Ravel: Gaspard de la Nuit

  • Ich finde theoretische Diskussionen in der Musikrezeption immer dann interessant, wenn sie einen neuen Blick auf ein Werk oder eine Aufnahme eröffnen. Aber das scheint hier gar nicht der Fall zu sein und ich verstehe die Anfeindungen einmal mehr nicht.


    Mich würde aber schon noch interessieren, lieber Holger, was für literarische Hinweise Du in der Partitur gefunden hast, die auf einen Daktylus deuten? Für mich ist das für einen Daktylus viel zu schnell und ich vermag ihn beim besten Willen auch nicht zu hören. Allerdings war das Erkennen von Versmaßen trotz großer Liebe zur Lyrik noch nie meine Stärke und ich bin im Studium dem Thema konsequent aus dem Weg gegangen ;-)

  • Betrachten wir doch noch einmal den Notentext:



    Das ist das, was Ravel notiert hat. Also zwei Viertel Auftakt, durch die Balkensetzung unterteilt in vier Achtelgruppen von jeweils vier 32steln, von denen durch den sekundären Balken jeweils zwei zu Vierteleinheiten verbunden werden. Wenn man das vollkommen gleichmäßig und ohne jeden Akzent spielt (worauf neben dem Fehlen jeglicher dynamischer Differenzierung auch der überlange Legatobogen über den ersten viereinhalb Takten hinweist), ist diese Gruppierung allerdings nicht bzw. nur als eine von mehreren Möglichkeiten hörbar. Ich hatte als denkbare und hörbare Alternative die Aufteilung 3-3-2 vorgeschlagen:



    Dr. Kaletha meint hingegen, es sei eine andere Aufteilung gemeint, die "ziemlich eindeutig und unzweideutig" einen Daktylus darstelle ("Der duft aus dem garten noch leis"):



    Da stellt sich schon einmal die Frage, warum diese Aufteilung "eindeutig" gegenüber der anderen zu bevorzugen sein soll. Das wird noch fragwürdiger, wenn man eine weitere, bisher ungenannte Möglichkeit betrachtet, nämlich 2-3-3:



    Von all diesen Möglichkeiten scheint mir die Kalethasche mit Abstand die unnatürlichste zu sein, weil sie erstens aus der metrisch schweren ersten Note gegen den Notentext eine Auftaktnote macht, und weil zweitens am Anfang und am Ende der Viertelgruppe jeweils ein einzelnes 32stel für sich steht. Wenn man das letztere zu einer Zweiergruppe mit dem Beginn der nächsten Einheit verbindet, hat man genau die Aufteilung 3-3-2, von der Kaletha (fälschlicherweise) behauptet, sie ergäbe "gar keinen Rhythmus". Möglich ist auch diese recht komplizierte Variante, aber mit welcher Begründung soll sie "ziemlich eindeutig und unzweideutig" die sein, welche der Komponist "genau so und nicht anders gemeint" hat? Kalethas Begründung dafür ist, dass im Notentext jeweils "zwei Vierergruppen mit einem Balken zusammengefasst" sind, aber das wäre natürlich bei allen anderen Varianten genauso möglich (ich habe das in den Notenbeispielen nicht gemacht, weil ich auf die Schnelle die Funktion für die sekundären Balken nicht gefunden habe).


    Mein Fazit ist: Die komponierte Struktur erlaubt mehrere metrische Varianten, sowohl auf Seiten des Spielers als auch des Hörers. Die jeweils wahrgenommenen Strukturen müssen nicht einmal bei beiden identisch sein, sondern es kann der Hörer etwas anderes wahrnehmen als der Spieler denkt und umgekehrt, und beide können beim Hören bewusst oder unbewusst von einer Variante zur anderen umschalten. All diese Möglichkeiten sind im Notentext angelegt.

    Das sind so weit die analytisch belegbaren Fakten. Über mögliche Konsequenzen in der Umsetzung hatte ich weiter oben etwas geschrieben. Korrigieren muss ich mich in einem Punkt: Ich hatte bisher nur von zwei möglichen metrischen Varianten geschrieben, tatsächlich sind es mehr, neben den bisher genannten z.B. auch noch 3-2-3. Dass dieses Vexierspiel, diese komponierte metrische Unklarheit der Kern der Sache ist, zeigt sich übrigens auch an den zwei Vierteln Auftakt, mit denen das Stück beginnt: Es ist, wenn man nicht (gegen den Notentext) die Eins im ersten Volltakt betont, völlig unmöglich, das übergeordnete Metrum herauszuhören, und der Einsatz des Themas in der Linken kommt zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt. Das ist also im Großen eine ähnliche Idee wie die beschriebenen metrischen Gleichzeitigkeiten im Kleinen.





    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Lieber ChKöhn


    Zwei Fragen:


    Sind im Taktzitat die elf Akkorde und die fünf Einzeltöne hörbar? Ich meine ja, es erzeugt das Flirrende.

    Ist das für den Pianisten eine technische Herausforderung?

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Auf der Höhe - und der Tiefe - kann ich nichts beitragen. Aber ich höre jetzt mal meine Aufnahmen durch. Da hat jede ihre Meriten.




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  • Sind im Taktzitat die elf Akkorde und die fünf Einzeltöne hörbar?

    Ist das für den Pianisten eine technische Herausforderung?

    Die Akkorde und Einzeltöne sollten heraushörbar sein, weil sonst die besagten metrischen Effekte in einem einzigen Klang verschwimmen (deshalb auch das Tempo "Lent"). Eine technische Herausforderung ist das durchaus, und zwar aus mehreren Gründen: Schwer sind die Dynamik "ppp", die absolute Gleichförmigkeit ohne jeden Akzent, die Balance zwischen den Dreiklängen und den Einzeltönen, und die Last der Hauptarbeit für die beiden Außenfinger (wenn man nicht 3-5 statt 4-5 spielt). Man benötigt in der Hand eine vergleichsweise große Stabilität, die aber auf keinen Fall zulasten der Beweglichkeit von Unterarm und Handgelenk gehen darf. Die Bewegungen müssen minimal, aber absolut präzise sein, mit ständigem Kontakt der Fingerspitzen zur Taste ("in der Taste"). Es ist eine ganz spezielle Technik, die man so ansonsten kaum benötigt und sich deshalb erst einmal aneignen muss. Das ist am Anfang sehr schwer und geht dann irgendwann in eine Art Körpergefühl über.

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    (Theodor W. Adorno)

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  • Lieber ChKöhn


    Als Nichtpianist bin ich für deine Erklärung dankbar.

    Ich hatte beim Studium der Partitur vermutet, dass diese Akkorde-Einzelton-Stelle schwierig sein muss.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Jetzt habe mich mir noch weitere Interpretationen angehört und bekomme vielleicht ein Vorstellung davon, was Schnabel mit Werken gemeint haben könnte, die größer seien, als ihre Interpretationen. Die verschiedenen rhythmischen Gruppierungen machen das Auftauchen der Melodie zu etwas Geheimnisvollen….


    Die von kalli gezeigte Interpretation von Tharaud gefällt mir sehr gut. Hier hat mich Le GIbet umgehauen, der mir bei Hamelin etwas flach vorkam, aber auch Scarbo mit seiner etwas diffusen Rhythmik konnte mich begeistern





    Nach all den Erklärungen oben kamen mir plötzlich einige Ondines nicht mehr zauberhauft genug vor. Die Einspielung von Argerich aus dem Jahr 1960 schien mir plötzlich das Geheimnisvolle der auftauchenden Melodiestimme bei Ondine nicht deultich genug zu zeigen ... :(


    Dafür ist Marcelle Meyer nicht nur bei Rameau wundervoll


  • Ich finde theoretische Diskussionen in der Musikrezeption immer dann interessant, wenn sie einen neuen Blick auf ein Werk oder eine Aufnahme eröffnen. Aber das scheint hier gar nicht der Fall zu sein und ich verstehe die Anfeindungen einmal mehr nicht.


