Perfektion vs. Erlebnis

  • Salut,


    na ja – ich meinte, es könnte manches Mal vielleicht besser sein, nicht zu wissen, was in der Wurst drin ist. Ich kenne Metzger, die Ihren Privatbedarf an Wurstwaren grundlegend in der Metro kaufen... :D


    Natürlich kann man das nicht pauschalisieren - gibt's aber.


    Zurück zum Ernst des Themas: Kann nicht das „Wissen, was drin ist“ fallweise den Reiz eines Werkes ausblenden?


    Liebe Grüße
    Ulli

    Als Pumuckl sich zum Frühstück noch ein Bier reingeorgelt hat, war die Welt noch in Ordnung.
    (unbekannt)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Kann nicht das „Wissen, was drin ist“ fallweise den Reiz eines Werkes ausblenden?



    Hallo Ulli,


    ja, das kann schon manchmal passieren. Andererseits entdeckt man beim Selberspielen so viele neue Reize, daß ich da keine ernsthafte Gefahr sehe. Mein Interesse an Sonaten von Beethoven oder Mozart, wenn ich sie nur höre, ist z.B. eher gering, aber kaum sitze ich am Klavier mit einem Band Klaviersonaten, kennt meine Beigeisterung keine Grenzen. Komisch, nicht?


    Gruß
    Heinz

  • Zitat

    Komisch, nicht?


    Salut, Heinz,


    Nein, nicht komisch.


    Bei mir gibt es zwei Varianten:


    a) Ich höre begeistert ein [unbekanntes] Werk, besorge mir die Noten, schaue rein und bin enttäuscht [natürlich nicht immer, eher selten]


    b) kaum sitze ich am Klavier mit einem Band Klaviersonaten, kennt meine Beigeisterung keine Grenzen.


    a) + b) = Beweis für die Perfektion eines Werkes!


    Liebe Grüße
    Ulli

    Als Pumuckl sich zum Frühstück noch ein Bier reingeorgelt hat, war die Welt noch in Ordnung.
    (unbekannt)

  • Hallo,


    die 'Größe' eines Werkes kann man auch als Laie zumindest erahnen. Dazu braucht es keine perfekte Wiedergabe.


    Ein Musiker kann ein Werk mehr oder weniger schlecht wiedergeben.


    Ein Künstler muß ein Werk technisch perfekt wiedergeben und dabei das gewisse Etwas hinzufügen.


    Ein Sänger kann natürlich nicht permanente Höchstleistung erbringen, weil sein 'Instrument' einem Verschleiß unterliegt. Allerdigs macht stimmlicher Verschleiß nicht automatisch einen guten Sänger.


    So, genug geschwatzt ;) Ich mühe mich grade ab, eine Lanze für Wolfgang Windgassen zu brechen. Ich liebe diesen Sänger...und seine Schwächen...



    Danke fürs Lesen,


    Oliver

  • Salut, Oliver,


    Zitat

    die 'Größe' eines Werkes kann man auch als Laie zumindest erahnen [...]


    Sehr schön, dass Du das mal erwähnst. Ich glaube, es ist wichtig, dass man das "unwissende" Publikum nicht unterschätzen sollte.


    Liebe Grüße
    Ulli

    Als Pumuckl sich zum Frühstück noch ein Bier reingeorgelt hat, war die Welt noch in Ordnung.
    (unbekannt)

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  • Wenn ich den direkten Vergleich habe zwischen einer live-Aufnahme und einer Studioproduktion, d.h. gleiches Stück, die selben Interpreten, dann schneidet ersteres meist besser ab. Das ist mir schon oft untergekommen, ganz besonders deutlich war das bei Vivaldis 4 Jahreszeiten mit Europa Galante. Ich habe sowohl einen live-Mitschnitt im Radio gehört als auch die CD-Produktion.


