Alfred spielt sie alle an die Wand (?)

  • Und genau dieses ideologische Gedankenkonstrukt akzeptiere ich so nicht: Selbstverständlich ist die Aufführung auch ein Kunstwerk, aber kein voraussetzungsloses im luftleeren Raum, denn es hat die Aufgabe, ein anderes Kunstwerk, nämlich das durch Text und Musik (Notentext) überlieferte Kunstwerk der Autoren, erlebbar zu machen


    Es ist einfach zwecklos zu argumentieren, wie man sieht: Johannes Roehl hatte mal in einem sehr erhellenden längeren Beitrag gezeigt, dass die Tradition des Theaters theoretisch wie praktisch auszeichnet, dass die Aufführung das Werk ist und so gerade nicht die Aufführung intentional als die Realisierung eines von der Aufführung verschiedenen, dieser gegenüber selbständigen Werks anzusehen ist. Die Forderung der "werktreuen" Aufführung auch eines Theaterstücks bzw. einer Oper stammt überhaupt erst aus den 20iger Jahren des 20. Jhd. - wenn man von "ideologischem Gedankenkonstrukt" reden will, dann ist es also historisch gesehen schlicht die gerade mal 100 Jahre alte "Werktreue-Ideologie". Die Dramentheorie dagegen hat eine Geschichte, die 2500 Jahre alt ist, letztlich auf Aristoteles zurückgeht. Und bei Aristoteles - auf den sich alle nachgeborenen Dramentheoretiker bis in die Moderne beziehen - kommt bezeichnend der Gesichtspunkt des "Werks" in der Betrachtung des Dramas gar nicht vor. Beim Theater geht es nach Aristoteles nicht um die Aufführung von Werken, sondern die Darstellung von Handlungen. Die Aufführung muß einen "Mythos" - einen geschlossenen Handlungszusammenhang - herstellen, nicht mehr und nicht weniger. Ein anderes "Kriterium" für eine gelungene Aufführung gibt es nicht.


    Schöne Grüße
    Holger

  • „Wiederholungszeichen sind nicht immer Befehle: daß sie unweigerlich von Erwägungen der Proportion bestimmt seien, ist ein moderner Köhlerglaube. Auch dort, wo der Komponist einige Takte der Rückleitung, die zum Beginn des Satzes führen, eigens komponiert hat, ist damit ein Wiederholungszwang nicht immer gegeben. In Schuberts B-Dur-Sonate, die so oft als Beispiel herangezogen wird, verzichte ich auf diese Überleitung mit besonderem Vergnügen: so ohne jede logische oder atmosphärische Beziehung steht dieser zuckende Ausbruch da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie dieses Satzes verirrt.“


    Alfred Brendel


    Wenn man genau liest, dann entdeckt man die subtile, witzige Anspielung auf Freud: "Wiederholungszwang" ist bei Freud der "Todestrieb". Die Wiederholung als eine Art vom Werk vorgeschriebener "Zwangsvollstreckung" zu nehmen - nur gegen eine solche die interpretatorische Lebendigkeit tötende "mechanische" Auffassung wendet sich Brendel, nicht dagegen, dass man Wiederholungsvorschriften generell beachten soll. Ihm geht es um die Harmonie, die romantisch einheitliche Stimmung des Satzes - also werktheoretisch um die Wahrung der Geschlossenheit, die er durch den Baßtriller gestört sieht. Architektonisch macht die Wiederholung sicherlich keinen Sinn - die Frage ist allerdings, ob man die Wiederholung in D 960 auch so architektonisch hört oder nicht vielmehr als Ausdruck romantischer Unendlichkeit, als "rondohaften" Zug des Aufbrechens einer geschlossenen Sonaten-Form. Sicher wirkt der Satz ohne Baßtriller und Expositionswiederholung harmonischer - aber verliert er damit nicht auch etwas von seiner romantischen Unendlichkeit, der Schubert typischen "himmlischen Länge"? Das würde ich Alfred Brendel fragen und wäre auf seine Antwort gespannt.


    Schöne Grüße
    Holger


  • Und genau dieses ideologische Gedankenkonstrukt akzeptiere ich so nicht: Selbstverständlich ist die Aufführung auch ein Kunstwerk, aber kein voraussetzungsloses im luftleeren Raum, denn es hat die Aufgabe, ein anderes Kunstwerk, nämlich das durch Text und Musik (Notentext) überlieferte Kunstwerk der Autoren, erlebbar zu machen - dabei gibt es gewiss einen Spielraum an künstlerischer Freiheit in der Umsetzung, aber eben nicht total willkürlich und verantwortungslos. Die künstlerische Freiheit bei einem solchen Folgekunstwerk ist deutlich eingeengter als die eines Primärkunstwerks:


    Dem stimme ich zwar zu. ("Ideologie" und "Konstrukt" ist allerdings immer die Position der Gegenseite; die Idee eines "ewigen Werks" (Kochrezepts) ist selbstverständlich gar nicht "natürlich", sondern auch eine "Ideologie", und eine wesentliche neuere (keine 200 Jahre alt) als die, dass der Interpret das Kunstwerk im Augenblick der Aufführung (mit-)erschafft.)


    Das ändert aber wenig an dem Punkt. Es ist schlicht nicht a priori entscheidbar, was "totale Willkür" und was angemessene oder sogar erforderliche (da ein nicht-elektronisches Musikstück oder ein Theaterstück nie vollkommen notiert werden kann) künstlerische Freiheit ist. Wer soll das entscheiden, wenn nicht der Interpret? Und natürlich kann man als Rezipient dessen Entscheidungen für falsch halten. Auch das ist unbestritten.


    Warum ist es erlaubt, Beethovens Instrumentation zu revidieren, Tempi bedeutend langsamer zu nehmen, einzelne Arien zu streichen, aber ein "falsches Kostüm" oder eine "leere Bühne" eine Travestie? Wer legt hier die Grenzen fest? Es ist doch kaum zu vermeiden, letztlich vom Endergebnis her zu urteilen. Und dieses Urteil wird normalerweise wieder davon geprägt sein, was man vorher schon für "nicht verhandelbar" gehalten hat. Zwar kann ich im Einzelfall von etwas überzeugt werden, was meinen "Vor"-Urteilen widerspricht, aber häufig werde ich z.B. eine "monumentale" Interpretation der Eroica oder Hammerklaviersonate mit breiten (="falschen") Tempi als suboptimal empfinden, egal, was sie sonst für Meriten haben mag.


    Es ist doch schlicht naiv, sich über Wiederholungen zu streiten, dabei aber vieles andere, was nicht so leicht "quantifizierbar" ist, zu ignorieren (bzw. auch manches, wie Tempi, was sehr leicht quantifizierbar ist, wo sich aber in vielen Fällen (zB Beethovens op.106) eine Tradition mit stark abweichenden Üblichkeiten herausgebildet hat).


    M.E. haben wir seit Mitte/Ende des 19., spätestens seit Mitte des 20. Jhds. (vermutlich auch durch die Möglichkeit der Fixierung in Tonaufnahmen) eine inkonsistente Vorstellung der Rolle des Interpreten. Er soll ein "treuer Diener am Werk" sein, aber trotzdem originell. Und es gibt natürlich zahllose Aspekte, in denen er dennoch Freiheiten nehmen MUSS (weil es eben nicht so genau festgelegt ist oder weil bestimmte Aspekte, z.B. Tempi, Wiederholungen, unabhängig von ihrer Festlegung als im Entscheidungsbereich des Interpreten liegend verstanden werden).


    Das ist besonders schwierig bei Musik bis Mitte/Ende des 18. Jhds., weil die normalerweise von einem "mitkomponierenden" Interpreten ausgeht. (Für Händel wäre die Vorstellung einer "endgültigen" Fassung des Messiah absurd gewesen; daher gibt es ein halbes dutzend oder mehr unterschiedliche und für ihn wären die uns heute bizarr erscheinenden Neuinstrumentierungen und Kürzungen bei Beecham u.a. im Prinzip selbstverständlich gewesen, weil man Musik für eine Neuaufführung immer überarbeitet bzw. den Gegebenheiten anpasst (egal, ob man sie ursprünglich selber komponiert hat) und obendrein entsprechende improvisatorische Zufügungen des Interpreten erwartet.) Aber wie schon gesagt, waren Liszt, Busoni, Rachmaninov eben auch noch "mitkomponierende" Interpreten.


    Und es wird eben einigermaßen bizarr, wenn Musiker den Ruf des besonders sorgfältig "werktreuen" Interpreten haben, aber offensichtlich gegen den Text verstoßen, etwa durch Instrumentationsretuschen, "falsche" Tempi oder Auslassen von Wiederholungen. Da kollidieren zwei stillschweigende Haltungen, nämlich die des "Werkdieners" und die des souveränen, frei entscheidenden Interpreten. Wir wollen irgendwie beides und blenden die offensichtlichen Konflikte aus. Bzw. weisen nur bei Dingen, die uns eh stören, darauf hin. Und das ist meistens von der Gewohnheit geprägt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Danke, Johannes, für Deinen letzten Beitrag und Danke auch an einige andere Taminos für das, was ich in den letzten Tagen hier zu diesem Thema lesen konnte.


    Ich habe ja mal, ganz am Anfang meiner Mitgliedschaft bei Tamino, festgestellt, dass ich »einerseits nur sogenannte ›HIP‹-Einspielungen von Werken älterer Komponisten kaufe, dass ich aber andererseits von den wenigen Opern, die ich gesehen habe, nur diejenigen erträglich – oder besser: spannend, packend, schlüssig statt einfach nur lächerlich – fand, die eben modern inszeniert waren.« Diesen offensichtlichen Widerspruch aufzulösen ist mir eigentlich so recht nicht gelungen. Ich weiß auch noch, dass ich Alfred Brendel vorgeworfen habe (wohl wissend, dass es mir überhaupt nicht zusteht, jemandem wie Brendel ernsthaft etwas »vorzuwerfen«), er habe vorgeschriebene Wiederholungen nicht be- und damit den Willen des Komponisten missachtet.


    Nun habe ich in den letzten Tagen durch Beiträge wie etwa den letzten von Dir, Johannes, und einige andere, die in den letzten Tagen zu dem Thema Wiederholungen bzw. künstlerische Freiheit etwas geschrieben haben, entscheidend dazugelernt. Meine bisher sehr starre Haltung zum Beispiel in Bezug auf »authentische« Aufführungspraxis ist dabei, sich zu verändern. (Das löst für mich ja so nebenbei auch den im vorigen Absatz skizzierten Widerspruch.) Freilich macht es das Leben mit Musik nicht leichter in dem Sinn, dass ich nun nicht mehr so einfach sagen kann, das höre ich mir gar nicht erst an, weil es »die falschen Instrumente« sind – die Grenzen werden durchlässiger. Wenn ich dann solche Sachen lese wie etwa das, was Holger zu Schubert und Brendel schreibt, ja, da merke ich, wie sehr ich einerseits Laie bin, wie sehr es aber auch für mich dadurch wirklich lehrreich und spannend wird.