    Mich würde aber schon noch interessieren, lieber Holger, was für literarische Hinweise Du in der Partitur gefunden hast, die auf einen Daktylus deuten? Für mich ist das für einen Daktylus viel zu schnell und ich vermag ihn beim besten Willen auch nicht zu hören. Allerdings war das Erkennen von Versmaßen trotz großer Liebe zur Lyrik noch nie meine Stärke und ich bin im Studium dem Thema konsequent aus dem Weg gegangen ;-)

    Weil Du es bist ausnahmsweise meine Antwort. Danach bin ich raus aus der Diskussion.


    Es geht um die Frage, was die grundlegende Struktur ist 4 + 4 oder 3 + 3 + 2. Ich habe gesagt, die Dreierstruktur ist kein Rhythmus. Das hat nur Unverständnis und Polemik ausgelöst - aber das habe ich nun nicht so daher gesagt, sondern es hat einen theoretischen Hintergrund: Hugo Riemann. Riemann sagt, es gibt keinen dreiteiligen Rhythmus, nur einen zweiteiligen. Damit meinte er nun nicht, dass es keine komplexen rhythmischen Formen gibt, sondern dass der zweiteilige Rhythmus die grundlegende rhythmische Struktur ist und alle anderen Formen als Erweiterungen oder Verkürzungen darauf zurückführbar sein müssen. Der theoretische Ansatz hat natürlich auch einen musikpsychologischen Grund: Der Rhythmus muss ja als einheitlicher Rhythmus erfasst werden können und nicht nur als bloße Summierung von unterschiedlichen rhythmischen Elementen. Genau das ist bei 3 + 3 + 2 hier bei Ondine nicht möglich - expliziert in die rhythmische Struktur Senkung-Hebung, betont-unbetont ( - = unbetont, ´ = betont) heißt das nämlich:


    (- ´ -) (- ´ -) ( - ´)


    Das ist nun die bloße Aufsummierung zweier inkompatibler rhythmischer Elemente (einer Dreier- und einer Zweierstruktur) und kein einheitlicher, alle Elemente durchziehender Rhythmus. Die Erfahrung "Einheit in der Mannigfaltigkeit" stellt sich so auch nicht ein.


    Um das besser zu verstehen ein kleiner Ausflug in die griechische Verslehre:


    Jambus (Zweierrhythmus): (- ´)


    Trochäus (Zweierrhythmus) (´ -)


    Von diesen beiden Grundrhythmen sind der Daktylus und Anapäst die Erweiterungen, in denen eben die Zweier-Grundstruktur unbetont/betont bzw. betont/unbetont das grundlegende Element bleibt.


    Jambus ( - ´) - Anapäst ( - - ´) Der Anapäst (Dreierrhythmus) ist nur die Erweiterung des Jambus als Zweierrhythmus ( - ´). Beide Male ist der Grundrhythmus unbetont/betont - also der Zweierrhythmus. Man kann den Anapäst entsprechend als gedehnten Jambus und den Jambus als verkürzten Anapäst auffassen (mit der Elision (= Auslassung) einer unbetonten Silbe)


    Trochäus (Zweierrhythmus) (´ -) - Daktylus (Dreierrhythmus) (´ --) Auch hier dieselbe rhythmische Grundstruktur (Zweierrhythmus) betont/unbetont beim Daktylus lediglich erweitert um eine Senkung.


    Bei Ondine ist der Rhythmus nun ein Anapäst (und natürlich kein Daktylus, bezeichnend hat keiner meinen Fehler, den ich morgens um 6 Uhr noch unausgeschlafen gemacht habe, bemerkt ^^ )


    ((- ´) (- - ´) ( - - ´)) ((- ´) (- - ´) ( - - ´))


    Damit ist die Vorgabe der metrischen Analyse Riemanns erfüllt. In allen rhythmischen Silben ist dieselbe Grundstruktur ausgewiesen und damit ein einheitlicher Rhythmus, der alles durchzieht. Denn der (auftaktige) Jambus zu Beginn ist aufzufassen als ein Anapäst mit Elision einer unbetonten Silbe bzw. der Anapäst als ein gedehnter Jambus: Einheit in der Mannigfaltigkeit statt bloß summativer Aufreihung. Überall ist derselbe (zweiteilige) Rhythmus vorhanden: unbetont/betont.


    Genau so spiele ich das übrigens auch ganz intuitiv!


    Nur mit dieser meiner Interpretation lässt sich auch verständlich machen, warum diese rhythmische Struktur den Triller rhythmisieren kann ohne ihn zu atomisieren. Es ist nämlich ein Unterschied, ob ein solcher rhythmischer Vers eine melodische Phrase begründet oder eine Trillerkette rhythmisiert. Bei einer melodischen Phrase gibt es (das ist die Sprachanalogie) ein Einatmen und Ausatmen, d.h. am Ende der Phrase kann man eine (rhythmische) Atempause machen, die entsteht eben in der Folge 3 + 3 + 2 durch das heterogene Element am Schluss. Man muss dann nach einer Atempause in der nächsten Figur neu ansetzen. Der Anapäst als einheitliche Rhythmisierung leicht/schwer in allen rhythmischen Einzelsilben unterstützt dagegen auch rhythmisch die bruchlose Kontinuität des Trillers. Da gibt es keine Atempausen.


    Nun ist es so, dass der Spieler ja in jedem Fall einen durchlaufenden Triller spielen muss. Hier gibt es letztlich den Ermessensspielraum, inwieweit er die rhythmischen Akzente zugunsten der Wirkungen eines gleichförmigen Trillers egalisiert. Diese Egalisierung führt auch dazu, dass Fluktuationen und Ambiguitäten in der Wahrnehmung der rhythmischen Struktur entstehen. Der Grundrhythmus bleibt jedoch der Anapäst, sonst lässt sich einfach kein durchlaufender Triller gestalten.


    Die eigentlich interessante Frage ist damit aber noch nicht gestellt. Was ist denn die Bedeutung dieses rhythmisierten Trillers? Welche (ästhetische) Wirkung soll damit erzielt werden? Wie weit soll und darf die Egalisierung der rhythmischen Hebungen und Senkungen gehen? Das ist eben dann keine musikalisch-grammatikalische Frage mehr (auf dieser Ebene ist sie schlicht unentscheidbar), sondern eine musikhermeneutische nach der Bedeutung. Hier gibt es bei den Interpreten zwei Gruppen - die Rhythmisierer und die Egalisierer. Diese Frage werde ich hier aber nicht beantworten und sage statt dessen: Tschüss!

  • Lieber Holger,


    ich bedauere Deinen Rückzug und möchte anmerken, dass ich den Daktylus durchaus in Frage gestellt habe.


    Aber auch einen Anapäst höre ich nicht, da die Noten ja eben ohne Betonung und möglichst gleichförmig zu spielen sind.


    Meine Frage nach der literarischen Quelle, der Deiner Ansicht nach dieser Rhythmus zugrunde liegt, hast Du leider nicht beantwortet. Der kurze Text „Ondine“ von Aloysius Bertrand - auf dessen Gaspard-Text Ravel sich bezieht - kann es jedenfalls nicht sein, das habe ich mir inzwischen im Original angesehen.


