Vorbemerkung: da das Musikstück, dem dieser Thread gilt, mit nur ungefähr sechs Minuten sehr kurz ist, möchte ich mich anschließend auch seinem Pendant, dem ähnlich kurzen CENTRAL PARK IN THE DARK widmen. Das soll aber nicht bedeuten, dass sich nicht andere, die sich schon vorher dazu äußern möchten, weil es ein Schlaglicht auf diese Komposition wirft, dies nicht tun können. Auch andere kürzere Konzertstücke von Charles Ives, die kaum in einem eigenen Thread berücksichtigt werden, können und sollten im weiteren Verlauf des Threads hier gerne ihre Heimat finden.
Obwohl dort einige Komponisten des 20, Jahrhunderts aufgeführt werden, wurde der Name Charles Ives (1874-1954) in dem Thread über Komponisten - Die Aufsteiger der letzten 40 Jahre bezeichnenderweise kein einziges Mal erwähnt, obwohl kein einziger Komponist seiner Generation in dieser Zeit einen so steilen Aufstieg von nahezu totaler Obskurität zu einem der anerkanntesten Vertreter der musikalischen Moderne zu verzeichnen hatte. Ist sein Stern womöglich schon wieder im Sinken begriffen? Das wäre nicht nur schade, sondern in höchstem Maße ungerecht, denn Ives selbst konnte nur den Beginn dieser Neuentdeckung noch persönlich erleben – meist am Radio in seiner Abgeschiedenheit in Neu England, wo er die wenigen Übertragungen von Aufführungen seiner Werke durch Leonard Bernstein und gelegentlich auch andere mithörte.
Diese Neuentdeckung verdankte er in hohem Maße dem persönlichen Einsatz Bernsteins, der sich schon früh für Ives' provokant kühne Kompositionen begeisterte und mehr als jeder andere zu ihrer Verbreitung beitrug, nachdem er Ives’ Partituren noch mit ihm selbst durchgegangen war und sich so den Anspruch einer gewissen Autorisierung seiner Interpretationen erworben hatte. Vor allem Ives’ zweite Sinfonie, die damals gerne mit THE UNANSWERED QUESTION gekoppelt wurde, war unter Bernsteins Leitung ein großer Erfolg geworden, der das Publikum – wenigstens bis zu einem gewissen Grade - auch für seine weit schwieriger zu verdauenden späteren Werke öffnete, die heute noch höher angesiedelt werden, wie man u. a. diesen Threads entnehmen kann:
Charles Ives - Die Sinfonien
Charles Ives: UNIVERSE SYMPHONY
Ives, Charles : 2. Sinfonie
Ives, Charles: Streichquartette
Entgegen einer verbreiteten Ansicht, die daher rührt, dass Ives schon 1921 krankheitsbedingt (Herzschwäche, Diabetes, Depressionen) das Komponieren ganz aufgab und sich auf seinen Broterwerb als Mitinhaber einer erfolgreichen Versicherungsvertretung konzentrierte, war Ives keineswegs ein Autodidakt. Vielmehr kam er durch seinen Vater, der eine Blaskapelle leitete, schon sehr früh mit Musik in Berührung, war schon mit 14 Jahren als Organist tätig und absolvierte er ein regelrechtes Musikstudium an der Yale Universität. Für die konventionellen Kompositionspraktiken seiner Zeit zeigte er jedoch von Anfang an nur wenig Interesse, wenn ihm auch die Vorliebe seiner Jugend für die volkstümlichen Klänge der Blaskapellen und Kirchengesänge, die er gerne in seinen Werken aufscheinen ließ, lebenslang erhalten blieb.
Schon in seinen frühesten Werken begann er mit der für ihn typischen Konfrontation völlig konträrer Musiken zu experimentieren, die er gerne ohne nennenswerte Rücksicht auf eine bestimmte Tonalität, die er dennoch kaum je vollkommen verließ, zusammenprallen ließ. Das machte ihn zwar zu einem Neutöner, aber keineswegs einen Atonalen. Trotzdem rief diese Musik bei seinen Zeitgenossen überwiegend Befremden und Ablehnung hervor, obwohl selbst ein Gustav Mahler bei einer Amerikareise Ives’ außerordentliches Talent erkannt und gelobt hatte, allerdings anhand von dessen frühen Sinfonien, insbesondere der dritten (leider kann ich die Belegstelle dieser Erinnerung derzeit nicht finden), und auch Arnold Schönberg später sein Ausnahmetalent erkannte, als er schrieb: „Es lebt ein großer Mann in diesem Land – ein Komponist. Er hat das Problem gelöst, wie man sein Selbst erhalten und dennoch lernen kann. Missachtung begegnet er mit Verachtung. Er ist nicht gezwungen, Lob oder Tadel hinzunehmen. Sein Name ist Ives.“
THE UNANSWERED QUESTION ist das bekannteste und wahrschenlich populärste von Ives’ Werken, was vor allem zwei Gründe hat: es fußt auf einer sehr eingängigen, tonalen Basis und irritiert deshalb sehr wenig, und es ist zudem kurz genug, dass man es gerne als modernes Feigenblatt in alle möglichen Konzertprogramme einbaute, so dass man es mit Abstand am häufigsten zu hören bekam. Wie viele kürzere Orchesterwerke von Ives ist es ein Stück Programmmusik, dessen Gehalt schon in seinem Titel, „Die unbeantwortete Frage“, zum Ausdruck kommt.
Es beginnt mit ruhigen und sehr leisen Streicherakkorden in G-Dur (Ives wollte die Streicher sogar physisch von der Bühne oder in den Hintergrund des Orchesters verbannen), die sich ohne Unterbrechung durch das gesamte Stück durchzieht. Laut Ives’ eigener Aussage repräsentieren sie „das Schweigen der Druiden, die nichts hören, nichts sehen und nichts wissen“. In dieses Schweigen hinein, bzw. auf dieses hinauf, lagert sich die „Frage“ der Trompete in fünf Tönen (Partiturbesitzer oder Leute mit absolutem Gehör mögen diese bitte benennen), die sechs mal wiederholt wird. Auf diese Frage versuchen die Holzbläser (Flöten, Klarinetten, Oboen) in einer dritten Musikschicht verschiedene "Antworten" zu geben, die aber immer unbefriedigender und in ihrer an Verzweiflung grenzenden Dringlichkeit stets chaotischer und schriller werden. Einmal stimmen sie in einer konzertierten Bemühung sogar einen besonders unsinnig wirkenden, sehr schräägen Anklang an das Weihnachtslied „Kling Glöckchen, klingelingeling" an. Die Antworten fallen naturgemäß unbefriedigend aus. Dann wird die Frage ein letztes Mal wiederholt, bleibt aber ohne Antwort, und das Schweigen der Druiden klingt leise aus.
Das war es schon. Runde sechs Minuten für eine unbeantwortete Kernfrage, bei der man sich bis hin zu der Frage nach dem Sinn des Lebens, wie Ives selbst anregte, denken kann, was immer man will. Aber was es (sonst noch) ist, das zu diskutieren sei erst einmal Euch überlassen, bevor ich einige Aufnahmen vorstelle. Vorab nennen möchte ich aber die für mich befriedigendste, weil sie nahe an der Interpretation Bernsteins eine optimale Klangqualität bietet, die Bernsteins Aufnahme leider abgeht, und zudem mit einer sehr guten Auswahl von anderen Orchesterwerken von Charles Ives kombiniert ist, die wenig Gefahren von Doubletten mit sich bringt und durchweg eine für meine Ohren sehr hohe Interpretationsqualität bietet:
Jacques Rideamus