  • die Idee eines "ewigen Werks" (Kochrezepts) ist selbstverständlich gar nicht "natürlich", sondern auch eine "Ideologie", und eine wesentliche neuere (keine 200 Jahre alt) als die, dass der Interpret das Kunstwerk im Augenblick der Aufführung (mit-)erschafft.)

    Dass Mozart 1791 die Oper "Die Zauberflöte" auf einen Text von Schikaneder geschrieben hat und dass diese Oper bis heute überall gespielt wird, ist nicht Ideologie, sondern Realität.



    Das ändert aber wenig an dem Punkt. Es ist schlicht nicht a priori entscheidbar, was "totale Willkür" und was angemessene oder sogar erforderliche (da ein nicht-elektronisches Musikstück oder ein Theaterstück nie vollkommen notiert werden kann) künstlerische Freiheit ist. Wer soll das entscheiden, wenn nicht der Interpret?

    Da sind wir wieder beim Stichwort nivellieren. Und natürlich entscheidet das nicht allein der Interpret, der ja nicht unter einer Käseglocke lebt, sondern sich dem Publikum stellt, für das Publikum spielt, das ihn bezahlt. Das Publikum entscheidet letztlich am Ende mit seinem Applaus oder Nichtapplaus oder Kritik oder welcher Reaktion auch immer, wie überzeugend diese Interpretation auf sie gewirkt hat. (z.B. als eifriger Hörer und vergleichender "Kritiker" von Pianisten). Dass Publikum als Faktor von einigen viel zu wenig wahrgenommen wird, war ja auch das Thema des von mir eingestellten FAZ-Artikels in der "Freischütz"-Hannover-Rubrik. Von selbstherrlichen Interpreten, denen die Meinung des Publikums schnuppe ist, halte ich gar nichts - die findet man freilich auch eher selten bei den musizierenden Künstlern, dagegen viel häufiger bei den Regisseuren...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Dass Mozart 1791 die Oper "Die Zauberflöte" auf einen Text von Schikaneder geschrieben hat und dass diese Oper bis heute überall gespielt wird, ist nicht Ideologie, sondern Realität.


    Eine Realität übrigens, die von niemandem hier bestritten wird. Fiktion dagegen scheint mir, dass die Antwort von Stimmenliebhaber etwas mit Johannes’ Aussage zu tun haben sollte.

  • Dass Mozart 1791 die Oper "Die Zauberflöte" auf einen Text von Schikaneder geschrieben hat und dass diese Oper bis heute überall gespielt wird, ist nicht Ideologie, sondern Realität.

    Wer hat das bestritten? Dass zumindest der Sprechtext heute normalerweise massiv gekürzt wird, andererseits vermutlich seinerzeit sogar von Schikaneder als Papageno mit spontanen Gags erweitert worden ist, ist aber ebenfalls unbestritten.


    Der Punkt war z.B., dass noch eine Generation nach Mozart in Frankreich statt der Zauberflöte ein "Machwerk" namens "Mysterien der Isis" auf der Basis u.a. der Zauberflöte aufgeführt wurde. Die "Integrität" von Mozarts Zauberflöte hat niemanden interessiert. Fast niemanden. Berlioz hat sich über die Mozart-Travestie empört. Aber auch für ihn war klar, dass er z.B. den "Freischütz" und Glucks "Orpheus" bearbeiten musste, wenn er sie im Frankreich der 1830er/40er auf die Bühne bringen wollte, wenn auch in weit behutsamerer Weise als der Verantwortliche für die Mysterien der Isis.



    Etwa in dieser Zeit finden wir zum ersten Mal die hier immer wieder als "selbstverständlich" oder "natürlich" (ggü. "Gedankenkonstrukten") hingestellte Idee eines Theaterkunstwerks, das nicht für eine Neuaufführung (massiv) arrangiert und überarbeitet werden muss. D.h. die Idee, dass es bei Musik und Theater so etwas wie einen überzeitlichen Kanon geben soll und dass diese Werke in einer "Urgestalt" bleiben sollen und bei Neuaufführungen nur in einem relativ engen Rahmen bearbeitet/gekürzt/erweitert etc. werden sollen, ist keine 200 Jahre alt. (Wie schon dreimal geschrieben, hat noch vor 80 Jahren jemand wie Rachmaninov Klavierzyklen Schumanns umgestellt/gekürzt etc.)



    Zitat

    Da sind wir wieder beim Stichwort nivellieren. Und natürlich entscheidet das nicht allein der Interpret, der ja nicht unter einer Käseglocke lebt, sondern sich dem Publikum stellt, für das Publikum spielt, das ihn bezahlt. Das Publikum entscheidet letztlich am Ende mit seinem Applaus oder Nichtapplaus oder Kritik oder welcher Reaktion auch immer, wie überzeugend diese Interpretation auf sie gewirkt hat. (z.B. als eifriger Hörer und vergleichender "Kritiker" von Pianisten).

    Niemand hat dem Publikum das verweigert. Es darf und soll genau das tun. Das Publikum ist aber aufgrund der Logik der Sache "weiter hinten". Es kann gar nichts machen, sofern nicht zuerst Musiker, Sänger, Schauspieler, Regisseure tätig werden. Das ist doch offensichtlich. Wenn, wie vor 80 Jahren, fast kein Pianist Schubert-Sonaten im Konzert spielt und fast keine Händel-Opern auf der Bühne zu sehen sind, kann ich als Publikum Klavier lernen und die Stücke privat durchspielen (oder eben auch nicht, wenn Muße und Begabung fehlen). Und wenn z.B. die Händel-Stücke massiv bearbeitet sind (z.B. Cäsar als Bariton statt Alt), kann ich mir eben die ansehen oder gar keine. D.h. dass erst einmal Interpreten Entscheidungen treffen müssen, gilt genauso für die Stücke wie für die Art der Interpretation (Wiederholungen, Tempi, Originalinstrumentationen etc.)
    Ich bin als Hörer hier vollständig davon abhängig, dass es genügend Musiker gibt, die sich für die jeweiligen Stücke interessieren und sie in einer Weise darbieten, die ich für adäquat halte. Sonst habe ich einfach Pech gehabt. Natürlich wird das im Zeitalter von Massenmedien stark entschärft, weil durch billige Medien mir weit mehr Optionen offenstehen als z.B. 1930. Aber es ändert nichts Prinzipielles.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Das Gegenbeispiel zu Brendel:



    Bei Maurice Ravels Valses nobles et sentimentales spielt ABM in Walzer I zwei Wiederholungen, die bei Ravel (in der Durand-Ausgabe) gar nicht notiert sind. Wie in Arezzo 1953 wiederholt ABM die erste Seite als eine Art "Exposition" - in Tokyo 1973 auch noch den zweiten Teil (also: Wiederholung Teil 1 und dann Wiederholung Teil 2). Somit bekommt dann der komplette erste Walzer Expositionscharakter. (ABM, der Super-Perfektionist, "verdrückt" sich allerdings im zweiten Teil, vielleicht hat er auch deshalb die Wiederholung nun mit "richtigem" Ton gespielt, was ich aber für eher unwahrscheinlich halte. :D ) Der interpretative Sinn ist offenbar der einer Formverdeutlichung. Man kann dies als Hinweis darauf nehmen, dass das Auslassen bzw. Einfügungen von Wiederholungen letztlich auch den interpretativen Sinn hat, die formale Seite der inhaltlichen einer Komposition gegenüber zu betonen oder ihre Bedeutung in der Gewichtung abzuschwächen. Ansonsten fällt mir bei ABM nur ein Beispiel ein, wo er Wiederholungen ausspart. Im Warschauer-Konzert (1955) spart er die Wiederholungen bei den Paganini-Variationen von Brahms aus - in allen anderen Mitschnitten einschließlich der frühen EMI-Studioaufnahme spielt er sie.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wenn man genau liest, dann entdeckt man die subtile, witzige Anspielung auf Freud: "Wiederholungszwang" ist bei Freud der "Todestrieb". Die Wiederholung als eine Art vom Werk vorgeschriebener "Zwangsvollstreckung" zu nehmen - nur gegen eine solche die interpretatorische Lebendigkeit tötende "mechanische" Auffassung wendet sich Brendel, nicht dagegen, dass man Wiederholungsvorschriften generell beachten soll.


    Lieber Holger,


    erst einmal danke für die Blumen weiter oben und dann volle Zustimmung für Deinen Beitrag aus dem ich zitierte.
    Auch Alfred Brendel kann ich hier nur zustimmen. Seine Argumentation wirkt schlüssig, und vor allem ist sie auch durch die Praxis entstanden.
    Nicht die Zwangsvollstrecker in allerlei Hinsicht, sondern Leute wie er sind m.E. die großen Künstler. Da ich der Meinung bin, dass in gewisser Hinsicht jede Aufführung eines Notentextes immer so eine "Art von Bearbeitung" ist (denn die abstrakten Noten werden durch das Musikverständnis, das Empfinden und die Fähigkeiten des Ausübenden sozusagen individuell bearbeitet, man kann es auch Interpretation nennen) , interessiert mich der individuelle künstlerische Ausdruck mehr (nur auf diesem Weg erreicht man im nie eintreffenden Idealfall eine Verschmelzung mit den künstlerischen Absichten des Komponisten) als die buchhalterische Vollstreckung. Man kann historisch und sonst wie alles richtig gemacht haben, und dennoch das künstlerische Ziel der Berührung, Bewegung, Erschütterung, Tröstung....(je nach dem) total verfehlen.
    Die Mischung aus künstlerischer Phantasie und Uneitelkeit (Demut = Dienemut) ist im Zusammenwirken mit technischem Können eine gute Voraussetzung, für eine beglückende und bewegende Aufführung.
    Bei Brendel ist das der Fall.