    Viele Grüße, Christian

  • Der Rhythmus muss ja als einheitlicher Rhythmus erfasst werden können und nicht nur als bloße Summierung von unterschiedlichen rhythmischen Elementen. Genau das ist bei 3 + 3 + 2 hier bei Ondine nicht möglich - expliziert in die rhythmische Struktur Senkung-Hebung, betont-unbetont ( - = unbetont, ´ = betont) heißt das nämlich:


    (- ´ -) (- ´ -) ( - ´)


    Das ist nun die bloße Aufsummierung zweier inkompatibler rhythmischer Elemente (einer Dreier- und einer Zweierstruktur) und kein einheitlicher, alle Elemente durchziehender Rhythmus.

    Das ist einfach falsch. Die drei Elemente sind nicht "inkompatibel" sondern haben, wie man auf einen Blick erkennen kann, dieselbe Grundstruktur, lediglich ein Element ist um einen Baustein gekürzt (nicht anders übrigens als bei Deiner jüngsten Lieblingsfolge). Wenn das nicht ohne Probleme als zusammenhängender Rhythmus erkennbar ist, dann müsstest Du schon erklären, warum das bei der Folge 2-3-3 anders sein soll. Dass Du diese nach 1-3-3-1 von heute morgen jetzt plötzlich als einzig richtige entdeckt hast, zeigt immerhin sehr schön die Pluralität an Möglichkeiten. Vielleicht kommt ja morgen noch 3-2-2 als weitere hinzu, dann hätten wir die schönste Einigkeit erzielt.

    Zu Deiner privaten Rhythmus-Definition ist zu sagen, dass nach ihr nicht nur der zweite Satz aus Tschaikowskys Pathétique und das Finale aus Milhauds Scaramouche sondern z.B. auch "Sacre du Printemps" und weite Teile der Neuen Musik Werke ohne Rhythmus wären, von variablen Metren, Polyrhythmik oder Illusionsrhythmik ganz zu schweigen. Was für ein Schmarrn...

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    (Theodor W. Adorno)

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  • Das ist einfach falsch. Die drei Elemente sind nicht "inkompatibel" sondern haben, wie man auf einen Blick erkennen kann, dieselbe Grundstruktur, lediglich ein Element ist um einen Baustein gekürzt (nicht anders übrigens als bei Deiner jüngsten Lieblingsfolge). Wenn das nicht ohne Probleme als zusammenhängender Rhythmus erkennbar ist, dann müsstest Du schon erklären, warum das bei der Folge 2-3-3 anders sein soll. Dass Du diese nach 1-3-3-1 von heute morgen jetzt plötzlich als einzig richtige entdeckt hast, zeigt immerhin sehr schön die Pluralität an Möglichkeiten. Vielleicht kommt ja morgen noch 3-2-2 als weitere hinzu, dann hätten wir die schönste Einigkeit erzielt.

    Zu Deiner privaten Rhythmus-Definition ist zu sagen, dass nach ihr nicht nur der zweite Satz aus Tschaikowskys Pathétique und das Finale aus Milhauds Scaramouche sondern z.B. auch "Sacre du Printemps" und weite Teile der Neuen Musik Werke ohne Rhythmus wären, von variablen Metren, Polyrhythmik oder Illusionsrhythmik ganz zu schweigen. Was für ein Schmarrn...

    Das ist mal wieder billige Polemik und geht völlig an der Sache vorbei. Und da ich mich hier nicht so einfach frech als inkompetent vorführen lasse, meine Richtigstellung.


    Bei einer "Analyse" geht es um die Zerlegung eines Ganzen in seine Elemente, aus denen es sich aufbaut (Ernst Kurth benutzt deshalb den Ausdruck "Aufbau-Analyse"). Entscheidend ist das Ziel der Analyse, was man mit der Zerlegung in Elemente aufzeigen will. Hier geht es darum, einen einheitlichen Rhythmus aufzuzeigen, also dass in allen Einzelrhythmen dasselbe rhythmische Grundelement nachweisbar ist. Das aber so, dass dies auch sinnvoll ist, d.h. bei einem Wahrnehmungsphänomen wie dem Rhythmus, dass es auch so wahrgenommen werden kann (sonst ist die Analyse eine willkürlich Konstruktion).


    Man kann analytisch zeigen, dass sich der Anapäst aus einem Jambus ableitet, also jambischen Charakter hat, also den Jambus als Element enthält. Man kann nämlich analysiert den Anapäst als Jambus mit einer unbetonten Silbe als Auftakt auffassen:


    Aus (- ´) wird ((-) (- ´))


    Bei Ravel:


    (- ´) ((-) (- ´)) ((-) (- ´))


    Die Analyse zeigt, dass der Jambus als Grundelement überall enthalten ist und das also ein einheitlicher jambischer Rhythmus ist (einmal Jambus plus zweimal Anapäst).


    Als Dreierrhythmus aufgefasst (3 + 3 + 2) sähe das bei Ravel so aus:


    Zweimal wiederholt wäre das Element: ( - ´ - )


    Analysiert ergibt das einen Trochäus (´ - ) mit unbetontem Auftakt, also:


    ((-) (´ -))


    Man kann aber nun bezeichnend nicht Ravels Rhythmus von Ondine als einheitlich trochäisch auffassen. Dann müsste er nämlich so aussehen:


    ((-) (´ -)) ((-) (´ -)) (´ -)


    Bei Ravel steht nämlich am Schluss (so als 3 + 3 + 2 analysiert) kein Trochäus, sondern ein Jambus:


    ((-) (´ -)) ((-) (´ -)) (- ´)


    D.h. die ersten beiden rhythmischen Elemente hätten jambischen Charakter und das letzte wäre ein Trochäus. Damit ist dieser Analysevorschlag damit gescheitert, eine einheitliche rhythmische Grundstruktur aufzuweisen. Mein Analysevorschlag dagegen kann das.


    Und damit ist für mich hier endgültig Schluss!

  • Hier geht es darum, einen einheitlichen Rhythmus aufzuzeigen, also dass in allen Einzelrhythmen dasselbe rhythmische Grundelement nachweisbar ist. Das aber so, dass dies auch sinnvoll ist, d.h. bei einem Wahrnehmungsphänomen, dass es auch so wahrgenommen werden kann (sonst ist die Analyse eine willkürlich Konstruktion).

    Ja, und ich hatte bereits gezeigt, dass bei der Teilung 3-3-2 genau das gegeben ist. Extra für Dich noch einmal im Detail:



    Wie man sehen kann, beginnen alle drei Gruppen mit dem Akkord, gefolgt von einem Halbtonschritt in der Oberstimme; die letzte Gruppe ist um ein Element verkürzt. Das ist eindeutig und problemlos als "dasselbe Grundelement" zu hören, nicht anders als beim Finale aus "Scaramouche". Dass Du dazu (nach eigenem Bekunden) nicht in der Lage bist, beweist natürlich nur, dass Du eben nicht alles kannst, was andere können. (Übrigens ist es auch falsch, dass ein Rhyhtmus nur erkennbar ist, wenn er aus denselben Grundelementen zusammengesetzt ist, aber lassen wir das jetzt mal außer Acht, denn hier ist es dasselbe Grundelement.)

    Bei Deiner aktuell als einzig richtig erkannten Teilung (gestern war es ja noch eine andere) 2-3-3 passiert exakt dasselbe, nämlich drei Gruppen in gleicher Grundstruktur, von denen eine um ein Element verkürzt ist:



    Du kannst noch so wortreich drumherum reden: Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass Ravel nur die letztgenannte Variante "so und nicht anders" gemeint habe. Der Witz an der Stelle ist im Gegenteil, dass es eine solche Eindeutigikeit nicht gibt. Den hast Du aber leider immer noch nicht verstanden.


    Und damit ist für mich hier endgültig Schluss!

