Valery Gergiev - ein russischer Dirigent

  • Die Frage, ob Gergiev sich überhaupt von Putin distanzieren kann, würde ich mit Nein beantworten, außer er trägt sich mit dem Gedanken, sich mit seiner Familie außerhalb Russlands anzusiedeln. Das hieße dann allerdings auch, sein "Lebenswerk", das Mariinsky-Theater im Stich zu lassen.

    All seine Aktivitäten in der Vergangenheit sprechen für mich - und viele Andere - dafür, dass er sich nicht distanzieren will. Er ist demnach ein "Überzeugungstäter". Und: Das menschliche Leben ist endlich. Das Mariinsky-Theater dagegen existiert auch ohne Gergiev weiter. Er ist also auch dort durchaus nicht unentbehrlich.

  • Gergiev besitzt tatsächlich die niederländische Staatsbürgerschaft, die ihm vor vielen Jahren von der Königin verliehen worden war.

    Quelle für diese Information : Gergiev selber.

    Da hat Herr Gergiev aber ordentlich geflunkert, denn die niederländische Staatsangehörigkeit bekommt man nicht für besondere Dienste verliehen (wie z.B. in Österreich). Voraussetzung und Modalitäten findet man hier.


    Valery Gergiev wurde für die internationale Bedeutung, die weltweite Reichweite und den außergewöhnlichen Charakter seiner musikalischen Tätigkeit in 2005 allerdings mit dem Titel eines Ritters des Ordens des niederländischen Löwen ausgezeichnet.

    Die Entscheidung über die Auszeichnung des Musikers traf Königin Beatrix der Niederlande persönlich.

    Stellvertretend für die Königin wurde Gergiev der Orden vom Bürgermeister Ivo Opstelten unmittelbar nach dem Konzert anlässlich der Eröffnung des "Valery Gergiev Festivals" in Rotterdam überreicht.


    Der Orden vom Niederländischen Löwen ist der höchste zivile Verdienstorden in den Niederlanden. Großmeister ist der amtierende Monarch, der unter der Verantwortung des zuständigen Ministerrates die Ernennungen vornimmt.

    Der Orden vom Niederländischen Löwen hat drei Klassen: 1. Ritter Großkreuz, 2. Kommandeur, 3. Ritter. Dieser Orden kann an Personen mit außergewöhnlichen Verdiensten um das Gemeinwesen verliehen werden.

    Vor allem Künstlern, Wissenschaftlern und erfolgreichen Sportlern wird dieser Orden verliehen.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Lieber Orfeo,


    ich muss mich korrigieren : Der niederländische Pass ist Gergiev nicht von der Königin verliehen worden (dazu hat sie nicht die Befugnisse), sondern es ist von den Rotterdamer Philharmonikern "arrangiert" worden, als er Chefdirigent dieses Orchesters war. Gergiev machte in niederländischen Zeitungen kein Geheimnis aus dieser Tatsache. Wieweit es illegal in Russland ist, die Staatsbürgerschaft auch eines anderen Staates zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis, jedoch glaube ich nicht, dass Netrebko auf die russische verzichtet hat, als sie Österreicherin wurde.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Das verlief etwas anders.

    Die Rotterdamer Philharmoniker hatten arrangiert, dass Gergiev als russischer Statatsbürger zur Erleichterung der wiederholten und regelmäßigen Einreise zwar einen niederländischen Reisepass erhielt, der aber nicht die niederländische Staatsbürgerschaft voraussetzt.

    Wieweit es illegal in Russland ist, die Staatsbürgerschaft auch eines anderen Staates zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis,

    In Russland ist doppelte Staatsbürgerschaft nicht generell verboten.

    Beamten, Vollzugsmitarbeitern und Richtern ist sie aber nicht erlaubt. Laut Artikel 62 der russischen Verfassung darf ein russischer Staatsbürger auch Bürger eines anderen Staates sein und damit die doppelte Staatsangehörigkeit haben, was vor allem für Künstler interessant ist. In Russland wohnende Doppelstaatler und Personen mit Daueraufenthaltsrecht in einem Drittstaat müssen dies seit 2014 melden.