    Es reicht für den Pianisten und Musiker nicht, nur durch vieles Üben und Memorieren technisch gut drauf zu sein und dann irgendwie "gefühlvoll" im Stile eines Klavierhusaren herumzuspielen. Wenn man das macht, und dann auch noch ein showmäßiger Beeindruckungswillen hinzukommt, dann hat man diese bedauerlichen Erscheinungen, die jedoch heutzutage sehr erfolgreich im Sinne von Konzertbesuchen, Preisen und CD-Verkäufen sein können.
    Brendel hingegen ist ein wirklich gebildeter Mann, der sich in den Bereichen Literatur, Poesie und bildende Kunst bestens auskennt. Brendel-Schülern wurde empfohlen, viel in der Natur spazieren zu gehen und sich ansonsten auch viel mit den oben genannten Künsten zu beschäftigen. Wenn ich nur an die Italien-Annees denke, dann wird schon beim ersten Stück klar, dass man dieses Wissen für eine reife Interpretation tatsächlich auch braucht.
    Brendels Anti-Klavierhusarentum, seine Ernsthaftigkeit hat mir überhaupt erst die Musik von Liszt schmackhaft machen können.
    Zudem ist es bei ihm ja auch so, dass er durchaus in der Kunst des Komponierens und im Tonsatz sehr bewandert ist und in jungen Jahren - wenn ich mich recht erinnere - einiges komponierte, sich dann aber für die Pianistenlaufbahn entschied. Auch das unterscheidet ihn m.E. von Spielmaschinen mit flinken Fingern. Ich kann mich an Improvisationsstunden im Gruppenunterricht der Musikhochschule erinnern, in die auch ein junger Pianist mit sehr guter Klaviertechnik hineinging. Seinen Chopin konnte er herunterdonnern, aber wenn er etwas von sich aus spielen sollte oder einmal eine einfache Melodie begleiten oder vierstimmig spielen, dann war das Ergebnis mehr als kläglich. Ich mache dem jungen Mann daraus keinen Vorwurf, finde aber, dass es Schieflagen in der Ausbildung immer noch gibt.
    Brendel war ein Gesamtkünstler, worin er dem Herrn Glenn Gould eigentlich ähnelte. Nun ist es so, dass Gould sich m.E. einmal lobend über Brendel äußerte, während Brendel die eigenwillige Spielweise des Kanadiers sehr ablehnte ....


    Nicht jedes Stück oder jedes Klavierkonzert gefällt mir nun am besten, wenn Brendel es interpretierte. Bei den sehr guten Beethoven-Klavierkonzerten habe ich durch Vergleiche herausgefunden, dass mich die Kombination Uchida/Sanderling teilweise noch mehr überzeugten, was mich selbst überraschte. Dennoch will ich die Brendel-Aufnahmen niemals missen. Seinen Schubert finde ich meistens zum Niederknien, auch seine italienischen Années. Ihm live mit Haydn zuzuhören, war für mich auch ein einmaliges Erlebnis.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Auch Alfred Brendel kann ich hier nur zustimmen. Seine Argumentation wirkt schlüssig, und vor allem ist sie auch durch die Praxis entstanden.


    Lieber Glockenton,


    da kann ich Dir auch in jederlei Hinsicht nur zustimmen (über das Klavierhusarentum, toll!)! :) Ich erinnere mich, dass ich mal nach dem Hören dieser Trillerstelle - ich glaube, es war die Pollini-Aufnahme - irritiert war und die Noten rausholte, weil ich dachte, er spielt da irgendeine Textvariante! Schubert hat ja Schlegels Gedicht "Gebüsche" vertont: "Durch alle Töne tönet, ein leiser Erdenton, für den, der heimlich lauschet..." D.h. hier geht es um eine einheitliche Grundstimmung, also Einheit in der Mannigfaltigkeit. Brendel hat einfach gespürt, dass sich dieses einzelne Klangereignis nicht in die Grundstimmung des Satzes einfügt. Das ist letztlich ein ästhetischer Mangel, wenn man darin nicht eine ganz bewußte Störung, wie etwa die "Durchbrüche" bei Mahler, entdecken will. Aber Schubert ist nicht Mahler! Werke sind doch nicht sakrosankt, nur weil sie Werke sind. Zur Interpretation gehört immer auch ästhetische Kritik. Nicht alles, was ein Komponist (auf-)geschrieben hat, muß gelungen sein. Warum darf man hier nicht dem hermeneutischen Prinzip folgen, einen Autor (und sein Werk) besser zu verstehen, als er sich (es) selbst verstanden hat, wenn es zum Vorteil des Werkes ist? Bei einem so universell gebildeten und ernsten Künstler wie ihm (die Gemälde von ihm habe ich mal in einem Filmportrait gesehen, beeindruckend - aber er hält sie unter Verschluß!) muß man sich genauso fragen wie in Hinblick auf den Komponisten: Was hat er sich dabei gedacht?


    Zum Glück habe ich Brendel auch noch im Konzert, mit Haydn, Mozart und der großen G-Dur-Sonate von Schubert. Einfach überragend! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Gern mache ich mich hier unbeliebt: Brendel spielt nicht alle an die Wand!


    Unbenommen seine Intelligenz, seine Liebe zur Kunst, sein literarisches Können.
    Höchsten Respekt habe ich vor seinem Humor und seiner Gabe, sich selbst nicht ernst zu nehmen.
    (Eine Kunst, in der wir alle hier von ihm lernen sollten.)


    Aber als Pianist? Hm ..... persönlich kenne ich einen seiner Mitstudenten, der immer nur verwundert war, wie jemandem gelingen konnte, pianistische Defizite als zutiefst musikalisch/musikantisch an den Mann zu bringen.
    Die Unfähigkeit, vom Komponisten geforderte Tempi bewältigen zu können, zu verkaufen als "den Geist hinter der Musik".
    Genannt im selben Atemzug wie Walter Klien, der die Kunst nicht beherrschte, seine Mittelmäßigkeit zum Kult zu machen.
    Ach ja: der Mitstudent war bereit, seine Mittelmäßigkeit anzunehmen und komponierte lieber und war, wie Brendel, ein belesener und selbstreflektierender Mann und hat wunderschöne Bilder gemalt.


    Also ich weiß nicht recht. In meiner CD-Sammlung findet sich keine einzige Brendel-Aufnahme.
    Weil keine mich überzeugt.
    Ich persönlich schätze ihn eher in anderen Bereichen des kulturellen Lebens denn als Pianist.
    Wiewohl marketing und Philosophie andre Wege gehen können und ein Plattenlabel ein Standbein machen kann aus einem Pianisten, der nicht besonders gut Klavier spielt....


    Demütig bereit, hier jetzt jede Strafe hinzunehmen, da ich doch an einer Statue rüttelte - von meiner Meinung aber nicht abzubringen:


    Mike

  • Aber als Pianist? Hm.....persönlich kenne ich einen seiner Mitstudenten, der immer nur verwundert war, wie jemandem gelingen konnte, pianistische Defizite als zutiefst musikalisch/musikantisch an den Mann zu bringen.
    Die Unfähigkeit, vom Komponisten geforderte Tempi bewältigen zu können, zu verkaufen als "den Geist hinter der Musik".

    Und was, lieber Mike, sagst Du dann zu Wilhelm Kempff? Zu Kempffs Pianistik sagte mein Lehrer gerne: "genial gepfuscht". Bei Kempff fällt mir z.B. die 2. Schumann-Sonate ein, wo er nicht in der Lage ist, "das geforderte Tempo zu bewältigen". Kempff gegenüber ist Brendel nun aber rein pianistisch eindeutig überlegen. Das Verrückte ist aber, dass sowohl Pianistenkollegen wie Zuhörer einen Wilhelm Kempff (und bei Brendel ist es ganz ähnlich) wegen seiner überragenden Musikalität außerordentlich schätzen und die fehlende technische Perfektion so ziemlich egal ist. So geht es auch mir. Ich persönlich finde inzwischen nichts langweiliger als technische Perfektion - die bekommt man wie zuletzt beim Chopin-Wettbewerb in Warschau bis zum Überdruß geboten. Aber wo bleibt bei dieser Sterilität die Musikalität, die Fähigkeit Musik zu durchdenken und die Spielkultur? Die ist sowohl bei Kempff als auch bei Brendel überragend. Und das ist letztlich die "wahre" Pianistik. Da gibt es dutzende von Youngstars, welche die Tasten deutlich schneller sauber bewegen können, aber nie im Leben einen Flügel so zum Singen und Klingen bringen können.



    Also ich weiß nicht recht. In meiner CD-Sammlung findet sich keine einzige Brendel-Aufnahme.
    Weil keine mich überzeugt.
    Ich persönlich schätze ihn eher in anderen Bereichen des kulturellen Lebens denn als Pianist.
    Wiewohl marketing und Philosophie andre Wege gehen können und ein Plattenlabel ein Standbein machen kann aus einem Pianisten, der nicht besonders gut Klavier spielt....

    Wirklich nicht? Seine Liszt h-moll-Sonnte z.B. ist für mich eine der besten, welche den Ruf hat, die technisch schwerste aller Klaviersonaten zu sein. Und die bewältigt er sehr souverän. Ganz so schlecht spielt er also doch nicht Klavier.



    Demütig bereit, hier jetzt jede Strafe hinzunehmen, da ich doch an einer Statue rüttelte- von meiner Meinung aber nicht abzubringen:

    Wir sind hier Gott sei Dank nicht das jüngste Gericht... :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat Melante

    Zitat

    Aber als Pianist? Hm ..... persönlich kenne ich einen seiner Mitstudenten, der immer nur verwundert war, wie jemandem gelingen konnte, pianistische Defizite als zutiefst musikalisch/musikantisch an den Mann zu bringen.
    Die Unfähigkeit, vom Komponisten geforderte Tempi bewältigen zu können, zu verkaufen als "den Geist hinter der Musik".


    Lieber Mike,


    provokative Titel führen zu leicht provokanten Äußerungen. Das ist normal und gut. Es ist klar, dass Alfred Brendel kein Tastenlöwe war, aber so technisch unsauber spielt er nicht. Holger hatte bereits die wirklich überzeugende h-moll Sonate genant, man kann einige der Années dazu nehmen. Ich bewundere an Brendel, dass er stets ein Suchender war. Bei Beethoven hat man das gemerkt. Die Lösungen müssen einen nicht überzeugen, aber die tiefe Auseinandersetzung Brendels mit der Klaviermusik Beethovens machen ihn eben sich zu einem Ausnahmepianisten. Er spielt zweifellos technisch gut genug Klavier (dass andere technisch souveräner sein mögen ... sei’s drum), um auf dieser Basis herausragende Interpretationen vorzulegen. Schubert Impromptus, einiges von Liszt, einige der Beethoven Sonaten gehören für mich zum herausragendsten, was man an Klaviermusik erhalten kann.
    Also Schelte: nein :). Widerspruch gegenüber Deiner Äußerung: aber ja :yes:


    Sei herzlich gegrüßt
    JLang

    Gute Opern zu hören, versäume nie
    (R. Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln)

  • Zitat

    Aber als Pianist? Hm ..... persönlich kenne ich einen seiner Mitstudenten, der immer nur verwundert war, wie jemandem gelingen konnte, pianistische Defizite als zutiefst musikalisch/musikantisch an den Mann zu bringen.
    Die Unfähigkeit, vom Komponisten geforderte Tempi bewältigen zu können, zu verkaufen als "den Geist hinter der Musik".