    ^^

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
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  • Ihr Lieben, der Thread ist aufschlussreich wie schon lange nicht mehr. Danke an Holger und Christian für euren Input. Als Moderator bin ich fast geneigt, die persönlichen Wadenbisse aus den Beiträgen zu entfernen (zumal die ja auch nichts zur Sache tun). Ansonsten: man kann nicht nicht kommunizieren, das gilt auch hier. Auch schreibgeschützte Threads können mit der Zitatfunktion zitiert werden und an anderer Stelle diskutiert. Selbst wenn die Reaktion darauf wiederum im geschützten Bereich erfolgen sollte, ist auch die zitierbar. Es hilft nix:wir müssen uns daran gewöhnen, kritische Bemerkungen nicht immer persönlich zu nehmen, oder genügend Größe zeigen, darüber hinwegzusehen.


    TP

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wie man sehen kann, beginnen alle drei Gruppen mit dem Akkord, gefolgt von einem Halbtonschritt in der Oberstimme; die letzte Gruppe ist um ein Element verkürzt. Das ist eindeutig und problemlos als "dasselbe Grundelement" zu hören, nicht anders als beim Finale aus "Scaramouche".

    Die Frage ist eben: Was für ein Grundelement und was für eine Gruppe? Das hier ist eine motivische Analyse und keine rhythmische. Der Rhythmus war aber das Thema und nicht die Motivstruktur. Bei der Komplexität dieser Musik sollte man eben klar definieren, was man analysieren will und was nicht. Sonst redet man aneinander vorbei.


    Und der "Trick" von Christian Köhn ist immer wieder, in seinen Grafiken die von Ravel notierten Balken (die eben die Vierergruppen betonen) einfach wegzulassen.


    :!:

  • Die Frage ist eben: Was für ein Grundelement und was für eine Gruppe? Das hier ist eine motivische Analyse und keine rhythmische. Der Rhythmus war aber das Thema und nicht die Motivstruktur. Bei der Komplexität dieser Musik sollte man eben klar definieren, was man analysieren will und was nicht. Sonst redet man aneinander vorbei.

    Die Frage hatte ich klar beantwortet, aber meinetwegen noch mal: Die Gruppe besteht aus einem Akkord, einem halbtönig darüber liegenden Einzelton und wieder dem Akkord. Diese Gruppe wird zweimal wiederholt, beim dritten Mal ist sie um den abschließenden Akkord verkürzt. Jetzt klar? Sonst frag ruhig noch einmal nach.



    Und der "Trick" von Christian Köhn ist immer wieder, in seinen Grafiken die von Ravel notierten Balken (die eben die Vierergruppen betonen) einfach wegzulassen.

    Jetzt wird es wirklich komplett absurd. Wenn Du jetzt plötzlich die notierten Vierergruppen für das einzig wirksame Metrum hältst und die auch noch "betont" haben willst, dann fällt Deine 2-3-3-Teilung natürlich ebenso raus wie 3-3-2 oder 3-2-3. Du solltest vielleicht immer am Beginn Deiner Beiträge kurz erwähnen, welche Teilung bei Dir gerade die ist, die Ravel "so und nicht anders" gemeint hat. Bei dem Tempo, in dem Du diese Überzeugung wechselst, kommt ja sonst keiner mehr mit. Schön wäre natürlich, wenn Du für die jeweilige Behauptung auch noch eine Begründung hättest.

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  • Die Diskussion ist für mich beendet. Hier geht es längst nicht mehr ums Verstehenwollen, sondern statt dessen nur um das gezielte Missverständen um dem Anderen (in diesem Falle mir) zu demonstrieren und ihn bloßzustellen, wie blöd, ignorant, widersprüchlich er ist, nur um sich selber damit zu profilieren und zu zeigen, wie toll man ist. Auf diesem Niveau diskutiere ich nicht. Wer mit mir diskutieren möchte, muss sich anders verhalten und ein anderes Niveau zeigen.

  • Die Frage, ob Ravel den Rhythmus aus der literarischen Quelle übernommen haben könnte, habe ich mir auch gestellt. Aloyisius Bertrands Buch ist bekanntlich als Prosagedicht verfasst worden und dort ist kein eindeutiges Anapäst zu erwarten, und nichtsdestotrotz…

    Die Prosagedichte sind zwar per Definition nicht klassisch gereimt und haben keine Metrik, weisen jedoch eine ausgeprägte Prosodik auf, die man durchaus unter die Lupe nehmen könnte, um Ravels Komposition zu analysieren. Mir stehen im Moment nur kurze Ausschnitte des Textes zu Verfügung, die ich in der unerschöpflichen Quelle namens Internet finden konnte. Was mir selbst in so kurzen Ausschnitten sofort auffällt, ist eine ungleichmäßige, wellenartige Rhytmik. Wir sehen hier, wie in einem prosaischen, nicht gebundenen Text melodische Stellen immer wieder zum Vorschein kommen. So beginnt der folgende Satz ohne erkennbare Prosodik und wirkt in den Nebensätzen, die „damit“ bzw. „pour“ beginnen wie ein antiker Gesang mit einem durchaus erkennbaren Metrum.


    „Sa chanson murmurée, elle me supplia de recevoir son anneau à mon doigt, pour être l’époux d’une Ondine, et de visiter avec elle son palais, pour être le roi des lacs.„

    „Nachdem sie ihr Lied gemurmelt hatte, beschwor sie mich, ihren Ring auf meinem Finger zu empfangen, damit ich der Gatte einer Ondine werde, und zusammen mit ihr ihren Palast zu besuchen, damit ich zum König der Seen werde.„


    Diese kleine melodische Abschnitte deuten den Beginn von einem Gedicht an, entfalten sich jedoch nicht zu einem. So, als ob eine Melodie aus der weiten Ferne hörbar wird und wieder verschwindet, wobei eine andere konstant präsent bleibt. Und ist das nicht genau das, was wir in Ravels „Gaspard de la nuit“ hören? Einerseits fast monoton klingendes, sprudelndes Wasser in „Ondine“ oder die Glocke in „Le Gibet“, die sowohl einen Kontrast zu den Themen von Ondine, des Mannes etc. bilden, als auch mit diesen Themen verschmelzen und die Erzählung vervollständigen.


    Hier ist ein etwas längerer Ausschnitt des Textes und auch ein Link zu eine sehr ausführlichen Analyse von „Gaspard de la nuit“ aus dem Buch „Ravels Klaviermusik“ von Siglind Bruhn, die man auf „Edition Gorz“ lesen kann. (Der Text und die Überzeugung sind auch aus diesem Buch genommen worden.) Die Autorin untersucht auch das literarische Werk, allerdings vor allem inhaltlich. Und — es tut mir leid das wieder hoch zu bringen — unterteilt „Ondine“ in 3-3-2…


    http://edition-gorz.de/Ravel-1.html


    — « Écoute ! — Écoute ! — C’est moi, c’est Ondine qui frôle de ces gouttes d’eau les losanges sonores de ta fenêtre illuminée par les mornes rayons de la lune ; et voici, en robe de moire, la dame châtelaine qui contemple à son balcon la belle nuit étoilée et le beau lac endormi.


    » Chaque flot est un ondin qui nage dans le courant, chaque courant est un sentier qui serpente vers mon palais, et mon palais est bâti fluide, au fond du lac, dans le triangle du feu, de la terre et de l’air.


    » Écoute ! — Écoute ! — Mon père bat l’eau coassante d’une branche d’aulne verte, et mes sœurs caressent de leurs bras d’écume les fraîches îles d’herbes, de nénuphars et de glaïeuls, ou se moquent du saule caduc et barbu qui pêche à la ligne. »


    *

    Sa chanson murmurée, elle me supplia de recevoir son anneau à mon doigt, pour être l’époux d’une Ondine, et de visiter avec elle son palais, pour être le roi des lacs.