    In Ausnahmefällen kann der russische Präsident von diesen Bedingungen dispensieren.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Herzlichen Dank an Orfeo für seine höchst informativen Ausführungen, aus denen ich jedes Mal etwas Neues gelernt habe. Er möge mir meine etwas beckmesserische Anmerkung verzeihen, wenn ich "Das verlief etwas anders" nicht ganz verstehe, denn ich hatte in meinem Beitrag vom Arrangement eines niederländischen Passes durch die Rotterdamer Philharmoniker für Valery Gergiev geschrieben, also nichts anderes als seine Entgegnung / Korrektur.


    Wenn ich gerade lese, dass in konzertanten Aufführungen der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden und Berlin unter Kirill Petrenko dem Mariinsky-Theater eng verbundene Sänger wie Stikhina, Denisova, Sulimsky und Akimov mitgewirkt haben, bin ich froh, dass für sie die Sippenhaftung nicht galt. Oder hat man von ihnen etwa nicht verlangt, sich gegen Putin und den Krieg auszusprechen? Wird im Westen mit zweierlei Maß gemessen?


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraineverlor Waleri Gergijew sein Engagement als Chefdirigent an der Bayerischen Staatsoper, der Metropolitan Opera und der Mailänder Scala.


    Genau mein Humor...

    Und man ist dazu da, daß man's ertragt. Und in dem "Wie" da liegt der ganze Unterschied.

  • Hier noch eine konzise Zusammenfassung - plus neuere Details über das luxuriöse korrupte Leben des russischen Musikmafiabosses:

    Der sprachliche Verfall schreitet voran. Scharfe Kritk, Entsetzen oder meinetwegen auch Abscheu lassen sich auch anders ausdrücken. Offenkundig beginnen Kriege auch damit, dass Sprache ordinär und primitiv wird. Ich beobachte ganz allgemein einen Überbietungswettberb im Gebrauch von abwertenden Ausdrücken. Nach dem Motto: Was hatten wir noch nicht? Der Begriff "Musikmafiaboss" ist mir jedenfalls bisher noch nicht untergekommen. Ich wüsste auch nicht genau, was darunter zu verstehen sein soll.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Sorry, Rheingold, aber den Ausdruck "Russsicher Musikmafiaboss" habe ich nicht erfunden, sondern schon mehrmals in Zusammenhang mit Gerghiev gehört, als ich in Moskau dirigierte, allerdings, damals, in Zusammenhang mit seinem Wirken in St. Petersburg. Also darf ich auch nicht die Worte "luxuriös" und "korrupt" in diesem Zusammenhang brauchen? Klingt bereits nach Zensur...

  • Geschätzter adriano, nein, nein. Dem ist nicht so. Ich wusste nur nicht, dass Gergiev schon früher in Moskau als "Musikmafiaboss" bezeichnet wurde. Denn Du wirst ja wohl nicht erst kürzlich in Moskau dirigiert haben.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • In Moskau habe ich von 1994 bis 2014 dirigiert und dies jeweils 1-3 Mal pro Jahr. Pro Mal waren es 5-10 Tage. Wenn es Dich interessiert, sende ich Dir einen Artikel über meine Moskauer Erlebnisse, aber dies tue ich nicht mehr durch einen offiziellen Download, denn damit hatte ich nämlich mal Schwierigkeiten gekriegt.

  • Scharfe Kritk, Entsetzen oder meinetwegen auch Abscheu lassen sich auch anders ausdrücken.

    Mich wunderte schon, dass man sich auch hier im Forum auf dieses nicht besonders seriöse Regenbogen-Portal bezieht.

    "Watson" ist ein Schweizer Nachrichtenportal, das seit 2014 online ist. Seit 2019 besteht eine Content-Partnerschaft mit "t-online.de". Eine Partnerschaft mit "Spiegel Online" wurde 2019 aufgekündigt.