    Es ist natürlich immer eine Frage WAS man von einem Pianisten ERWARTET. Ich erinnere mich, daß man in meiner Jugend "perfekte Techniiker" geradezu verachtete. Wäre Technik das Maß aller Dinge so würde die Klassikszene heute von einem asiatischen Wunderkind beherrscht, was aber glücklicherweise nicht der Fall ist. Persönlich liebe ich Kempff und Brendel gleichermaßen, es gibt ein paar weitere Pianisten, die ich sehr schätze - Tastenlöwen sind indes keine darunter, was natürlich mit dem von mir präferierten musikalischen Segment zusammenhängt.
    Gerade die "perfekten Techniker" tun sich bei Mozart - und auch bei Schubert schwer.
    Über Brendel schrieb der Kritikerpapst seiner Zeit, Joachim Kaiser, Brendel sei einer der wenigen Fälle gewesen, wo er die Entwicklung vom eher mittelmäßigen zum Ausnahmepianisten sehr gut beobachten konnte - so etwas käme in diesem Ausmaß nur selten vor.....
    Ich gehe davon aus, daß Brendels (wie auch Kempffs) Reputation als Ausnahmeerscheinung für die nächsten hundert Jahre gesichert erscheint.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich empfinde es als befriedigend und subjektiv sehr beruhigend, dass hier mehrere Reaktionen auf den Beitrag von Melante erfolgten, die das Bild, das er darin von Alfred Brendel skizzierte, zurechtrücken.
    Ich gestehe, dass ich das, was Melante zu Brendels Klavierspiel äußerte, als ganz und gar unangebracht und in der Sache unzutreffend betrachtete. Was ist da in ihn gefahren, habe ich mich gefragt. Wollte er einfach nur einmal provozieren? Das allgemeine Urteil über den Pianisten Brendel einmal infrage stellen?


    Pianistische Brillanz war niemals das, was Brendel anstrebte, - unabhängig von der Frage, ob er überhaupt das handwerkliche Zeug dazu hatte. Er war von Anfang an ein hochgradig reflektierter, auf die Ergründung der Tiefendimensionen des musikalischen Werkes ausgerichteter Pianist. Joachim Kaiser bescheinigte ihm, völlig zu Recht, "ungewöhnlich hohe musikalische Intelligenz". Was er, vielleicht zeitbedingt, nicht genügend hervorhob, war die ebenso hoch entwickelte Musikalität, über die Brendel verfügt, und die eigentlich erst später, als er seine volle pianistische Reife erlangt hatte, voll zur Geltung kam. Man kann sie in seinem Schubert-Spiel, den Sonaten, aber vor allem etwa in den "Moments musicaux" D 780, in höchst beeindruckender Weise erleben. Wenn man - wie ich viele Male - Alfred Brendel im Konzert erlebte, fühlte man sich in diese Haltung des interpretatorischen Sich-Vertiefens, man möchte fast sagen Sich-Eingrabens in das jeweilige musikalische Werk regelrecht einbezogen.


    Etwas Ähnliches habe ich im Konzert nur noch einmal bei Swjatoslav Richter in seiner Schubert-Interpretation erlebt. Aber interessant ist der Vergleich: Bei ihm war es eher eine meditativ-suchende Auslotung der Klaviermusik Schuberts, bei Brendel hingegen, vor allem in den späten Sonaten Schuberts, eine um Erkenntnis und den adäquaten Ausdruck derselben ringende. Und das vermag den Hörer in Bann zu schlagen und ihm bislang unbekannte Tiefen des musikalischen Werks zu erschließen.


    Aber nein! Handwerkliche Perfektion und Brillanz haben noch niemals einen Pianisten zu einem Großen seines Fachs gemacht. Wäre dem so, wir könnten uns heutzutage - angesichts der vielen handwerklich spektakulären Jungstars aus fernem Osten - gar nicht mehr retten vor "Großen Pianisten".

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  • Lieber Helmut,


    wie Du andernorts vielleicht gelesen hat, reagiere ich eher allergisch auf Provokationen und hatte wirklich nicht vor, hier meinerseits eine solche einzuwerfen.
    Allerdings unterliegen wir beide manchmal derselben Schwäche und schreiben wo wir schweigen sollten...
    Und so hat mich hier übermannt, zu Brendel zu schreiben.


    Klar dürfte sein, dass ich technische Brillianz auch nicht meine, wenn ich an Brendels Sockel rüttle.
    Bin ganz Deiner Meinung, was "Youngstars" betrifft.


    Meine Ablehung Brendels rührt ja auch viel tiefer.
    Die in Worte zu fassen, das gestehe ich ein, fällt mir schwer.
    Mir gelingt nicht, in Brendels Versuchen die Tiefe der Komposition auslotend zu hören, ich bleibe immer daran hängen, dass ich den Eindruck habe, er suchte danach, sich selbst zu erforschen und nutzt dazu das Mittel der Interpretation von Werken Schuberts oder Beethovens.


    Es tut mir leid, konkreter kann ich das kaum fassen: er selbst scheint mir im Mittelpunkt zu stehen, nicht der Komponist, nicht das Werk.
    Ich nehme bei ihm eine gewisse Art von Egozentrik wahr, die sich selbst zu suchen geneigt ist.


    Mein Beitrag war vielleicht provokant formuliert, gemeint war er nicht so.
    Seit über vierzig Jahren quäle ich mich rum mit Brendel- und höre immer nur ihn. Nie das, was ich zu hören erwarte, wenn ich Beethoven zu hören wünsche.
    Will Haydn hören - und höre Brendel. Will Mozart hören - und höre Brendel. Will Beethoven hören - und höre Brendel. Will Schubert hören - und höre Brendel.
    Und weiß, dass Erwartungen so eine Sache sind....
    dann aber weniger zu hören als die geringste meiner Erwartungen meiner Vorstellungskraft, das ist dann Brendel.
    Der weltumfassende Aussagen zurechtstutzt auf seine Fähigkeit, sie auszudrücken.


    Vor ein paar Tagen hörte ich Samuil Feinberg mit Beethovens op.109- und Feinberg reduziert nicht auf das "kleine Maß" des Pianisten, sondern lässt dem Zuhörer, mir, Raum. Raum und Zeit und eine Aussage, die sich entwickelt.
    Nicht so... ja, eben so gestutzt wie Brendel sie mir an den Mann zu bringen versucht.


    Womöglich liest sich das arrogant: ich habe selbst eine Vorstellung von op.109. Und genieße es, wenn deren Rahmen gesprengt wird.
    Ich schätze aber wenig, wenn er reduziert wird auf das Maß des Pianisten.
    Das macht für mich den Unterschied aus zwischen Feinberg und Brendel.
    Und war nicht Provokation um ihrer selbst willen. Eher der Versuch zur Öffnung zum geradezu unbegreiflichen Reichtum der Musik.


    Vielleicht konnte ich ein wenig zurechtrücken und erklären, was ich meine? Sowenig wichtig ist, was ich meine.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Zitat

    Melante: Mir gelingt nicht, in Brendels Versuchen die Tiefe der Komposition auslotend zu hören, ich bleibe immer daran hängen, dass ich den Eindruck habe, er suchte danach, sich selbst zu erforschen und nutzt dazu das Mittel der Interpretation von Werken Schuberts oder Beethovens.


    Lieber Mike,


    vielleicht unterliegst du einem Irrtum. Ich weiß nicht, wie oft du Alfred Brendel schon live in einem Konzert erlebt hast, aber das ist eigentlich auch zweitrangig. Was ich meine, ist eigentlich etwas Anderes. Ein Pianist, der nicht sein Leben lang auf der Suche ist, und zwar nicht nach sich selbst, sondern nach der letztendlich gültigen Interpretation, der hat seinen Beruf verfehlt. Sogar in meinem Beruf als Lehrer habe ich mich in meinen 42 Berufsjahren immer wieder hinterfragt, was die Didaktik und Methodik meines Unterrichts betraf.
    In meiner Tätigkeit in den Beethoven-Sonatenthreads habe ich, da ich alle Sonaten-Aufnahmen Brendels in meiner Sammlung habe, festgestellt, dass er vor allem in der temporalen Gestaltung seiner Interpretationen in etlichen Aufnahmen seiner insgesamt drei Gesamtaufnahmen (Anfang 60er Jahre, Mitte 70er Jahre, Anfang bis Mitte 90er Jahre) zu der in der ersten Gesamtaufnahme (über die er später nicht so gut gesprochen hat) praktizierten Satzzeiten nach der in den 70er Jahren abweichenden Satzzeiten in der dritten GA in den 90er Jahren zurückgekehrt ist. Er war also in all diesen Jahren auf der Suche nach dem richtigen Tempo, wobei aber in der ganzen Zeit die Tiefe des musikalischen Ausdrucks sowie seine Abgeklärtheit zweifellos zugenommen haben.
    Also wenn man nichts mehr sucht, glaubt man, schon alles gefunden zu haben, und das ist sicherlich im Beruf des musikalischen Interpreten kontraproduktiv. Das kann ich sogar als Hobby-Chortenor in meiner mehr als 50jörigen Chorpraxis bestätigen.


    Liebe Grüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Zit.: "Vielleicht konnte ich ein wenig zurechtrücken und erklären, was ich meine?"

    Ja, das konntest Du, lieber Mike. Jedenfalls glaube ich jetzt eher zu verstehen, aus welcher Haltung heraus Dein Beitrag zu Alfred Brendel kommt. Bitte nimm mir den Gedanken nicht übel, es sei Dir um ein provokatives In-Frage-Stellen des Brendel-Bildes gegangen.
    Aber wenn Du bei Brendel den Eindruck hattest, "er selbst scheint mir im Mittelpunkt zu stehen, nicht der Komponist, nicht das Werk", so muss ich gestehen, dass ich das nicht zu teilen vermag. Gewiss, Brendel ist ein permanent Suchender, er ist ein hochgradig reflektierter Künstler und Pianist, aber - William B.A. hat schon darauf hingewiesen - diese Suche gilt bei ihm ausschließlich dem Werk, in gar keiner Weise der eigenen Person.