    Et comme je lui répondais que j’aimais une mortelle, boudeuse et dépitée, elle pleura quelques larmes, poussa un éclat de rire, et s’évanouit en giboulées qui ruisselèrent blanches le long de mes vitraux bleus.

    ——————————————————

    “Hör nur! – Hör nur! – Ich bin’s, Ondine, die mit diesen Wassertropfen über die wohlklingenden Rauten deines Fensters perlt, erhellt vom matten Strahlen des Mondes; und da steht im Moirégewand die Schlossherrin auf ihrem Balkon und betrachtet die bestirnte Nacht und den schönen schlafenden See.


    Jede Welle ist ein “Wellenkind”, das in der Strömung schwimmt, jede Strömung ist ein Pfad, der sich zu meinem Palast schlängelt, und mein Palast ist flüssig gebaut, am Grunde des Sees, im Dreieck von Feuer, Erde, und Luft.


    Hör nur! – Hör nur! – Mein Vater schlägt das quäkende Wasser mit einem grünen Erlenast, und meine Schwestern liebkosen mit ihren Schaumarmen die frischen Inseln aus Gras, Seerosen und Iris oder spotten über den ge- brechlichen, zottigen Weidenbaum, der mit einer Rute zu angeln scheint.”

    *

    Nachdem sie ihr Lied gemurmelt hatte, beschwor sie mich, ihren Ring auf meinem Finger zu empfangen, damit ich der Gatte einer Ondine werde, und zusammen mit ihr ihren Palast zu besuchen, damit ich zum König der Seen werde.

    Und da ich ihr antwortete, dass ich eine Sterbliche liebe, weinte sie ein paar Tränen, schmollend und verdrossen, brach dann in Lachen aus und zer- floss in den Regenschauern, die weiß über meine blauen Scheiben rannen.

  • Die komponierte Struktur erlaubt mehrere metrische Varianten, sowohl auf Seiten des Spielers als auch des Hörers. Die jeweils wahrgenommenen Strukturen müssen nicht einmal bei beiden identisch sein, sondern es kann der Hörer etwas anderes wahrnehmen als der Spieler denkt und umgekehrt, und beide können beim Hören bewusst oder unbewusst von einer Variante zur anderen umschalten. All diese Möglichkeiten sind im Notentext angelegt.

    Für mich stellt das eine entscheidende Bemerkung dar. Die Bewegung (Metrik) des Meeres ist im Endeffekt eine jederzeit umspringen könnende. Das macht die stehende Melodie gerade so geheimnisvoll. Für den Pianisten scheint es mir allerdings wirklich eine Herausforderung zu sein, die Bewegung so zu spielen, dass kein homogener Klangbrei entsteht, aber auch keine Überbetonung einer einzelnen Metrik ....


    Eine spezifische Schwäche bei Argerichs Ondine aus dem Jahre 1960 ist in meinen Ohren nun das Gefühl, dass Melodie und Meeresbewegung synchron zu sein scheinen. Bei Pogorelich wird diese "Idee" durch extreme Rubati noch einmal gesteigert.

  • Für den Pianisten scheint es mir allerdings wirklich eine Herausforderung zu sein, die Bewegung so zu spielen, dass kein homogener Klangbrei entsteht, aber auch keine Überbetonung einer einzelnen Metrik ....

    Ja, und die Herausforderung wird dadurch noch größer, dass man, wenn man eine gleichmäßige Kette von 32steln spielt, ja wohl gar nicht anders kann, als sie im Kopf in irgendeiner Weise metrisch zu gruppieren. Man kann das hörend z.B. beim Anfang von Stockhausens Klavierstück 9 ausprobieren, bei dem derselbe Akkord 142 Mal und dann 87 Mal angeschlagen wird, bei jeweiligem Diminuendo: Die meisten Hörer werden feststellen, dass sie unwillkürlich eine Ordnung in größeren Einheiten ergänzen, die repetierten Akkorde also innerlich in Vierer- oder auch Dreiergruppen zusammenfassen. Das kann sich im Laufe der Passage ändern oder verflüchtigen, aber den vorgeschriebenen 142/8-Takt in Form gleichwertiger Zählzeiten wird man ohne gedachte Unterteilung kaum wahrnehmen können. Im Grunde ist das auf simplerem Niveau eine ähnliche Idee wie bei Ravel: Die gleichmäßige Oberfläche erlaubt verschiedene metrische Deutungen. Bei Ondine muss der Pianist sich für eine von mehreren metrischen Varianten entscheiden, dabei aber so ebenmäßig spielen, dass auch alle anderen Varianten wahrnehmbar sind. Normalerweise wird das spätestens ab dem Themeneinsatz links die notierte Variante in Achteln (also Vierergruppen) sein, weil sonst ja Thema und Oberstimme metrisch asynchron wären.

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    (Theodor W. Adorno)

  • Für mich stellt das eine entscheidende Bemerkung dar. Die Bewegung (Metrik) des Meeres ist im Endeffekt eine jederzeit umspringen könnende. Das macht die stehende Melodie gerade so geheimnisvoll. Für den Pianisten scheint es mir allerdings wirklich eine Herausforderung zu sein, die Bewegung so zu spielen, dass kein homogener Klangbrei entsteht, aber auch keine Überbetonung einer einzelnen Metrik ....


    Eine spezifische Schwäche bei Argerichs Ondine aus dem Jahre 1960 ist in meinen Ohren nun das Gefühl, dass Melodie und Meeresbewegung synchron zu sein scheinen. Bei Pogorelich wird diese "Idee" durch extreme Rubati noch einmal gesteigert.

    Ich kann das nicht nachvollziehen. Bei den allermeisten Interpreten, auch ABM, höre ich eine gleichförmig fließende Bewegung ohne Akzente. Ein „Umschalten“ zwischen zwei Rhythmen/metrischen Systemen ist mir nicht möglich und ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass ein Interpret es daraufhin anlegt. Denn wie Köhn oben sagt - und das widerspricht seiner These von mehreren parallelen metrischen Möglichkeiten - ein Interpret muss sich beim Spielen für eine Variante entscheiden. Wenn dem aber so ist, kann der Hörer nicht nach Belieben unterschiedliche metrische Systeme hören. Hier finde ich die Argumentation nicht zwingend, und wie gesagt höre ich bei den allermeisten Interpreten ohnehin eine sehr gleichförmige Wellenbewegung ohne jegliche Akzente. Ausnahmen sind Samson Francois, Vlado Perlemuter und vor allem die junge asiatische Pianistin Aya Nagatomi auf ihrem beeindrucken Ravel-Album.


    Da die Gleichförmigkeit der Bewegung das wesentliches Element ist, finde ich auch die ausufernde Diskussion über betont/unbetonte Verfüße usw. geradezu grotesk am Werk vorbei gedacht, muss ich sagen.

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  • Bei den allermeisten Interpreten, auch ABM, höre ich eine gleichförmig fließende Bewegung ohne Akzente. Ein „Umschalten“ zwischen zwei Rhythmen/metrischen Systemen ist mir nicht möglich und ich halte es auch für sehr unwahrscheinlich, dass ein Interpret es daraufhin anlegt. Denn wie Köhn oben sagt - und das widerspricht seiner These von mehreren parallelen metrischen Möglichkeiten - ein Interpret muss sich beim Spielen für eine Variante entscheiden. Wenn dem aber so ist, kann der Hörer nicht nach Belieben unterschiedliche metrische Systeme hören. Hier finde ich die Argumentation nicht zwingend, und wie gesagt höre ich bei den allermeisten Interpreten ohnehin eine sehr gleichförmige Wellenbewegung ohne jegliche Akzente. Ausnahmen sind Samson Francois, Vlado Perlemuter und vor allem die junge asiatische Pianistin Aya Nagatomi auf ihrem beeindrucken Ravel-Album.


