Ich verdanke diesem Dirigenten seit 1989 viele unvergessliche Konzerte und Opernaufführungen, und letzten Endes verdanke ich es ihm, dass ich seit vielen Jahren in Mikkeli, in Finnland lebe. Seinetwegen besuchte ich 1995 erstmals das Mikkeli Musik-Festival, wurde "privat verbandelt" mit einer Mitarbeiterin und sah es als (unbezahlte, unbezahlbare) Ehre an, mit Gergiev über eineinhalb Jahrzehnte an der Programmplanung zusammen zu arbeiten.
Lieber Peter,
das macht es freilich umso verständlicher. Ich selbst habe Gergiev nur ein einziges Mal live erlebt, 2010 nämlich mit "seinem" Kirow- bzw. Mariinski-Orchester, also zu einem Zeitpunkt, als er schon längst ein Weltstar war. Das Konzerterlebnis damals habe ich durchaus als packend in Erinnerung. Nun erreichte mich vor einiger Zeit eine sehr sorgfältig und profund, offenbar in Absprache mit Gergiev zusammengestellte Box der Rotterdamer Philharmoniker, wo er auch ein sympathisches Vorwort verfasste. Darin enthalten ist u. a. eine Rundfunkmitschnitt der 11. Symphonie von Schostakowitsch, der am 17. November 1990 im Amsterdamer Concertgebouw entstand, also aus seiner frühen Zeit und erst wenige Jahre nach seinen ersten Dirigaten im Westen (sein Debüt in Rotterdam war 1987). Jedenfalls hat mich gerade die derzeitige Ächtung Gergievs dazu veranlasst, meine Höreindrücke noch einmal zu überprüfen. Ich muss sagen, dass er für mich künstlerisch in den letzten Jahren nach und nach immer weniger interessant wurde. Wann diese Entwicklung genau einsetzte, kann ich schwer datieren, aber ich vermute, es hängt mit dem allzu großen Erfolg und dem selbstgewählten Dasein als "Jetset-Dirigent" zusammen. Das schloss nicht aus, dass es auch in der jüngsten Zeit noch Perlen unter seinen Dirigaten gab, denke ich etwa an eine wirklich gute Siebte von Prokofjew oder auch an die verspätete Uraufführung des Chant funèbre von Strawinski. Aber zurück zu dieser Elften von 1990. Bereits im Kopfsatz dachte ich mir, das habe ich derart überzeugend lange nicht gehört, wenn überhaupt. Gergiev bringt die brodelnde Atmosphäre, die hier in der Luft liegt, phänomenal herüber. Man ahnt schon, dass die Ruhe allzu trügerisch ist. Die Entladung im zweiten Satz ist in ihrer Brutalität dann derart frappierend, dass man regelrecht hochfährt. Sodann die tieftraurige Stimmung im Gedenken an die Opfer im trauermarschartigen dritten Satz und schließlich die finale Eruption des Schlusssatzes. Das Rotterdamer Orchester spielt wie auf der Stuhlkante und übertrifft sich hier wahrlich selbst. Gerade die Gongschläge sind markerschütternd. Nanu, dachte ich mir dann gleichwohl, wie kann das sein, hatte ich Gergiev bei Schostakowitsch doch mit recht oberflächlich und glatten Interpretationen verinnerlicht. Aber des Rätsels Lösung ist wohl wirklich, dass wir hier von vor über 30 Jahren reden. Es wirkt nicht ansatzweise so, als habe er damals zu wenig geprobt oder sei anderweitig bereits zu sehr eingespannt gewesen, um sich voll auf das Stück zu konzentrieren. Im Gegenteil. Man merkt vielmehr die absolute Hingabe und das In-die-Tiefe-Gehen. Man versteht, wieso die Rotterdamer Gergiev seinerzeit um jeden Preis an sich binden wollten. Da gelangen echte Sternstunden. Gergiev ist eben keine von der Klassikindustrie erschaffene Kunstfigur, sein Aufstieg künstlerisch durchaus nachvollziehbar, wenn man sich über die frühen Tondokumente chronologisch herantastet und diesem Dirigenten unvoreingenommen eine Chance einräumt. Mich hat dieses kaum zu bestreitende Absinken in die mediokre Beliebigkeit (wie gesagt, mit einzelnen Ausnahmen nach wie vor) bei ihm seit spätestens den 2010er Jahren daher betrübt und ich habe etwa seine Aufnahmen mit den Münchner Philharmonikern kaum mehr rezipiert. Vielleicht hilft ihm ja - Ironie des Schicksals - diese faktische Beschränktheit auf Russland sogar, künstlerisch wieder zur alten Größe zurückzukehren. Mit den fast tagtäglichen internationalen Auftritten - heute München, morgen New York, übermorgen Tokio - und dem damit vielleicht zwangsläufig einhergehenden Monotonie dürfte es für absehbare Zeit vorbei sein. Er geht auf die siebzig zu. Manchmal ist weniger mehr.
Im Gegensatz zu 2014 ist heute nichts an Unterstützung für Putins Aggression zu hören. Eine öffentliche Distanzierung von Putins Politik von Gergiev zu erwarten, hieße zu verkennen, dass er nicht nur für sein eigenes Leben und das seiner Familie verantwortlich ist, sondern auch für seine musikalische "Familie", das Mariinsky-Theater mit seinen 5 Bühnen, 3 in St. Petersburg plus Vladivostok plus Vladikavkaz. Ich bin froh, nicht in Russland zu leben.....
Das ist ein sehr wesentlicher Aspekt, dem m. E. zu wenig Rechnung getragen wird. Gergiev trägt ja in seiner Funktion nicht nur Verantwortung für sich selbst. Wie könnte er denn leichtfertig einen öffentlichen Bruch mit seinem langjährigen Freund und Förderer riskieren. Die Leute, die sicher und gut abgesichert im Ausland sitzen, reden sich schon immer leichter und fühlen sich moralisch aus dem Schneider. Man denke in diesem Zusammenhang an die altklugen Ratschläge deutscher Exilanten in Kalifornien an die im "Dritten Reich" verbliebenen Künstler.
Gergievs langjähriges Engagement in und seine Liebe für Finnland, die Du uns sehr plastisch schilderst, sprechen eigentlich eine deutliche Sprache, die sich doch stark und wohltuend abhebt vom brutalen militärischen Vorgehen der russischen Regierung gegen ehemalige Gebiete des Zarenreiches.
Beste Grüße