  • Mir gelingt nicht, in Brendels Versuchen die Tiefe der Komposition auslotend zu hören, ich bleibe immer daran hängen, dass ich den Eindruck habe, er suchte danach, sich selbst zu erforschen und nutzt dazu das Mittel der Interpretation von Werken Schuberts oder Beethovens.

    Jeder wirklich ganz große Interpret, lieber Mike, sucht bei der Interpretation eines Komponisten nach sich selbst. Beides - die Suche nach dem Kern des Werkes und die Selbstsuche konvergiert in einer "großen" Interpretation, gerade auch bei Brendel (ziemlich unbestreitbar!) finde ich. Wer sich selbst in einer Musik nicht sucht, würde ich entgegnen, bleibt an der Oberfläche dieser Musik.



    Es tut mir leid, konkreter kann ich das kaum fassen: er selbst scheint mir im Mittelpunkt zu stehen, nicht der Komponist, nicht das Werk.
    Ich nehme bei ihm eine gewisse Art von Egozentrik wahr, die sich selbst zu suchen geneigt ist.

    Den Eindruck hatte ich bei Brendel wirklich nie. Auch hier habe ich eine andere Erwartung: Ich will nicht einfach Schubert, sondern den Brendel-Schubert, Richter-Schubert oder Pollini-Schubert hören - weil jeder von ihnen etwas ganz und gar Unverwechselbares und für mich Wertvolles und ansonsten Unhörbares zu sagen hat. :hello:


    Schöne Sonntagsgrüße
    Holger

  • er selbst scheint mir im Mittelpunkt zu stehen, nicht der Komponist, nicht das Werk.
    Ich nehme bei ihm eine gewisse Art von Egozentrik wahr, die sich selbst zu suchen geneigt ist. [...]


    Seit über vierzig Jahren quäle ich mich rum mit Brendel- und höre immer nur ihn. Nie das, was ich zu hören erwarte, wenn ich Beethoven zu hören wünsche.
    Will Haydn hören - und höre Brendel. Will Mozart hören - und höre Brendel. Will Beethoven hören - und höre Brendel. Will Schubert hören - und höre Brendel.


    Lieber Mike, ich gebe zu, von Brendel bewusst nur seinen Schubert und seinen Beethoven zu kennen - dennoch meine ich aber nachvollziehen zu können, was Du meinst. Meinem Eindruck nach scheint er zu Schubert oft einen geradezu ideal wirkenden Zugang zu finden und das auch artikulieren zu können, wohingegen ihm das bei Beethoven recht häufig nicht gelingt - scheinbar, weil er nicht aus seiner charakterlichen Haut kann. Kurz und verallgemeinernd auf einen Satz verkürzt: auch sein Beethoven hört sich für meine Ohren ständig nach Schubert an.


    Das Gefühl allerdings, daß dem ein übergroßes Ego des Pianisten Brendel zugrunde läge, hatte ich noch zu keinem Zeitpunkt. Natürlich kommt hier neben / mit seinen künstlerischen Vorstellungen auch seine Persönlichkeit zum tragen, aber daß er dieselbe zuungunsten des Werks in den Vordergrund stellen wollte, halte ich den mir bekannten Einspielungen nach eigentlich für ausgeschlossen.

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  • Ich weiß nicht, ob irgendjemand der hier diskutierenden, Den Einführungsbeitrag aus dem Jahre 2004 gelesen hat. Damals schrieb ich über Brendels Bedeutung und Reputation:

    Zitat

    Ich kannte übrigens bisher nur einen Künstler, der ähnlich konkurrenzlos dastand wie Brendel, und das war......Karajan.


    Und schon damals machtw ich mir Gedanken darüber, ob Brendel am Ende seiner Karriere, seines Lebens, oder danach das gleiche Schicksal treffen würde wie einst Karajan: Der Sakrosankte, dem sich kaum jemand zu widersprechen getraute, wurde plötzlich hinterfragt, und es folgten Versuche eine Legende zu demontieren - wie man weiß ohne Erfolg.
    Lebende Legenden und Dirigentengötter, sowie Ausnahmepianisten, werden insgeheim gehasst, man verzeiht ihnen in der Regel ihre unanfechtbare Vormachtsstellung nicht. Und Alfred Brendel ist - ex equo mit Paul Badura-Skoda - wohl DER prägende "Wiener Klassikpianist" unserer Tage....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Und Alfred Brendel ist - ex equo mit Paul Badura-Skoda - wohl DER prägende "Wiener Klassikpianist" unserer Tage....


    Lieber Alfred,


    da würde ich aber zumindest noch Rudolf Buchbinder mit dazunehmen ... ansonsten denke ich auch, dass es ganz normal ist, wenn ein über weite Strecken stark hervortretender Künstler auch immer wieder hinterfragt wird - ohne dass dies in eine destruktive Demontage münden muss - und dass, im Gegenteil, im Feuer der Kritik seine Stärken und Meriten noch deutlicher zutage treten. Für mich jedenfalls ist Alfred Brendel in der Tat einer der ganz großen, prägenden Pianisten, der äußerst reflektierte und tiefsinnige, dabei immer auch sehr klangschöne Interpretationen vorgelegt hat.

  • Auf jede einzelne Eurer Antworten kann ich nun nicht eingehen. Nur soviel: Brendel zu "demontieren" war nicht meine Absicht.
    Ihn in eine Reihe mit Karajan zu stellen, wünschte ich ebensowenig.


    Mir ging es allein um eine subjektive Stellungnahme.


    Ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit Brendel: das Mozartsche KV 488 unter Marriner.
    Da war ich noch ein Knäblein - und empfand sowohl seinen als auch Marriners Zugang zu statisch, um diesem Konzert gerecht zu werden.
    Damals hatte ich noch kaum Vergleichsaufnahmen: Annerose Schmidt/Masur und Ivan Moravec/ Vlach - letztere kamen meiner Vorstellung sehr viel näher, erstgenannte erschien mir damals misslungen.
    Mein "Mozart-Glück" fand ich dann bei Casadesus und Szell, insbesondere bei diesem Konzert.


    Ihr schreibt, Brendel sei ein Suchender - als Interpret. Ich blieb und bin das als Hörender ebenso, nur gingen meine Hörwege in andere Richtungen als die Brendelschen Auseinandersetzungen. Und immer wieder hörte ich mir Neuaufnahmen an, wie auch die Karajans, und die Schere wurde stetig weiter.
    Wobei ich eingestehe, dass die Beschäftigung mit HIP mein ästethisches Empfinden nachhaltig beeinflusst hat.
    Casadesus und Szell aber bleiben für mich unerreicht bei Mozart!


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Beides - die Suche nach dem Kern des Werkes und die Selbstsuche konvergiert in einer "großen" Interpretation, gerade auch bei Brendel (ziemlich unbestreitbar!) finde ich. Wer sich selbst in einer Musik nicht sucht, würde ich entgegnen, bleibt an der Oberfläche dieser Musik.

    Genau das ist es ja, lieber Holger! Das ist schon fast wie im christlichen Glauben: Je stärker man bewusst dem musikalischen Werk dienen will, je mehr das eitle Ich hinter das Werk zurücktritt, je mehr man also darauf verzichten will, die Musik als Steigbügel für eine billige und peinliche Selbstdarstellung zu missbrauchen, desto mehr findet man scheinbar paradoxerweise zu "sich selbst", bzw. zum sehr individuellen Ausdruck seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit. Irgendwie scheint mir das auch logisch nachvollziehbar zu sein: Die in eine sehr gerüsthafte Notenschrift eingefrorene Musik muss nicht nur manuell durch die Finger des Pianisten gehen, sondern eben durch seine ganze Person, oder auch durch seine Seele ( für diejenigen, die wie ich an eine solche glauben), d.h. das Materlial durchläuft die Ebenen Verstand, Wille und Gefühl.



    Auch hier habe ich eine andere Erwartung: Ich will nicht einfach Schubert, sondern den Brendel-Schubert, Richter-Schubert oder Pollini-Schubert hören - weil jeder von ihnen etwas ganz und gar Unverwechselbares und für mich Wertvolles und ansonsten Unhörbares zu sagen hat.

    Auch hier wieder volle Zustimmung! Wie ich schon früher ausführte, würde sich ein "Schubert-Schubert" jedes Mal, wenn er es spielt, durchaus unterschiedlich, vielleicht sogar ziemlich unterschiedlich anhören.
    Ebenso habe ich schon selbst erlebt, wie ein Interpret die Noten eines Komponisten sogar "besser" interpretierte, als der Komponist selbst, was der anwesende Komponist dann sogar von sich aus sagte. Es kann sein, dass das Werk noch viel mehr Aspekte und Tiefenschichten enthält, die dem Komponisten beim Schreiben erst gar nicht bewusst waren.
    Wenn ein Komponist sein eigenes Werk aufführt, dann ist er auch "nur" ein Interpret, der seine Interpretation meistens verändern und anpassen wird, und der noch nicht einmal immer der beste aller Interpreten für das Werk sein muss, dann ein Kunstwerk beginnt recht schnell, ein Eigenleben zu führen. Im Gegensatz zum "nur-Interpreten" könnte der Komponist aber sagen: " Hier, in Takt 37, da will ich das jetzt nicht mehr so hören. Mir kommt für die Stelle jetzt eine bessere Idee". Wer sich ein bisschen in Musikgeschichte auskennt, der weiß auch, dass Komponisten oft dieses Recht ausübten, was natürlich einem Interpreten untersagt bleibt.


    Bach hat ja den Eingangschor von BWV 171 "Gott, wie Dein Name, so ist auch Dein Ruhm" als Grundlage für Satz 2 aus dem Symbolum Nicenom der h-moll-Messe genommen (Patrem omnipotentem) hergenommen und dabei nicht nur Anpassungen vorgenommen, sondern - wie ich finde - auch echte Verbesserungen.


    Schumann hat seine vierte Symphonie in einer späteren Phase noch einmal überarbeitet. Rattle meint, er hätte sie - vereinfacht ausgedrückt - verschlimmbessert, was auf seinen trüben Gemütszustand zurückzuführen sei. Hier bin ich jedoch nicht einig. Mich überzeugt auch von der Schlüssigkeit die dunklere letzte Version der Symphonie mehr.


    Von Bruckners Verbesserungswahn will ich jetzt nicht anfangen.....


    Ich erwähne diese Beispiele, um gegen diese Sakrosankte "ich will nur Beethoven hören, nicht....." zu argumentieren.
    Die Komponisten selbst sahen nicht einmal ihre eigenen Noten als sakrosankt an - wieviel weniger könnte dann eine Interpretation "nichts anderes als Schubert" sein, wenn doch der Interpret Schubert selbst im März die Sonate noch ganz anders spielte, als im Dezember?


    Je mehr nun ein Interpret ganz uneitel zu erfühlen versucht, was das Werk und der künstlerische Aussagewille des Komponisten uns mitzuteilen hat, dann wird er auf seiner Suche zwangsläufig auf das Mitschwingen der Stränge seiner eigenen Seele stoßen. Das, was ihm selbst als die stimmigste und beste Lösung für eine Interpretation vorkommt, ist gleichzeitig auch ein Abbild seines inneren musikalischen Ichs.


    Deswegen will auch ich ausschließlich einen Schubert-Brendel, Schubert-Uchida, Brahms-Lupu........usw. hören. Wenn sie es gut machen - und diese Leute machen ihre Sache wirklich gut - dann habe ich im Moment des Hörens das Gefühl, dass ich tatsächlich "nur Schubert" oder "nur Brahms" höre, obwohl das natürlich nicht so ist. Dieses Phänomen nennt sich überzeugende Interpretation und ist sowohl vom Interpreten als auch vom Hörer abhängig. Nicht nur die Interpreten verändern ihre Interpretationen, sondern auch der Hörer verändert im Laufe des Lebens seine Empfindung für jenes "überzeugte Gefühl".
    Bei Beethoven geschieht bei mir gerade etwas radikal Spannendes: Ich höre aufgrund einer Hifi-Neuanschaffung die Blue-rays der Symphonien mit Thielemann im 7.1.-Sound und habe auch den Bildschirm durch einen Absorber zugestellt, so dass ich nicht von der Gestik des Dirigenten oder den so oder so aussehenden Musikern abgelenkt werde. Durch dieses noch viel intensivere "mit den Ohren sehen" haben mich der Interpret Thielemann und der Klangkörper Wiener Philharmoniker noch viel viel mehr überzeugen können, als je zuvor. Nie hätte ich für möglich gehalten, sogar die Dritte der Karajan-Version vorzuziehen. Je länger ich mich mit der Gefühlswelt (oder sagen wir besser : mit der Ästhetik) dieses Dirigenten auseinandersetze, desto mehr verstehen ich im Bereich des oft kaum in Worte zu fassenden, was er überhaupt will, sowohl als Interpret, als auch vom Klangideal her, welches ja auch ein Teil der Interpretation ist. Das was er will, das mag ich, eben weil es mich überzeugt. Im Moment des Hörens ist das dann für mich "einfach nur Beethoven". Es war früher nicht bei jeder Symphonie so, aber heutzutage brauchen nur ein paar Takte zu vergehen, dann "hat er mich....".
    Man verzeihe mir die Abschweifung, aber ich erwähne es, um zu verdeutlichen, wie man auch als Hörer - Gott sei`s gedankt- seine Meinung über der Musik entsprechende, wahrhaft "authentische" Interpretationen ändern kann.


    Noch eine Bemerkung zur pianistischen Technik bei Alfred Brendel:


    Es ist eine Falschannahme zu denken, dass die Klaviertechnik sich in erster Linie im möglichst sicheren und schnellen Treffen von Tönen erschöpft.
    Viel schwerer kann es sein, eine einfache Tonfolge singend zu spielen, ein Staccato wie ein duftiges Pizzicato klingen zu lassen, eine Melodie nach Oboe klingen zu lassen, bei Tutti-Aufbrausungen (Wanderer Phantasie) das Klavier wie ein Symphonieorchester klingen zu lassen.
    Die Pedaltechnik kann unendlich schwer sein. Ein großer Pianist spielt aus meiner Sicht nicht Klavier, sondern er macht Musik, d.h. er benutzt die klanglichen und sonstigen Mittel des Flügels, um die Begrenzungen des Instruments vergessen zu machen. Man kann es am Legatospiel sehen: Eigentlich ist so eine Melodielinie auf einem Klavier nichts Anderes, als eine Folge von Akzenten. Wenn man sich die Wav-Dateien im Audio-Editor einer Harddiskrecording-Software ansieht, dann erkennt man auch, dass es faktisch so ist. Doch der Pianist als Bediener eines an sich neutralen und sich klanglich mit dem Orchester nicht mischenden Instruments kann dann wirklich etwas, wenn beim Hörer eine Gesangslinie ankommt, wie von einer Sopranistin, einer Klarinette oder einer Orgel.


    Bei einer Fuge, aber auch bei Schuberts Impromptu kommt es z.B. darauf an, die lautstärkemäßige "Abmischung" der einzelnen Stimmen gut zu gestalten, was oft viel schwerer ist, als schnell zu spielen.
    Auch bei Mozart, Beethoven oder Schubert wird ständig gefordert, dass Du die Begleitfiguren als vibrierenden Teppich spielst, über den sich dann die Kantilenen entfalten können.
    Es gäbe noch so viel mehr zur Pianistentechnik zu schreiben. Eines ist jedoch sicher: All diese Dinge können sehr schwer sein. So manche beeindrucken Passagen sind gar nicht so schwer, während andere Dinge, die dem Publikum überhaupt erst auffallen, wenn sie danebengehen, oft sehr schwer sein können.


    Brendel konnte bei diesen Dingen nicht nur gut mithalten, sondern hier war er ein Großmeister!
    Außerdem möchte ich doch einmal betonen, dass auch Brendel sehr schnell und sicher spielen konnte! Bei den schubertschen Impromptus gibt es da schon Einiges. Die Wandererphantasie ist sehr sehr schwer, die h-moll-Sonate von Liszt ebenfalls, die ganzen Beethoven-Sonaten (nicht nur op. 111...) sind ein Lebenswerk für sich, die Klavierkonzerte von Brahms können einem mit den Oktavtrillern als unspielbar vorkommen ........ auch die Klavierkonzerte von Beethoven empfinde ich nun nicht als gerade "leicht".
    Wer ein langes Pianistenleben lang nicht nur durchgekommen ist, sondern - wie Alfred schon richtig erwähnte - als einer der ganz großen Kapazitäten der Wiener Klassik sehr zu recht gilt, der musste schon ein paar Töne treffen können und auch diese auf eine Art auch unsägliche Sache mit dem Zwang des Auswendigspielen und den Stahlnerven beherrscht haben. Brendel hat sich nicht durch sein Piano-Leben hindurchgeholpert! Und mit jenen, die auf dem Hammerklavier ein indiskutabel unkultiviertes Geklimper als wertvollen Originalklang hinstellen, kann man ihn schon gar nicht in einem Atemzug nennen (ich weiß, dass es auch gute Leute auf dem Hammerklavier gibt, falls das jemanden zu Reaktionen anstacheln sollte...).
    Dass er kein "Chopin-Drescher" war, kann ich ihm nicht verübeln. Ich kann mich an einen Fernsehfilm erinnern, wo der sehr gute und natürlich auch seriöse Richter seinen Selbsthass auf die Chopindrescherei zum Ausdruck gab. Vom Pollini kann ich die Etuden ganz gut hören, aber das ist ein anderes Thema.


    Vor einigen Tagen hörte ich etwas von den "Farewell-CDs" des Pianisten. Die CD lief und ich war erst noch dabei, auf den Computerbildschirm zu schauen. Nach einigen Tönen merkte ich, wie sich in meinem Inneren etwas tat, wie sich etwas "hineinsenkte", wie ich berührt wurde. Natürlich habe ich mich vom PC abgewandt und der Musik gelauscht. Nicht so viele Pianisten können mich in ihren besten Momenten derart berühren. Brendel konnte es. Aus diesen - und aus vielen Gründen mehr - ist er einer meiner ganz großen Lieblingspianisten, und wird es wohl auch immer bleiben.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Glockenton: „Genau das ist es ja, lieber Holger! Das ist schon fast wie im christlichen Glauben: Je stärker man bewusst dem musikalischen Werk dienen will, je mehr das eitle Ich hinter das Werk zurücktritt, je mehr man also darauf verzichten will, die Musik als Steigbügel für eine billige und peinliche Selbstdarstellung zu missbrauchen, desto mehr findet man scheinbar paradoxerweise zu "sich selbst", bzw. zum sehr individuellen Ausdruck seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit."


    An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal aus der Sicht des ernsthaften Laienmusikers einbringen und auf eine erst gerade zurückliegende Zeit Bezug nehmen, die Weihnachtszeit.
    Viele Laienchöre, auch der unsrige, haben Bachs Weihnachtsoratorium aufgeführt, und in dieser Weihnachtszeit haben wir einige signifikante Choräle wieder in unser Weihnachtsrepertoire aufgenommen.
    Und ich empfinde das, was du sagtest, lieber Glockenton, auch für meine Person, als zutreffend.
    Meine Intention in der Interpretation der Bachschen WO-Choräle, in denen sozusagen das einfache Volk zu Worte kommt, ist es, der Wahrhaftigkeit des Wortes in der musikalischen Interpretation nahe zu kommen.
    Unser Dirigent drückte es einmal so aus: „Die Leute müssen es glauben, was ihr singt“. Genau das ist es, ob auf unserer bescheidenen Laienebene oder auf der Ebene der musikalischen Champions-League.
    Und wenn ich in meiner eigenen Aufführung diesen intensiven Schauer erlebe, oder wenn ich bei Alfred Brendel oder Radu Lupu weinen muss, dann ist genau das geschehen. Dann spricht der Komponist durch den Interpreten zu uns, und wir empfinden das auf diese Weise oder auch anders.


    Wenn wir das nicht so empfinden, dann ist - vermutlich auf der Interpretenebene - etwas schief gelaufen.


    Liebe Grüße


    Willi :rolleyes:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Je stärker man bewusst dem musikalischen Werk dienen will, je mehr das eitle Ich hinter das Werk zurücktritt, je mehr man also darauf verzichten will, die Musik als Steigbügel für eine billige und peinliche Selbstdarstellung zu missbrauchen, desto mehr findet man scheinbar paradoxerweise zu "sich selbst", bzw. zum sehr individuellen Ausdruck seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit. Irgendwie scheint mir das auch logisch nachvollziehbar zu sein: Die in eine sehr gerüsthafte Notenschrift eingefrorene Musik muss nicht nur manuell durch die Finger des Pianisten gehen, sondern eben durch seine ganze Person, oder auch durch seine Seele ( für diejenigen, die wie ich an eine solche glauben), d.h. das Materlial durchläuft die Ebenen Verstand, Wille und Gefühl.