    Der Unterschied liegt ja schon in den Bedingungen. Während einer Produktion kann man schonmal genervt sein, weil man nun schon zum 11. Mal diese eine Stelle wiederholen muss. Im Konzert gibt´s kein zweites Mal. Während sich Stimmungen der Mitwirkenden über die Produktionsdauer von meist mehreren Tagen hinweg stark ändern können, ist ein Konzert eine Momentaufnahme. Und zusätzlich hat man die direkte Interaktion mit dem Publikum. Das kann beflügeln. Darum bin ich ein Freund von Konzertmitschnitten, auch auf CD. Über Fehler, schiefe Töne oder Hintergrundgeräusche tröstet die lebendigere und organischere Interpretation hinweg. Aber solche Mißtöne werden ja auch immer seltener.


    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo,


    mir geht es nicht ganz so wie Thomas und den meisten Vorschreibern, denn unsaubere Stellen, besonders auf einem Tonträger, bringen mich aus der Konzentration nd aus dem Fluss; ich neige außerdem bei Aufnahmen dazu, auf "die" Stelle zu warten. Im Konzert ist letzteres natürlich nicht der Fall. Dennoch spielt bei mir auch dort generell der Aspekt der "Perfektion" eine große Bedeutung. Ein technisch "perfekter" Vortrag ist für mich eine wesentliche Voraussetzung für ein besonderes Erlebnis.


    Äußerliche Emotionalität ist, wenn überhaupt, dann eher ein gefährliches Kriterium. Was aber zur Technik hinzutreten muss, um zum Erlebnis zu werden, ist der Atem, die innere Lebendigkeit. Das kann man wohl sehr schwer spielen; entweder es ist da, oder nicht; ist also kaum beobachtbar, sondern eher fühlbar.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof
    Ein technisch "perfekter" Vortrag ist für mich eine wesentliche Voraussetzung für ein besonderes Erlebnis.


    Äußerliche Emotionalität ist, wenn überhaupt, dann eher ein gefährliches Kriterium. Was aber zur Technik hinzutreten muss, um zum Erlebnis zu werden, ist der Atem, die innere Lebendigkeit.


    Lieber Uwe,


    was Du dann auf dem Tonträger findest, ist dann ein technisch perfektes Zusammenschnippseln von gelungenen Stellen. Aber die Perfektion des Tontechnikers möchte ich nicht gerade als gelungene Interpretation feiern.


    Zur Kunst gehört selbstverständlich die Virtuosität, wenn man will, das Zirzensische. Und natürlich steht auf der einen Seite die Erwartung, dass ein ausführender Künstler dieser Virtuosität gerecht wird - und Perfektion heißt ja auch, dass das Gehörte gewollt und nicht ein Produkt des Zufalls ist. Auf der anderen Seite steht das Risiko, das der ausführende Künstler eingeht, wenn er die Grenzen des Machbaren auslotet. Geht er dieses Risiko nicht ein, so wird im besten Falle eine mediokre Interpretation herauskommen. Geht er aber ein hohes Risiko ein, so ist das Risiko des Scheiterns immer nahe - und das ist doch auch, was die Spannung bei einer großen Interpretation ausmacht.


    Liebe Grüße Peter

  • Lieber Peter,


    Zitat

    Du schreibst: was Du dann auf dem Tonträger findest, ist dann ein technisch perfektes Zusammenschnippseln von gelungenen Stellen. Aber die Perfektion des Tontechnikers möchte ich nicht gerade als gelungene Interpretation feiern.


    Das sehe ich genau so wie Du. Aber das ist ja gerade das Dilema: einereits würden technische Unsauberkeiten, wie es sie natürlich immer gibt, störend wirken und sich wegen des immer wiederkehrenden Hörens ggf. irgendwann manifestieren und zum Wesen des Musikstücks werden. Andererseits ist die mittlerweile übliche Möglichkeit, dem abzuhelfen, wie Du richtig sagst ein technisches Zusammenschnipseln und sonstiges Manipulieren.