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    "Watson" ist das Newsportal für die Generation, die ohne Zeitung – dafür mit Smartphone und Social-Media – aufgewachsen ist.“ „News ohne bla bla“ lautet die Eigenwerbung.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Welche Passagen im erwähnten Watson-Artikel liessen sich also wegen "scharfe Kritik, Entsetzen oder Abscheu" beanstanden?

  • Mich wunderte schon, dass man sich auch hier im Forum auf dieses nicht besonders seriöse Regenbogen-Portal bezieht.

    Da steht aber nichts drin, was man in anderen ausgewiesen "seriösen" Quellen nicht auch lesen könnte. Und es werden nur die Fakten berichtet, die für sich sprechen. Der Ursprung ist überall derselbe - die Reportage der Nawalny-Gruppe. ;)

  • Zum Thema "Opfer der St. Petersburger Mafia" (oder "Netzwerk" für eventuelle Zensoren etwas milder ausgedrückt) - ohne die der kleine KGB-Angent Putin nicht geworden wäre was er heute (leider) ist, könnte vermutlich auch der Fall (in beiden Bedeutungen des Wortes) des Sängerin Galina Gorchakova gehören. Peter Schünemanns wertvolles Tamino-Posting vom 1. März 2021 erwähnt dies - wenn auch indirekt...

    Es führt alles auf Putin und sein "Netzwerk" zurück, auch bis ins kleinste kulturell-administrative Detail. Danke übrigens, Alfred, für Dein Posting zum Fall Lubtchenko - der brannte mir schon lange in den Tasten.

    Wer dies alles nicht als "mafiös" (pardon: "netzwerkerisch") erkennt, soll weiterträumen und seine Stiefel leckendeund profitierende Idole bedingungslos anhimmeln - und Musik von Politik getrennt geniessen. Gerghiev, wenn er schon Putins Busenfreund ist, ist es sicher nicht aus rein gefühlsmässigen, musikalischen oder philantropischen Gründen geworden; der muss zum Netwerk gehören und mitmachen- und natürlich mitkassieren, sonst wäre er längst schon abgeschrieben.

  • Gergiev übernimmt Bolschoi-Theater

    Valery Gergiev wird mit sofortiger Wirkung in Personalunion zusätzlich zum Mariinski-Theater in St. Petersburg auch Generaldirektor des berühmten Bolschoi-Theaters in Moskau. Präsident Putin schlug die Vereinigung der Leitung der beiden bedeutendsten russischen Opernhäuser bereits im vergangenen Jahr öffentlich vor und erinnerte dabei an die entsprechende Praxis im ehemaligen Zarenreich.


    Quelle: https://orf.at/stories/3341528/

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Na, prima! - Laßt uns eine Büste für ihn aufstellen ...

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Bald kommt der nächste Thread . Meine unverzichtbaren Aufnehmen mit Valery Gergiev 😃.

    Was wäre daran eigentlich so lächerlich? Tatsächlich gibt es auch von Gergiev durchaus Aufnahmen, die aller Ehren wert sind. Und vielleicht hätten das vor zehn Jahren sogar Leute, die sich heute total distanziert geben, ebenfalls so gesehen. Es sind nach meinem Eindruck zwar zumeist ältere Sachen (80er/90er Jahre), aber werden die jetzt automatisch künstlerisch schlechter aufgrund der Entwicklungen der letzten Zeit?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Im anderen Thread schriebst Du:

    Anstatt darauf stolz zu sein, dass ein Jahrhundertdirigent wie Karajan am vergleichsweise provinziellen Theater Aachen wirkte, will man plötzlich nichts mehr davon wissen.

    Jetzt schreibst Du von "Ehren" der Aufnahmen.

    Offenbar geht es auch bei Dir nicht nur um "künstlerische Qualität".

    Das Spannende ist ja das Schillernde dieser Huldigungsaktionen.