    Lieber Glockenton,


    Dein Beitrag war wieder einmal wunderbar geistreich und ein Vergnügen zu lesen! Die Vorstellung, dass ein Künstler (oder Regisseur :D ) wenn er eine "persönliche" Botschaft hat, nur Selbstdarstellung betreibt, ist letztlich üble Nachrede. Gerne vergessen wir: Zu Zeiten eines Ignaz Jan Paderewski oder Ferruccio Busoni (also Ende des 19., Anfang des 20. Jhd.) hat man andere Qualitäten von einem Interpreten erwartet, nämlich dass er sich gerade nicht hinter dem "Werk" versteckt, sondern ein sehr persönlichen "Stil" des Vortrags entwickelt. Das hat man gerade nicht so verstanden (und muß es auch nicht so verstehen), als sei das künstlerischer Narzismus. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß - hier "neue Sachlichkeit" und da romantizistische Willkür. Auch vergessen wir gerne, dass ein Werk nicht ein Singulum darstellt in einer großen Leere drumherum. Es ist natürlich auch die Aufgabe eines Interpreten, sich Gedanken zu machen, wie das einzelne Werk im Kontext des Gesamtwerkes steht oder auch in der Musikgeschichte. Wenn Brendel Bezüge von Schubert zu Mozart entdeckt, dann hat er mit dieser Entdeckung absolut Recht, genauso wie man Brahms rückblickend von Debussy oder Schönberg aus beleuchten und so neue Seiten an ihm entdecken kann. Das Werk ist keine metaphysische "Substanz", kein unwandelbarer toter Betonklotz, sondern verändert sich in seinem Gehalt lebendig-flexibel in seiner Interpretationsgeschichte.



    Wenn ein Komponist sein eigenes Werk aufführt, dann ist er auch "nur" ein Interpret, der seine Interpretation meistens verändern und anpassen wird, und der noch nicht einmal immer der beste aller Interpreten für das Werk sein muss, dann ein Kunstwerk beginnt recht schnell, ein Eigenleben zu führen. Im Gegensatz zum "nur-Interpreten" könnte der Komponist aber sagen: " Hier, in Takt 37, da will ich das jetzt nicht mehr so hören. Mir kommt für die Stelle jetzt eine bessere Idee". Wer sich ein bisschen in Musikgeschichte auskennt, der weiß auch, dass Komponisten oft dieses Recht ausübten, was natürlich einem Interpreten untersagt bleibt.

    So habe ich auch immer gedacht! :)



    Nie hätte ich für möglich gehalten, sogar die Dritte der Karajan-Version vorzuziehen. Je länger ich mich mit der Gefühlswelt (oder sagen wir besser : mit der Ästhetik) dieses Dirigenten auseinandersetze, desto mehr verstehen ich im Bereich des oft kaum in Worte zu fassenden, was er überhaupt will, sowohl als Interpret, als auch vom Klangideal her, welches ja auch ein Teil der Interpretation ist. Das was er will, das mag ich, eben weil es mich überzeugt. Im Moment des Hörens ist das dann für mich "einfach nur Beethoven". Es war früher nicht bei jeder Symphonie so, aber heutzutage brauchen nur ein paar Takte zu vergehen, dann "hat er mich....".

    Mir ist es auch so ergangen - wenn man eine "ideale" Symbiose von Werk und Intepretation vor sich hat, dann unterscheidet man nicht mehr, wer da spricht: der Komponist oder Interpret.



    Es ist eine Falschanahme zu denken, dass die Klaviertechnik sich in erster Linie im möglichst sicheren und schnellen Treffen von Tönen erschöpft.
    Viel schwerer kann es sein, eine einfache Tonfolge singend zu spielen, ein Staccato wie ein duftiges Pizzikato klingen zu lassen, eine Melodie nach Oboe klingen zu lassen, bei Tutti-Aufbrausungen ( Wanderer Phantasie) das Klavier wie ein Symphonieorchester klingen zu lassen.

    Genau deshalb ist Brendel ein ganz Großer: Man kann an 7 Fingern abzählen, wer über eine vergleichbare Spielkultur verfügt! Das ist die eigentliche "Virtuosität", das Mechanische des Instruments vergessen zu lassen. Gilels sagte mal: Der Flügel ist ein Ungetüm, das man sich unterwerfen muß. Und das gelingt eben nur ganz wenigen. Gestern habe ich mal kurz Brendel angespielt bei jpc. Unglaublich, wie er den Beginn der Pastorale wirklich vollendet "aussingt". Einfach beglückend!



    Dass er kein "Chopin-Drescher" war, kann ich ihm nicht verübeln. Ich kann mich an einen Fernsehfilm erinnern, wo der sehr gute und natürlich auch seriöse Richter seinen Selbsthass auf die Chopindrescherei zum Ausdruck gab.

    Die Richter-Stelle habe ich jetzt nicht im Kopf. :D Brendel hat von Chopin immerhin das Virtuosenstück "Andante spianato und Polonaise" gespielt - und das wirklich sehr schön (darauf wies mich mein Lehrer und Freund hin, der selber Konzertpianist ist und seit Jahren eine Chopin-Konzertserie spielt)! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • ...jetzt muss ich doch nachfragen, ob hier nicht zwei verschiedene Dinge betrachtet werden.
    Diese Art Neuschöpfung eines Paderewski oder Busoni kommt aus meiner Sicht noch sehr aus der Tradition des 19.Jahrhundert und hat absolute Berechtigung - und meinen Beifall. Eine Tradition, die in den Jahrhunderten zuvor ja Musik erst zu solcher machte!
    Händel-Suiten zu spielen zwingt geradezu zum "Neuerfinden", da ja doch nur das Skelett notiert ist, das "Fleisch" muss improvisiert werden.
    Selbst von Beethoven kennt man autographe Notizen für eigene Aufführungen von Klavierkonzerten, die Varianten anbieten und Verzierungen im Vergleich zum gedruckten Notentext.
    Solche Verzierungen, Umspielungen - Freiheiten im Grunde - wünsche ich mir heute oft, sie zu hören!
    Der erste Ton von Beethovens viertem Klavierkonzert ist so ein Fall: man kann, was wenige tun, mit einem kleinen Akkord einsteigen, sich "reinschmuggeln" in den Satz. Oder diesen Ton so spielen wie Fleisher- mit einer Selbstverlorenheit und klanglichen und räumlichen Öffnung, dass er quasi zur Intitialzündung wird für ein ganzes Werk - ein Meisterwerk.
    Oder, selbes Konzert, zweiter Satz, diesen so besonderen Triller als Mittelpunkt des ganzen Konzerts zu nehmen, um danach geradezu in Schweigen zu verfallen - in so unsagbar beredtes wie Fleisher es tut, eine Einsamkeit auszudrucken, die erst mit Mühe und einem gewissen "Drauflos" im dritten Satz aufgefangen und relativiert wird.


    Ich erwähnte bereits Mozart mit Casadesus, hier Fleisher bei Beethoven, Feinberg mit op.109; die Grinberg mit der für mich einzig gelungen Aufnahme der op.90 ... ich bin ja gar nicht so fixiert darauf, dass einer nun alles kann und können muss.


    Was mich aber wirklich irritiert, ist die Aussage des "Chopin-Dreschens"- was verstehe ich da falsch?
    Sind diese kleinen Charakterstücke nicht Universen an Schönheit, auch feiner Arbeit an Nebenstimmen, voller Atmosphäre und Tiefsinn?
    Jedes für sich ein kleines Wunder, ganz spezielle Stimmungen zu vermitteln, völlig zeitlos und poetisch?
    Ja vielleicht Musik, die man schnell "zerdreschen" kann und das von vielen Pianisten auch erfolgreich praktiziert wird - müsste nicht Brendel nach allem, was hier zu lesen ist, der perfekte Chopin-Interpret sein?
    So wie Ihr Brendel versteht und ich Chopin - oder eben doch andersherum?


    Mit Bitte um Erklärung:
    Mike

  • Unter einem Chopin-Drescher (ein Intern-Jargon unter Klavierpädagogen) versteht man jemanden, der die Etuden laut, unkultiviert, empfindungsarm aber schnell herunterdrischt. Ich hatte in alten Teenager-Tagen so einen noch relativ jungen Aushilfslehrer an der Musikschule. Statt mich zu unterrichten, übte er die Chopin C-Dur Etude Stunde für Stunde (angeblich um mir technische Probleme zu erklären, die auch mich betrafen), benutzte ein schweres Parfum und gab offen zu, dass er mit seiner Drescherei (von mir auch Klavier-Husarentum genannt) vor allem gerne die Frauen beeindrucken wolle, sozusagen als Preludium für darauffolgende nähere Verwicklungen....


    Ausser Chopin spielte er sonst eigentlich keinen Komponisten. Wenn ich ihm mit meinem Bach ankam, dann wurde er genervt, was man an einem gewissen agressiven Anschlag merkte, mit dem er die Bachnoten herunterhämmerte. Dann kam er wieder auf ein technisches Problem beim Bach und zeigte mir die Lösung anhand einer Chopin-Etude.....


    Chopin wird von solchen Beeindrucker-Typen, die von mir nicht wirklich als ernsthafte Künstler wahrgenommen werden, gerne hergenommen. Erst als ich dann - nach einigen Jahren Chopin-Hassens - die Etuden in einer Aufnahme mit Pollini hörte, verstand der junge Mensch, dass es auch anders geht. Im Laufe meines Lebens habe ich dann noch mehrere Piano-Ritter dieser oder ähnlicher Art kennenlernen müssen.


    Chopin hat wunderbare kleine Preludes und andere Stücke geschrieben, die ich später dann auch im Fach "Romantische Satzlehre" eingehend harmonisch analysieren durfte. Diese Kostbarkeiten meinte ich nicht. Ebenso möchte ich nichts grundsätzlich gegen seine Etuden (bei aller technischer Ausbeute, die der Klavierstudent daraus ziehen kann) sagen. Wenn ein richtiger Künstler darangeht, der dann auch noch wahnsinnig gut Klavier spielen kann (wie Pollini), dann kann es sehr schön sein, das zu hören.


    Mit Brendel hat das alles nur deshalb etwas zu tun, als er eben mit solchen "Dreschern" nichts, aber auch absolut gar nichts zu tun hat.
    Auch deswegen schätze ich ihn ja so. Wie ich aber im vorherigen Beitrag ausführte, muss man auch anerkennen, dass er durchaus über jedes klaviertechnisches Rüstzeug in vollem Umfang verfügte, wie man es als Weltklasse-Pianist eben so braucht. Wer einmal versucht hat, die Triller des zweiten Satzes der op.111 zu spielen, versteht vielleicht, wovon ich rede.