    Dies bedeutet für mich in der Folge ganz klar, dass das Anhören eines Musikstücks auf Tonträger ungeeignet ist, dieses in seinem bzw. "meinem" Wesen zu erfassen, zu genießen und mit Leben zu füllen. Das kann m.E. nur das Live-Konzert, bei dem ich anwesend bin. CDs sind natürlich geeignet, sich rein technisch mit einem Stück zu befassen; man kann einzelne Stellen wiederholen etc.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Auch ich mag Live-Aufnahmen. Und wenn es mal holpert, stört es mich nicht. Vielleicht weil mir das technische Können schlicht fehlt, um einen ganz kleinen Lapsus zu hören; spiele zwar Klavier, aber schlecht. Höre allerdings seit der frühesten Kindheit Klassik. Vielleicht kommt es darauf an, mit was für Aufnahmen man aufwächst. Meine Eltern hatten und haben eine Menge alter Scheiben. Nicht mal ihr Rauschen und Knacken überspielt die gelegentlichen Ausrutscher Alfred Cortots. Trotzdem rühren mich Cortot/Thibaud/Casals mehr als fast alles, was ich so als klassische Konzertgängerin höre. Im Jazz oder in der beinaheklassischen Volksmusik von Klezmer bis Tango ist das anders, da schicken Publikum und Kritik einen Musiker nicht gleich in die Wüste, wenn er seine Grenzen mal erfolglos auslotet (da zitier ich jemanden von euch, danke für die schöne Formulierung). Dort habe ich schon manchen Abend erlebt, wo die Musiker zusammenspielten, dass man heulen konnte vor Freude. Aber je E die Musik, umso seltener ist die Gnade eines solchen Erlebnisses. Ist die Technik das einzige Selektionskriterium geworden in der klassischen Musik? Cortot fiel beim ersten Anlauf durch die Aufnahmeprüfung des Konservatoriums. Heute fiele er erst recht durch, vielleicht auch beim zweiten Mal.

    writing about music is like dancing about architecture

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  • Zitat

    Original von Anna
    Auch ich mag Live-Aufnahmen. Und wenn es mal holpert, stört es mich nicht.
    Meine Eltern hatten und haben eine Menge alter Scheiben. Nicht mal ihr Rauschen und Knacken überspielt die gelegentlichen Ausrutscher Alfred Cortots.
    Trotzdem rühren mich Cortot/Thibaud/Casals mehr als fast alles, was ich so als klassische Konzertgängerin höre.


    Cortot fiel beim ersten Anlauf durch die Aufnahmeprüfung des Konservatoriums. Heute fiele er erst recht durch, vielleicht auch beim zweiten Mal.


    Hallo Anna,
    DANKE für den Beitrag....Du hast mir aus der Seele gesprochen.
    Vor einigen Minuten verklang bei mir eine LIVE Aufnahme vom Jahre 1951 RIAS Berlin unter Fricsay : SCHUMANN a-moll Klavierkonzert mit Alfred Cortot (Audite 10.016 ) Natürlich greift er daneben........ABER : wie kann ein fast 80 Jähriger eine solche poetische Dichte in die Tasten zaubern und das auch noch "vollblutig". ???? WUNDERBAR


    Ich bin auch NEU auf dem "Tamino" Forum (sei dem 31.12.09...habe eben mich vorgestellt, denn es gibt eine Rubrik für die NEUEN


    Es grüßt........."Titan"

  • Zitat

    Original von Anna
    Auch ich mag Live-Aufnahmen. Und wenn es mal holpert, stört es mich nicht.


    Das sehe ich genauso. Meine Initialzündung für klassische Musik war ja die Callas und da kam ich irgendwann nicht an Live-Aufnahmen vorbei und die rauschen und rumpeln ganz schön. Ich bin diesen Klang also gewöhnt und ziehe auch heute noch live den Studio-Aufnahmen mit ihr vor. Sie sind in ganz anderem Maße "echt" und eben unverfälscht.


    Letzten Endes kann ja auch die technisch beste Studioeinspielung ein Live-Erlebnis nicht ersetzen. Und von dieser Anspannung und Dramatik, die das Konzert- oder Opernerlebnis bietet, erlebe ich bei Live-Aufnahmen mehr.


    :hello: Gustav

  • Es ist für mich auch völlig klar, live und mit eventuellen Holprigkeiten aber einer großen Intensität, ist es, was die Musik ausmacht.