    Da die Gleichförmigkeit der Bewegung das wesentliches Element ist, finde ich auch die ausufernde Diskussion über betont/unbetonte Verfüße usw. geradezu grotesk am Werk vorbei gedacht, muss ich sagen.

    Du hast die Sache falsch verstanden: Die Gleichförmigkeit ist gerade die Voraussetzung für die Hörbarkeit verschiedener Varianten. Dass sich ein Interpret dabei für eine Möglichkeit entscheiden muss, steht dazu keineswegs im Widerspruch. In der Neuen Musik, vor allem bei György Ligetis "Illusionsrhythmik" ist dieses Prinzip noch weiter entwickelt und auf die Spitze getrieben: Z.B. spielt der Pianist in der 6. Etüde ("Herbst in Warschau") durchgehend einen einfachen 4/4-Takt in Sechzehnteln, aber man hört - in dem Fall durch Akzente hervorgehoben - alle möglichen Metren und Tempi bzw. Rhythmen, die der Interpret so gar nicht spielt (deshalb der Name "Illusionsrhythmik"). Bei "Continuum" hat Ligeti sogar extra ein Cembalo gewählt, weil die Gleichmäßigkeit dort durch das Instrument vorgegeben ist: Die hörbaren Strukturen entstehen durch die Häufigkeitsverteilung der Tonhöhen. Auch dort hört man also rhythmische Strukturen, die der Cembalist nicht spielt und andere, als er technisch denkt. Bei "Ondine" denkt der Interpret wie gesagt in der Regel in Achtel-Gruppen aus jeweils vier 32steln, aber weil gleichzeitig die Struktur der Akkorde und Einzeltöne als irregulärer Wechsel zwischen Zweier- und Dreiergruppen verstanden werden kann, sind beim Hörer auch ganz andere metrische Muster möglich. Alle diese Stücke sind so angelegt, dass der Interpret eine einfache Grundstruktur in 2/4 oder 4/4 spielt, dass aber durch verschiedene Techniken wesentlich komplexere Metren hörbar werden. Dass das nicht jeder hört, sagt natürlich nichts über die Hörbarkeit aus.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Dass das nicht jeder hört, sagt natürlich nichts über die Hörbarkeit aus.

    Ja, das kann natürlich sein.

    Was sagst Du zu den Aufnahmen von Samson Francois und Aya Nagatomi (Spotify), die sich meines Erachtens für eine Variante entscheiden?


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  • Beide Stücke sind auf YT zu finden. Einmal im Channel von Nagatomi selbst und das andere im Channel "Samson Francois - Thema" .



  • Die Frage, ob Ravel den Rhythmus aus der literarischen Quelle übernommen haben könnte, habe ich mir auch gestellt. Aloyisius Bertrands Buch ist bekanntlich als Prosagedicht verfasst worden und dort ist kein eindeutiges Anapäst zu erwarten, und nichtsdestotrotz…

    Provence


    Deinen schönen Beitrag will ich doch nicht unkommentiert lassen. Wenn ich die Quelle des Missverständnisses gewesen sein sollte, dass Ravel in der Musik den jambischen Rhythmus (Anapäst) aus Bertrands Dichtung haben sollte, dann muss ich bekennen, dass ich das natürlich nicht gemeint habe. Warum das gar nicht gehen kann, hast Du auch selbst bemerkt:

    Die Prosagedichte sind zwar per Definition nicht klassisch gereimt und haben keine Metrik, weisen jedoch eine ausgeprägte Prosodik auf, die man durchaus unter die Lupe nehmen könnte, um Ravels Komposition zu analysieren.

    Der Schweizer Musikwissenschaftler Theo Hirsbrunner...


    Theo Hirsbrunner – Wikipedia


    hat einen sehr lesenswerten Analysetext mit Interpretation zu Gaspard de la nuit geschrieben. Dort spricht er von einem "Theoriedifizit" der französischen Musik um 1900. Der Interpret hat also bei Ravel das Problem, das geeignete Analysehandwerkszeug zu finden, anders als z.B. in der Musik des 18. Jhd. Da hat man dann die zeitgenössische musikalische Rhetorik (J. N. Forkel etwa), um damit zu verstehen, warum Komponisten was und warum so aufschreiben. Hirsbrunner greift deshalb auf Olivier Messiaen zurück. Es gelingt ihm damit finde ich sehr gut, Ravel zu interpretieren. Darauf hatte ich 2005 und 2008 hier schon mal hingewiesen - 2008 in einer Antwort auf Karl:


    was Du da beim Hören entdeckt hast, hat Olivier Messiaen als den Rhythmus von „anacrouse – accent – désistence“ bezeichnet, den Ravel in „Ondine“ geradezu exemplarisch verwirklicht. „Anacrouse“ ist das langsame Anwachsen der Spannung, „accent“ ist der dynamische Höhepunkt, wohin die rhythmische Steigerungsbewegung hintreibt und „désistence“ ist die darauf folgende Entspannung.

    Damit klärt sich in gewissem Sinne auch diese Frage - besten Dank für den Hinweis auf das Buch, das werde ich mir besorgen:


    aus dem Buch „Ravels Klaviermusik“ von Siglind Bruhn, die man auf „Edition Gorz“ lesen kann. (Der Text und die Überzeugung sind auch aus diesem Buch genommen worden.) Die Autorin untersucht auch das literarische Werk, allerdings vor allem inhaltlich. Und — es tut mir leid das wieder hoch zu bringen — unterteilt „Ondine“ in 3-3-2…

    Als Jemand, der sich mit Musiktheorie beschäftigt, weiß ich natürlich, dass sich gerade auf dem Feld der rhythmisch-metrischen Analyse die Muwis eigentlich immer schon gestritten haben wie die Kesselflicker. ^^ Grundsätzlich verdeckt die Diskussion, wie der Rhythmus bei Ravel nun notiert ist, das eigentliche Problem. Ich habe gestern vergeblich versucht, bei Michelangeli (mehrere Mitschnitte gehört) am Notentext zu verifizieren, wie er die Struktur da rhythmisiert. Und bei Monique Haas und Vlado Perlemuter ist mir das auch nicht gelungen. Dadurch, dass dieser Rhythmus als Triller gespielt wird, wird er "verschmolzen", d.h. die Ordnung löst sich tendentiell auf. Was da passiert, kann man eigentlich nur mit der modernen Chaos-Theorie ("Ungleichgewichtsthermodynamik") erklären: es kommt zu einer Strukturbildung durch Selbstorganisation. D.h. der Spieler erzeugt rhythmische Strukturen, die im Notentext gar nicht mehr direkt ausweisbar sind. Es macht deshalb auch keinen Sinn, sie da auszuweisen zu wollen. Der französische Philosoph und Musikwissenschaftler Vladimir Jankelevich, der das finde ich beste und tiefschürfendste Buch über Ravel geschrieben hat, weist auf Ravels Eigenart hin, dass er zwar ständig Doppel- und Mehrdeutigkeiten gerade auch im Rhythmus komponiert (was von seinem Lehrer Gabriel Faure herkommt, der "Gegenrhythmus" etwa), zugleich aber eine panische Angst vor Unordnung und Chaos hatte und nichts so sehr fürchtete wie den Verlust von Kontrolle und Selbstkontrolle. Deshalb war er auch so ein großer Liebhaber von Uhren (hat sogar eine Uhrenoper geschrieben!), weil da alles so schön perfekt regelmäßig tickt. Der Notentext von Ondine ist für diese merkwürdige Natur Ravels ein exemplarisches Beispiel: Ravel schreibt einen traditionellen Notentext mit pseudo-präzisen und pseudo-eindeutigen Angaben, obwohl in der Realisierung durch den Spieler und auch in den Ohren des Hörers von dieser Eindeutigkeit so gut wie nichts mehr übrig bleibt. Das ist ein typisch Ravelsches Paradox. Was nun sehr bedeutend ist: Wegen dieses Paradoxes verliert hier bei Ondine der Notentext seine Funktion, die er traditionell hat, dass man anhand des Notierten überprüfen kann, ob der Interpret etwas richtig oder falsch macht. (Gegen diesen Versuch von Christian Köhn habe ich Einspruch erhoben, wenn man sich nur bemüht hätte, mich zu verstehen.) Solche Interpretationsfragen kann man deshalb letztlich nur auf einer nicht mehr grammatikalischen, der semantischen und musikhermeneutischen Ebene nämlich, angehen und wenn möglich entscheiden. Und da kommt dann der Text von Bertrand ins Spiel. Ravel hat ja ein "Klaviergedicht" komponiert, das sollte man auch Ernst nehmen. Ravels Notierungen sind paradox in vielerlei Hinsicht. Es macht ja gar keinen Sinn, bei einem durchgehenden Triller, der einem liegenden Ton ("Orgelpunkt") am nächsten kommt, eine metrische Einteilung zu notieren, wie Ravel das tut. Da ist von vornherein klar, dass sie beim Spielen verschwindet.


