört zu haben. Es widerstrebt mir, allzu viel ins Detail zu gehen, da sich die Größe der gehörten Musik für mein Empfinden einer verbalen Analyse vielfach ob ihrer Genialität, die für sich selbst spricht, verschließt. Ich lausche ihr staunend und immens bereichert und es gelingt mir dabei öfter als bei anderer Musik, das Denken zu vergessen und mich ganz der Musik an sich hinzugeben.
Es ist zuallererst das kompositorische Talent, die Erfindungsgabe dieses Antonín Dvorák, die für diese Musik einnimmt. Sicher, er baut auf die klassische Viersätzigkeit auf, meist ein schneller erster Satz, manchmal mit langsamer Einleitung, die Binnensätze einer langsam, einer Scherzo, und dann das rasche Finale. Doch nichts ist Konvention. Schon die Entwicklung fasziniert, wie Dvorák bis zum achten Quartett hin aus einer unerschöpflichen Fülle an Ideen und kompositorischer Kompositionskunst heraus seinen Weg sucht und findet, um ihn mit einfach nur grandiosen Meisterwerken zu krönen.
Im zweiten Satz des ersten Quartetts (Adagio affetuoso ed appassionato) sowie in dessen Trio des dritten Satzes mag man das Vorbild Schuberts durchhören, im ganzen zweiten Quartett die ungemeine Leidenschaft der Musik bewundern, das fließende Element des dritten Quartetts macht die 70 Minuten Spieldauer keineswegs langatmig, das dreisätzige vierte Quartett, in dem die Sätze direkt ineinander übergehen, wirkt auf mich wie ein großes dramatisches Gedicht, im fünften Quartett kristallisiert sich dann doch dieser eigenständige, kontrastive, inspirierte, vielfach tschechisch-wehmütige Stil heraus, im sechsten hebe ich jetzt einmal den dritten Satz hervor, ein großartig expressives Poco adagio (der Quartettsatz a-Moll gehörte ursprünglich auch zu diesem Werk), und im siebenten Quartett fällt der „flügelschlagende Bauerntanz“ des dritten Satzes auf - Momentaufnahmen zwischen all dem elegischen, dramatischen, innigen, fließenden Geschehen, ein Satz inspirierter als der andere.
In den sieben Meisterwerken ab dem achten Streichquartett ist der Personalstil vollkommen ausgeprägt – was für Stimmengeflechte, was für Rhythmen, und dann natürlich das slawische Element! Nach dem achten Quartett (was für ein zweiter Satz, ein Andante con moto!) staune ich, dass mit dem neunten, Johannes Brahms gewidmet, noch eine Steigerung möglich ist – mit der sanftem Wehmut im Geschehen und mit dem wunderbar beseelt fließenden dritten Satz (Adagio). Und dann das zehnte Quartett, mit dem Dumka (Elegia)-Satz an zweiter Stelle (mit Vivace-Mittelteil) – eines schöner als das andere! Ich habe beim Anhören zu einzelnen Sätzen Notizen gemacht, aber ich finde es spannender, all diese genialen Sätze jedes Mal neu zu hören, als sich am Geschriebenen wie an einer Gedächtnisstütze festzuhalten. Die Verinnerlichung der beseelten, leidenschaftlichen Musik des elften Quartetts, die so wunderbar weiter gesanglich umgearbeiteten „Zypressen“-Lieder (ein ursprünglich 1865 komponierter Zyklus, jetzt zwölf großteils lyrische „Lieder für Streichquartett“), das so ungemein positiv gestimmte, mit seiner Pentatonik „amerikanisch“ anmutende zwölfte Quartett (Dvoráks kürzestes Werk für diese Gattung), und dann das für mich allergrößte Streichquartett Dvoráks, das dreizehnte – eine Bejahung des Seins schlechthin, in höchster kompositorischer Reife, inspiriert und kunstvoll, allein dieser große Adagiosatz an zweiter Stelle, traumhaft schöne Musik! Dvoráks letztes Streichquartett ist dann reif wie das vorige, das zupackend-musikantische Finale schließt eine Werkreihe ab, die für den Rest meines Lebens sicher zu den schönsten Hörerfahrungen für mich zählen wird.
Das Prager Streichquartett ist hörbar ganz zu Hause in dieser Musik. Da fließt Herzblut, da wird mit Leidenschaft, mit innerster Anteilnahme musiziert, auf allerhöchstem Niveau. Es schreibt sich ja so leicht und salopp, aber bedenkt man die Verantwortung dem Werk und der Hörerschaft gegenüber, sind für mich Projekte wie so eine Gesamtaufnahme wahre Großtaten der Menschheit.
Die Aufnahme des Prager Streichquartetts bietet als wertvolle Ergänzungen neben den 14 Streichquartetten und den „Zypressen“ auch den Quartettsatz a-Moll, ein Fragment in F-Dur und zwei herrlich slawische Walzer an.
Das „Amerikanische Quartett“ (aufgenommen im Februar 1986 im Großen Saal des Mozarteums in Salzburg) und die Nummern 1, 2, 5, 9 und 11 aus den „Zypressen“ (aufgenommen im Zentralsaal von Bamberg im Juni 1986) finden sich auch auf einer CD, die das Hagen Quartett (damals noch mit Annette Bik, 2. Violine) 1987 veröffentlicht hat (DGG 419 601-2). Der Unterschied zum Prager Streichquartett streicht die Qualität des Hagen Quartetts brillant heraus, offenbart aber auch, dass man als Hörer dieses Quartetts einmal mehr bereit sein sollte, eine gewisse „sensationell ausbalancierte Überlegenheit“ der Musik gegenüber zu akzeptieren, die schärfere Akzentuierungen bietet, vielfach strenger, unerbittlicher erscheint, aber auch Dimensionen offenbart, die man beim Prager Streichquartett, das so wunderbar „ganz drin“ ist in der Musik, nicht so hört. Da wird das fünfte „Zypressen“ Lied „Im Buch verwahrt, der alte Brief“ fast zu einer Opernarie, und da schafft die differenzierte Feingliedrigkeit im zweiten Satz des op. 96 eine irisierend spannende Gefährlichkeit. Das ist auch wieder einmalig und beweist einmal mehr, dass es keine einzige Wahrheit der Musik gibt, sondern nur viele Möglichkeiten, die man für sich als durchaus gültig akzeptieren kann, so verschieden sie sich auch anhören.
Vielleicht gibt es völlig andere, divergierende Hörerfahrungen, ich finde auf jeden Fall, der Kosmos der Streichquartette dieses großen Komponisten sollte in seiner Gesamtheit einen Platz in diesem Forum haben.
Herzlicher Gruß
Alexander