    Was stört mich ein falscher Ton oder eine Unsauberkeit, wenn ich ergriffen von der Musik bin.
    Bei allem darf man dennoch auch die technische Präzision vergessen, auch das ist eine große Leistung.


    Ich bin nun noch jung, doch ich will eines erzählen.
    Ich musiziere sehr intensiv selbst, hatte letztes Jahr bei einem Wettbewerb folgendes Erlebnis:
    Ich und eine Freundin, Horn spielend, waren eben in jenem Wettbewerb.
    Nun spielt sie Horn - völlig aufgeregt natürlich, doch bei all dem was vielleicht mal gequietscht hat, gerade in dieser Spannung war die Musik und der Ausdruck so umwerfend, ich hatte Gänsehaut bei Mozart überall. Das ist das einzige Mal, das es so extrem war, es war schöner als man zu glauben wagt, es war eben nicht die Perfektion, es war die gesamte Seele der Musik.

  • Perfektion an sich mag vielleicht langweilig sein, aber das Ringen um Perfektion zu verfolgen, ist ein Erlebnis. Außerdem strebt jeder Künstler nach Perfektion - man darf sie also nicht dafür verdammen, dass sie bisweilen erreicht wird. Man sollte aber bei jedem Künstler untersuchen, in welchem Gebiet er nach Perfektion strebt. Wenn ich z. B. für Rhythmen sehr sensibel bin, aber eher tolerant in Fragen der Intonation, dann werde ich einen Musiker, der vor allem nach Perfektion in der Intonation strebt, womöglich gar nicht richtig würdigen können.


    Noch ein Gedanke: Natürlich ist (technische) Perfektion nichts gegen ein Erlebnis (wenn nicht die Pefektion so außergewöhnlich ist, dass sie ihrerseits zum Erlebnis wird). Denn auf der Ebene des Erlebnisses können sich (zum Glück) sogar die Unterschiede zwischen blutigen Laien und allervirtuosesten Profimusikern aufheben: Ein Laienchor der mit tiefster Inbrunst singt, kann mich zum richtigen Zeitpunkt viel tiefer bewegen als die besten Profiensembles. Doch ein - wie ich finde - sehr kluger Musiker hat mal gesagt: Es ist keine Kunst, perfekt zu sein - die Kunst ist, JEDES MAL perfekt zu sein. Aus diesem Grunde gibt es zwei extreme Arten, mit diesem Anspruch umzugehen: Manche Künstler stürzen sich nur auf die technische Seite und geraten dadurch in die Gefahr, die Kommunikation mit dem Publikum aus dem Auge bzw. Ohr zu verlieren. Andere treten nur auf, wenn sie sich in der Lage fühlen, eine wesentliche Kommunikation mit dem Publikum eingehen zu können - und laufen Gefahr, zu notorischen Konzertabsagern wie Martha Argerich oder Arturo Benedetti-Michelangeli zu werden.


    In jedem Fall stimmt mit der Alternative "Erlebnis versus Perfektion" etwas nicht, weil eine Folge von nicht bloß zufälligen Erlebnissen, wie sie die Kunst anstrebt, immer eine Folge des Strebens nach Perfektion sein wird.

    Dem Amateur ist nichts zu schwör.

  • Hallo Forianer,


    Ich hab' beides erlebt. Technische Perfektion und das besondere Erlebnis. In einem Interview vor einiger Zeit hat Brendel sich dazu geäußert. Er meinte, es muss beides im Gleichgewicht sein, Perfektion und Emotion. Ich gebe zu, dass ich den reinen "Kopfvirtuosen" nicht vorziehe. Deshalb
    höre ich auch Francescatti am Liebsten. Von den Beethoven-Klavierkonzerten auf DVD mit Bernstein und Zimmerman bin ich ebenfalls begeistert, obwohl ich noch viele andere habe. Ob es nun aber am Klavierspieler oder Dirigenten liegt, dass ich so happy bin, muss ich wohl noch einmal überprüfen.


    Grüße aus Burgdorf


    "Nicht weinen, dass es vorüber ist
    sondern lächeln, dass es gewesen ist"


    Waldemar Kmentt (1929-2015)


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