    Es ist also kein Widerspruch, im Notentext bei Ravel eine Eindeutigkeit analytisch auszuweisen, wenn man diese Paradoxie berücksichtigt. Das widerspricht der Mehrdeutigkeit, die beim Spielen und Hören der Musik dann notwendig entsteht, überhaupt nicht. Kommen wir nun auf den Anapäst zurück:


    Hirsbrunner bemerkt nicht zufällig, dass der Rhythmus bei Messiaen „anacrouse – accent" ein Jambus ist, also jambischen Charakter hat. Damit kann man offenbar Ondine strukturieren - nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Hier liegt eine Art "Selbstähnlichkeit" von Teilaspekt und Ganzem vor (Beispiel der Birnbaum. Der Baum als Ganzes hat dieselbe Form wie die einzelne Birne). Wo man das wirklich sehr eindrucksvoll nachvollziehen kann, ist bei Michelangeli. Er spielt Ondine wirklich nach diesem Messiaen-Rhythmus. (Was Du glaube ich als "Wellenbewegung" richtig erkannt hast.) Es ist also nicht abwegig, zu Beginn da einen jambischen Rhythmus wie den Anapäst zu analysieren. Und ich habe doch ein wenig Genugtuung empfunden, als ich den großen Claudio Arrau mit Ondine hörte: Er spielt tatsächlich zu Beginn den Anapäst deutlich heraus! :P Allerdings verschwindet das wegen des angedeuteten Selbstorganisationsphänomens auch bei Arrau sehr schnell - das Eindeutige wird schon nach zwei Takten uneindeutig.


    Bei Ravel verliert wegen des angedeutenden Paradoxes der Notentext die Funktion einer kritischen Instanz, wo man im Sinne der Wahrheit als Entsprechung einer Vorstellung und Meinung mit einer Sache sagen könnte: Notentext beachtet oder nicht beachtet, richtig oder falsch. Es gibt Interpreten, die noch weiter gehen als Hamelin, d.h. den Rhythmus völlig in einen Triller auflösen. Das sind etwa Lazar Berman und Khatia Buniatishvili. Abgesehen von der Gesamtinterpretation (Berman finde ich großartig, Buniatishvili finde ich geht an Ravel vorbei) kann man eben nicht sagen, dass das "falsch" ist. Was Buniatishvili macht, ist klaviertechnisch fabelhaft und auch sehr poetisch. Mit Blick auf den Text von Bertrand kann man das als "Impressionismus" rechtfertigen. Sie denkt offenbar so, dass man da gar keinen Rhythmus hören soll, sondern nur ein Flimmern wie das sanfte Mondlicht in der stillen Nacht, was auf den See fällt, wo wegen der Windstille sich das Wasser nur leise kräuselt. Das ist dann der Gesang von Ondine, den man durch das murmelnde Wasser (chanson murmurée) hört wie es im Text ja auch steht. Der Notentext sagt eben nicht, ob man den notierten Rhythmus auch als Rhythmus spielen und hören soll. Wenn man das meint, dann vergisst man die ästhetische und musikhermeneutische Dimension, dass das hier bei Ravel eben "musikalischer Impressionismus" ist. Ich finde wie gesagt die Rhythmisierung von Perlemuter, Monique Haas, Michelangeli usw. schlüssiger als Interpretationsansatz, nur fällt die Begründung dafür eben sehr komplex aus. Die Antwort kann nicht so simpel gegeben werden: steht in den Noten oder steht nicht in den Noten!


    Lazar Berman plays Ravel "Ondine" (youtube.com)


    Khatia Buniatishvili - Ravel - Gaspard de la nuit - YouTube


    Schöne Grüße

    Holger

  • ... der Thread ist aufschlussreich wie schon lange nicht mehr (...)

    So ist es!

    Wenn auch der, leider nicht gelingen wollende, Diskurs zwischen zwei Teilnehmern in seinem analytischen Ansatz bei der Betrachtung der anstehenden Ravel-Komposition und seiner damit einhergehenden Beschränkung und Konzentration auf einen strukturellen Aspekt ein Niveau erreicht hat, das es einem Laien schwer macht und ihn nicht gerade motiviert, sich daran zu beteiligen.

    Problematisch daran erscheint mir aber nicht nur dieses, sondern vor allem das Sich-Verbohren in diesen Aspekt, was die Gefahr beinhaltet, dass der für diesen Thread relevante Fragenkomplex, nämlich die vom Komponisten intendierte musikalische Aussage-Intention, völlig aus dem Blick gerät und nicht die gebotene Beachtung findet.

    Aber Einsichten gewinnt der Leser ja durchaus viele, und vor allem die Anregung, sich selbst mit dem Thema auseinanderzusetzen, sich die Komposition in verschiedenen Interpretationen anzuhören und Literatur dazu heranzuziehen.


    Und da findet er nun zu "Ondine" Kommentare wie diesen:

    "Je acht Zweiunddreißigstel bilden eine Gruppe; man kann sie metrisch als 3 + 3 + 2 auffassen oder die zweite Hälfte als manuelle Umkehrung der ersten. Für den Interpreten, der diese motivische Spielfigur in der Tonstärke ppp mir absoluter Egalität auszuführen weiß, ist alles weitere schon gewonnen, sofern er der Versuchung widersteht, das Poème zur Etüde zu machen - die ältere französische Klaviertradition neigt dazu - und das Tempo "Lent" in "Animé" zu verzerren. "


    Ich blicke auf die Noten, stelle mir vor, wie ich sie am Klavier zum Erklingen bringen würde (was aber angesichts der Alterssteifheit meiner Finger zum Ding der Unmöglichkeit geworden ist), und denke:

    Eigentlich muss man um diese strukturellen Gegebenheiten der Faktur doch gar nicht wissen, und ich habe auch starke Zweifel, ob das Operieren mit Kategorien der literaturwissenschaftlichen Metrik für das Verständnis der Musik etwas zu erbringen vermag. Es genügt, meint ein einem professionellen Pianisten wohl ziemlich dümmlich erscheinender Laie wie ich, die Zweiunddreißigstel-Figuren im Anschlag möglichst egalitär, also absolut gleichförmig zu behandeln, dies in einem ausgeprägten Legato und dreifachen Piano, dabei stets die Anweisung "très doux et très expressif" beachtend, um Ravels aus der dem Stück zugrundeliegenden literarischen Quelle hergeleiteten Aussage-Intention gerecht zu werden.

    Schließlich ging es ihm bei "Gaspard de la nuit" darum, "für das Klavier Stücke von transzendenter Virtuosität" zu schreiben".

    Und "Transzendenz" war wohl für ihn gerade bei "Ondine" das maßgebliche kompositorische Leitbild.

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  • Was sagst Du zu den Aufnahmen von Samson Francois und Aya Nagatomi (Spotify), die sich meines Erachtens für eine Variante entscheiden?

    Ich kann da problemlos mehrere Varianten hören und finde auch nicht, dass eine davon bevorzugt wäre (zumindest bevor das Metrum durch die Achtel im Thema links stabilisiert wird). Neben der normalen 4-4-Aufteilung kann ich auf 3-3-2 und auch auf 2-3-3 "umschalten". Letzteres ist bei mir eine Spur unnatürlicher, wahrscheinlich weil der Dreiertakt mit verkürzter Zählzeit drei bei anderen Werken häufiger vorkommt und deshalb vertrauter ist als der mit verkürzter Eins. Bei Samson Francois ist ist 2-3-3 am Anfang gut möglich, weil er die beiden ersten 32stel im Tempo anlaufen lässt, was man auch ohne Akzent als eine Art Betonung hören kann. Vielleicht ist das Hören dieser metrischen Schichten so ähnlich wie bei diesen 3-D-Bildern, die vor ein paar Jahren mal große Mode waren: Wenn man sich die in ziemlich kurzem Abstand vor die Augen hielt und dann "absichtslos" nach hinten über die Bildfläche hinaus blickte, konnte plötzlich ein dreidimensionales Bild erscheinen. Ich hatte immer Mühe, das zu sehen, und es hat auch nicht immer geklappt, aber möglich war es. Ravel finde ich einfacher :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich kann da problemlos mehrere Varianten hören und finde auch nicht, dass eine davon bevorzugt wäre (zumindest bevor das Metrum durch die Achtel im Thema links stabilisiert wird). Neben der normalen 4-4-Aufteilung kann ich auf 3-3-2 und auch auf 2-3-3 "umschalten".

    Ich scheine da auch kein Probem zu haben. Du hattest den Begriff des Vexierspiels eingebracht, den ich sehr passend finde. Es ist ein kognitives Problem. So wie eben auch Bildkunst ohne bewusstes Rezipieren nichts bedeutet, so scheint es in der Musik auch zu sein. (für mich zumindest)


    Ein Vexierbild aus der Wikipedia


    640px-Allisvanity.jpg


    Der Bildumsprung ist in diesem Beispiel zu kontrastreich, um einen Schwebezustand zu erzeugen. Das ist bei den metrischen Gruppierungen natürlich völlig anders.


    Dieses Spiel mit den Möglichkeiten, das in Ravels Ondine durch


    ....die Zweiunddreißigstel-Figuren im Anschlag möglichst egalitär, also absolut gleichförmig zu behandeln, dies in einem ausgeprägten Legato und dreifachen Piano, dabei stets die Anweisung "très doux et très expressif" beachtend, .....

    als Grundlage zu gelingen scheint, ist eben für den Rezipienten ein Vexierspiel.


    Wenn ich mir jetzt in #49 noch einmal Hamelins Ansatz anhöre, kann ich nun auch ChKöhn s Argument nachvollziehen. Hamelin spielt so schnell, dass aus dem eigentlichen Zauber eher ein Brei (oder wohl nach Cocteau "Sauce") wird. Der Gewinn neuer Linien kann in diesem Sinne kaum von Ravel so gewollt sein ...

  • Hamelin spielt so schnell, dass aus dem eigentlichen Zauber eher ein Brei (oder wohl nach Cocteau "Sauce") wird. Der Gewinn neuer Linien kann in diesem Sinne kaum von Ravel so gewollt sein ...

    Vermutlich nicht. Ravel war’s ganz offensichtlich mit seinen Tempoangaben recht ernst. Ricardo Viñes, der Widmungsträger der »Oiseaux tristes«, der auch

    die kompletten »Miroirs« uraufgeführt hat, fiel bei Ravel in Ungnade, da er »Le Gibet« (er war auch der Pianist der Premiere des »Gaspard«) wohl nicht –

    wie vom Komponisten verlangt – Très lent gespielt habe. Viñes wiederum war der Meinung, daß er, wenn er die Tempoangaben etc. Ravels befolgt hätte,

    das Publikum zu Tode gelangweilt hätte …

    Leider sind weder von Viñes noch von den Widmungsträgern des »Gaspard«, Harold Bauer bzw. Rudolph Ganz, Aufnahmen mit Werken von Ravel überliefert.

    Wohl aber von Marguerite Long (zumindest von einem), die die ihrem Mann gewidmete »Toccata« aus »Le tombeau de Couperin« immerhin so gut (richtig?)

    interpretierte, daß Ravel sein (erstes) Klavierkonzert für sie schrieb.


    Malatesta

  • Liebe Ravel-Freunde,


    ich habe nun mehrfach den ersten Satz (Ondine) aus dem Gaspard gehört. Insbesondere habe ich versucht, die Ausführungen von Holger und Christian (Köhn) dabei im Hinterkopf zu halten.


    Studio-Aufnahmen:


    Alexandre Tharaud (HM)

    Andrei Gavrilov (EMI)

    Ivo Pogorelich (DG)

    Mihaela Ursuleasa (BerlinClassics)

    Philippe Entremont (CBS)

    Tzimon Barto (Ondine)

    Vlado Perlemuter (Nimbus)


    Live-Mitschnitte:


    Arturo Benedetti-Michelangeli (Vatikan)

    Arturo Benedetti Michelangeli (BBC Legends)


    ABM spielt hier im BBCMitschnitt IMO sehr rasch und mit geringstem Rubato. Es ist pianistisch extrem beeindruckend, für mein Empfinden doch zu rasch für den Gesang.


    Die ‚Illusionsrhythmik‘ nehme ich sehr gut wahr bei Pogorelich und Barto.

    Der Gesang ist am betörendsten bei Ursuleasa, Entremont und Gavrilov.


    Ich empfinde die Aufnahme der leider sehr jung an einer Hirnblutung verstorbenen außergewöhnlichen Pianistin als ein klangliches Wunder. Sehr individuell gelingt ihr IMO eine eher melodiöse Formulierung der 32tel Figuren der rechten Hand.



    Sehr beeindruckend ist auch Arraus Live-Mitschnitt. Er liegt hier im Ansatz nahe an ABM.


    LG Siamak

  • Wenn ich die Quelle des Missverständnisses gewesen sein sollte, dass Ravel in der Musik den jambischen Rhythmus (Anapäst) aus Bertrands Dichtung haben sollte, dann muss ich bekennen, dass ich das natürlich nicht gemeint habe.

    Nein, nein so habe ich das nicht verstanden! Diese Frage hat allerdings Christian B. hier gestellt und ich habe diese Idee ein wenig weiter entwickelt. Auch in dem von mir verlinkten Buch wurde Bertrands Geschichte teilweise analysiert, allerdings nicht die Sprache. Ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass ein Komponist nicht nur von dem Inhalt, sondern auch von der Form des literarischen Werkes inspiriert werden kann. Das ist ein wenig off the topic und erstmal nur ein Gedankenspiel…

    P.S. Habe mir übrigens Bertrands Buch auf deutsch und französisch bestellt. Konnte die Versuchung nicht wiedersehen.

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