    Die bekannten, gewissen technischen Probleme des späten Kempff möchte ich mit Brendels technischen Möglichkeiten nicht verglichen sehen. Leider kenne ich Kempffs Biografie nicht so gut, aber ich habe einmal irgendwo (Youtube) einen Auschnitt gehört, bei dem er sich recht merkbar verhauen hat.
    Hierzu nur folgende Bemerkung: Klavierspiel ( und Orgelspiel noch mehr) ist unglaublich stark von der Konzentrationsfähigkeit abhängig. Du musst wirklich in jeder Sekunde voll da sein. Wenn du etwas Anspruchsvolles spielst (.....und Orgelwerke sind selten leicht) und nur den Bruchteil einer Sekunde nicht voll aufmerksam bist, dann kann der falsche Ton eben schon geschehen sein. Zu mehr als 3-4 Stunden intensivem Orgelüben ist mein Hirn/mein Körper einfach nicht fähig, was aber lt. Aussage von Professoren durchaus normal ist. Danach trifft man irgendwann immer mehr falsche Töne, bis mein einsieht, dass es nicht mehr geht.


    Beim Klavierspielen - gerade vor Publikum - ist es ähnlich. Du bist sehr von Deiner Konzentrationsfähigkeit abhängig, auch von einer inneren Ruhe und Klarheit. Das ist nicht immer so leicht, vor allem auch für den alternden Menschen.
    Wenn also "die Finger im Alter nicht mehr so wollen", dann hat das m.E. viel mit der im Alter eingeschränkteren Konzentrationsfähigkeit des Gehirns zu tun. Natürlich wird es dann ja noch schlimmer, wenn echte altersbedingte Knochenkrankheiten etc. hinzukommen. Auch der Rücken spielt eine wichtige Rolle. Brendel hat in den letzten Jahren aufgrund von Rückenproblemen bestimmte Werke aus dem Programm genommen, und das nicht etwa, weil er die mit dem Rücken gespielt hätte. Da ich gestern wieder 4 Stunden am Stück übte, verstehe ich das gut.


    Wie ich im heute-journal sah (war ich froh, dass das an dem Tag der Kleber gemacht hat....) , hat Brendel mittlerweile dem Klavier vollständig den Rücken gekehrt. Er erlitt vor einiger Zeit einen Hörsturz, mit der Folge, dass er die Musik nur noch verzerrt wahrnehmen kann. Da er nicht den vollen Klang des Pianos erleben kann, hat er sich entschlossen, auch privat mit dem Klavierspiel aufzuhören. Ich empfinde das als tragisch, aber so ist der Lauf der Dinge. Zur Ruhe gesetzt hat er sich jedoch nicht, denn er tritt ja als Vorleser seiner eigenen literarischen Werke auf.


    Uns bleibt die unglaubliche Bereicherung, die wir empfinden können, wenn wir uns seine Aufnahmen anhören.


    :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton,


    danke für Deine Antwort.


    Wieso aber wählst Du diese seltsame Form, unpersönlich und doch mittels "Du" zu antworten?


    Was (für mich) schön wäre: Du würdest Stellung beziehen statt Dich hinter grammatikalischen Winkelzügen zu verstecken.
    Statt von "wir" zu schreiben - wohin ich Dir, im "wir" notgedrungen eingebunden, eben nicht folgen kann.
    Liegt es an dieser "esoterischen Ebene", die ich nicht zu teilen vermag, sondern zunächst Wert darauf lege, das umzusetzen, was der Komponist notiert und damit fordert?


    Respekt für Deine Sicht des Transzendenten - aber existiert nicht doch auch eine sachliche Ebene?
    Nämlich zunächst die des Notierten? In der nun gerade Beethoven wegfand von den quasi formelhaften italienischen Bezeichnungen und, wie Telemann, ganz fein auf deutsch formulierte, was ihm wichtig war?
    Das alte Thema der Metronomangaben kommt hier wieder ins Spiel.


    Aus dem Spiel ist wohl Chopin hier, da Brendel nun eben um dessen Werk eher einen Bogen machte.


    Irgendwie erwartete ich nun gerade von Dir eine konkrete Antwort als das, Dich in Grammatik zu verkrümeln.


    Herzlich, aber mit der Bereicherung, Brendel nicht als "Goldenes Kalb" zu verstehen:
    Mike

  • Unter einem Chopin-Drescher (ein Intern-Jargon unter Klavierpädagogen) versteht man jemanden, der die Etuden laut, unkultiviert. empfindungsarm aber schnell herunterdrischt. Ich hatte in alten Teenager-Tagen so einen noch relativ jungen Aushilfslehrer an der Musikschule. Statt mich zu unterrichten, übte er die Chopin C-Dur Etude Stunde für Stunde (angeblich um mir technische Probleme zu erklären, die auch mich betrafen), benutze ein schweres Perfum und gab offen zu, dass er mit seiner Drescherei ( von mir auch Klavier-Husarentum genannt) vor allem gerne die Frauen beeindrucken wolle, sozusagen als Preludium für darauffolgende nähere Verwicklungen....


    Ausser Chopin spielte er sonst eigentlich keinen Komponisten. Wenn ich ihm mit meinem Bach ankam, dann wurde er genervt, was man an einem gewissen agressiven Anschlag merkte, mit dem er die Bachnoten herunterhämmerte. Dann kam er wieder auf ein technisches Problem beim Bach und zeigte mir die Lösung anhand einer Chopin-Etude.....

    Lieber Glockenton,


    die Etüde op. 10 Nr- 1 habe ich in meiner Jugend auch jeden Tag eine halbe Stunde geübt! Das ist "Hochleistungssport" - Dezimengriffe quer über die Tastatur. Wenn man nicht aufpaßt und verkrampft (ist mir natürlich auch passiert) und dann nicht rechtzeitig aufhört, kriegt man Sehnenscheidenentzündung. Heute nach Jahren ohne Fingertraining treffe ich nur noch einen Bruchteil der Töne. :( Im Unterricht habe ich immer diese Hanon- und Czerny-Etüden gehaßt. Das Zeug hat mir regelrecht das Klavierspielen verleidet - das ist einfach öde wie es öder nicht mehr geht. Dann kam Franz-Josef, als er mein Klavierlehrer wurde, auf die richtige Idee: Du spielst jetzt keine Czerny-Etüden mehr, sondern nur noch Chopin-Etüden. Die sind zwar unendlich viel schwerer, aber eben musikalisch so toll, dass es Spaß macht, selbst wenn man sich quält. Denn man hat eine "Herausforderung", die man gerne annimmt. Alfred Cortot (der spezielle Etüden zum Üben der Chopin-Etüden komponiert hat, vielleicht kennst Du sie) meinte richtig: Zu den Chopin-Etüden findet weder der Techniker ohne Musikalität, noch der Musiker ohne Technik einen Zugang. Musikalisch finde ich die Etüden einzigartig. Was Chopin erreicht hat, ist das "Technische" und Musikalische in vollkommenen Einklang zu bringen wie kein zweiter. Bei Pollinis Aufnahme von op. 10 Nr. 1 ist toll, dass man in diesem Tempo wirklich jeden einzelnen Ton heraushört. Das sind entwickelte Finger! Man kann es natürlich noch schneller spielen wie Cziffra in dieser atemberaubenden Improvisation, wo er sich warm spielt. Er spielt die Etüde ab 3.40 Min. komplett:



    Wobei man sagen muß: Der Über-Virtuose Cziffra wußte sehr genau, wo er seine überdimensionale Technik einsetzen durfte und wo nicht - er war eben auch ein ganz großer Musiker. (Ich habe seine kompletten Aufnahmen.) Seine Aufnahme der Chopin-Sonaten z.B. ist so gar nicht "gelisztet" und eher lyrisch, sein Beethoven regelrecht demütig bescheiden im totalen Verzicht auf jede Art virtuoser Mätzchen. Diese Virtuosengeneration alter Schule (das gilt auch für Cherkassky etwa) hatte noch wirklich Charakter. Das waren alles Klavierpoeten und keine Klavier-Mechanisten.



    Wie ich im heute-journal sah (war ich froh, dass das an dem Tag der Kleber gemacht hat....), hat Brendel mittlerweile dem Klavier vollständig den Rücken gekehrt. Er erlitt vor einiger Zeit einen Hörsturz, mit der Folge, dass er die Musik nur noch verzerrt wahrnehmen kann. Da er nicht den vollen Klang des Pianos erleben kann, hat er sich entschlossen, auch privat mit dem Klavierspiel aufzuhören. Ich empfinde das als tragisch, aber so ist der Lauf der Dinge. Zur Ruhe gesetzt hat er sich jedoch nicht, denn er tritt ja als Vorleser seiner eigenen literarischen Werke auf.

    Das wußte ich gar nicht - und es ist wirklich tragisch! Leider hat es da einige Pianisten erwischt - sei es die "Pianistenkrankheit" (Unbenutzbarkeit der rechten Hand) wie bei Michel Beroff oder Leon Fleisher, Alexis Weissenberg, der auch schon verstorben ist, bekam Parkinson. Bei Ashkenazy wunderte mich die fehlende "Durchschlagskraft" bei seiner letzten Scriabin-Aufnahme. Ein Freund erzählte mir kürzlich, dass er an Artrose leidet und er sich deshalb als Pianist stark zurücknehmen muß. Das erklärt dann vieles.



    Auch deswegen schätze ich ihn ja so. Wie ich aber im vorherigen Beitrag ausführte, muss man auch anerkennen, dass er durchaus über jedes klaviertechnisches Rüstzeug in vollem Umfang verfügte, wie man es als Weltklasse-Pianist eben so braucht. Wer einmal versucht hat, die Triller des zweiten Satzes der op.111 zu spielen, versteht vielleicht, wovon ich rede.

    Dieser Triller ist wirklich teuflisch - man muß ihn mit 4,5, also den kleinen Fingern, spielen und dann mit dem Daumen runter in die Quinte und Oktave. Jeder Pianist der Welt setzt da den Triller jeweils ab - nur Michelangeli nicht, der absolute "Trillerkönig" unter den Pianisten, er zieht ihn durch. Franz-Josefs Toningenieur hat ABMs Aufnahme mal in halbem Tempo abgespielt und über den Oszillographen abgebildet. Null Abweichung! Unfaßbar, aber wahr! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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