  • Ob Gergiev ebenfalls ein Jahrhundertdirigent ist, sei mal dahingestellt. Dass er einige sehr gute bis herausragende Aufnahmen gemacht hat, steht (für mich) aber außer Zweifel. Diese auch in diesem Forum an entsprechender Stelle zu würdigen, ist zumindest für meine Begriffe nichts prinzipiell Ehrenrühriges (wenngleich nicht besonders empfehlenswert aufgrund der erwartbaren Reaktionen). Die Nachricht, dass Gergiev nun auch Bolschoi-Chef ist, erschien mir für das Tamino Klassikforum ganz unabhängig davon bedeutsam genug, sie ganz sachlich hier zu erwähnen. Offenbar wurde dies aber bereits als provokant aufgefasst.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • "Präsident Putin [...] erinnerte dabei an die entsprechende Praxis im ehemaligen Zarenreich"

    ist sicher sachlich, ist aber ebenso provokant, wie wenn Alfred von "Dr. Goebbels" spricht.


    Durch Titel und Rang wird unterschwellig eine Ehrerbietung zum Ausdruck gebracht, die gegenwärtig hier für diese Personen verpönt ist.

  • Die eigentlich interessante Information im Zusammenhang mit dieser Ernennung wurde allerdings unterschlagen:


    Der bisherige Chef des Bolschoi-Theaters, Wladimir Urin, kündigte seinen Abtritt an. "Ich verabschiede mich heute, weil heute mein letzter Arbeitstag im Bolschoi-Theater ist", sagte der 76-Jährige laut einem im Internet verbreiteten Video bei einer Premierenfeier vor der Kompanie. Urin hatte sich im vergangenen Jahr mit anderen Kulturschaffenden in einem offenen Brief gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen - zwei Tage nach Kriegsbeginn. Zuvor galt er aber als Unterstützer des Kreml. Medien hatten zuletzt berichtet, dass Putin selbst auf der Entlassung Urins bestanden habe. Offiziell hieß es, Urin habe selbst um seine Entlassung gebeten. Er hatte das Theater mit der größten Ballettkompanie der Welt und der international renommierten Opern- und Konzertsparte seit 2013 geführt. Sein Vertrag hätte noch bis 2027 gegolten. (tagesschau.de)


    Eine Kritik am Ukraine-Krieg hat Putin von Gergiev nun allerdings nicht zu befürchten. <X

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Bald kommt der nächste Thread . Meine unverzichtbaren Aufnehmen mit Valery Gergiev 😃.

    Immerhin, ich habe mir letzhin - mit nur ein bisschen Schlechtes Gewissen - seinen Boris Godunov in der Doppelausgabe mit den Fassungen 1869 & 1872 (gebraucht) besorgt. Die ist schon ziemlich gut!

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • Valery Gergiev berichtete oft davon, dass ihm nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union neben dem (damals so genannten) Kirov auch die Leitung des Bolshoi-Theaters angetragen worden war, was er allerdings zum damaligen Zeitpunkt abgelehnt hatte. Die Zukunft "seines" Theaters sei zu ungewiss gewesen.


    Heute stellt sich die Situation anders dar. Mit Mariinsky I bis V (Historische Bühne, Neue Bühne, Konzerthalle, Vladivostok und Vladikavkaz) verfügt man über 5 gut funktionierende und ausgelastete Bühnen, so dass es zumindest mir nicht so abwegig erscheint, ihm noch die Leitung einer weiteren Bühne anzutragen.


    Die ganze Geschichte erhält jedoch dadurch ein "Geschmäckle", dass man vermuten könnte, Urin sei wegen seiner Kritik am Ukraine-Kritik in Ungnade gefallen und zur "freiwilligen Demission" gedrängt worden.


    Da nun die Gastspiele des Mariinsky im Westen wegfallen, hat Gergiev im Prinzip durchaus Zeit, auch das Bolshoi zu leiten, was allerdings Delegation erfordert - bisher nicht gerade seine Stärke.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann