Karl Richter - seinem Ruhm nachgespürt

  • Großartig, wenn man das so sicher, ja objektiv, beurteilen kann, obwohl man gar nicht da war! :P


    Wenn du da gewesen wärest und danach aufgrund des Erlebten tätsächlich zu diesem Urteil gelangt wärest, hätte ich das auch ernst nehmen können.

    Ein Gedankenexperiment: du schreibst etwas über die "Lucia" und ich kommentiere das, indem ich sage: ich finde sie furchtbar, aber der eine sagt so, der andere so. Die Meinungen sind halt verschieden. Da würden sich doch hier alle kaputtlachen, weil jeder weiß, dass auf CD wie live die Lucia ein Renner ist. Also schreibe ich das nicht, weil ich weiß, dass du da Ahnung hast und ich nicht. Ahnung habe ich aber von Bach und den vielen neuen Ensembles für Alte Musik. Daher finde ich, und ich bin nicht der einzige, dass aus emotionalen Gründen Richter akzeptabel ist, aber nur aus solchen.

    Mit dem oben zitierten Satz hast du dich doch ein wenig verirrt. Gedankenexperiment: du willst in ein Bruckner-Konzert, der Trailer zeigt dir ein Kammerensemble, das den spielen wird. Da wirst du doch von vorneherein sagen: da geh ich nicht hin.

    Den Bach, ja, den kann ich sicher und objektiv beurteilen, obwohl ich nicht da war. Ich habe nämlich fünfzig Jahre in allen Sorten von Chören gesungen, darunter auch die Passionen in den riesigen Chören und den großen Orchestern. Stell dir vor, ich weiß genau, wie das klingt, da muss ich nicht hingehen. Gerade, weil ich Ahnung habe, gehe ich da nicht hin. So ist es doch mit allem, ob Literatur, Musik oder Bildende Kunst.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Hängt von der Vertrauenswürdigkeit des Labels ab. Vom Eigenlabel der "Chateau de Versailles Spectacles" beispielsweise kaufe ich Neuerdings fast alles und zudem oft völlig blind, im Vertrauen darauf, dass auch die mir noch unbekannten Ensembles schon etwas Hörenswertes können werden.

    Auch Jordi Savall hat ja ein eigenes Label gegründet. Für den obigen Tipp vielen Dank!

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  • Gedankenexperiment: du willst in ein Bruckner-Konzert, der Trailer zeigt dir ein Kammerensemble, das den spielen wird. Da wirst du doch von vorneherein sagen: da geh ich nicht hin.

    Ein denkbar schlechtes Beispiel: Ich mag ja Bruckner nicht sehr, war Ende September zum ersten Mal live in seiner Achten und fand das Stück furchtbar. Aber ich glaube, das Stück jetzt trotzdem besser beurteilen zu können, wo ich es einmal komplett live erlebt habe, als vorher, wo dies nicht der Fall war. Also: Vielleicht würde mich aufgrund meine üblichen Bruckner-Antipathie eine Aufführung mit Kammerensemble sogar reizen und zum Besuch verlocken. ^^

    Den Bach, ja, den kann ich sicher und objektiv beurteilen, obwohl ich nicht da war.

    Nein, eben nicht. Wir können alle immer nur subjektiv urteilen. Ich kann die verschiedenen Cavaradossi-Arien auch nicht objektiv beurteilen, da ich als ein Hörender ein Subjekt bin und demzufolge nur subjektiv urteilen kann. Und selbst wenn ein Hörer mehr Kompetenz in einem bestimmten Bereich hat als ein anderer und selbst wenn er sich um Objektivität bemüht (was du eigentlich nie tust, obwohl du deinen subjektiven Urteilen gerne in eine Rhetorik kleidest, die objektiv wirken soll), bleibt sein Urteil trotzdem immer auch ein subjektives.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Gedankenexperiment: du willst in ein Bruckner-Konzert, der Trailer zeigt dir ein Kammerensemble, das den spielen wird. Da wirst du doch von vorneherein sagen: da geh ich nicht hin.

    Den Bach, ja, den kann ich sicher und objektiv beurteilen, obwohl ich nicht da war. Ich habe nämlich fünfzig Jahre in allen Sorten von Chören gesungen, darunter auch die Passionen in den riesigen Chören und den großen Orchestern. Stell dir vor, ich weiß genau, wie das klingt, da muss ich nicht hingehen. Gerade, weil ich Ahnung habe, gehe ich da nicht hin. So ist es doch mit allem, ob Literatur, Musik oder Bildende Kunst.

    Man kann sicherlich objektiv urteilen, dass eine von einem Kammerensemble aufgeführte Bruckner-Symphonie relativ weit von dem entfernt ist, was Bruckner komponiert hat und er eine Aufführung seiner Werke sicherlich nicht so intendierte. Ebenso kann man objektiv urteilen, dass eine Aufführung von Bachs Passionen á la Richter sehr viel anders klingt als eine Aufführung zu Bachs Lebzeiten, denn darüber wissen wir heute sehr viel mehr als vor 50 Jahren. Trotzdem darf man das mögen (ich tue es nicht).

    Nein, eben nicht. Wir können alle immer nur subjektiv urteilen.

    Das halte ich für zu weitgehend. Nicht alle ästhetischen Urteile sind subjektiv, aber das ist ein eigenes, sehr großes Thema.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Meiner bescheidenen Meinung nach ist jedes ästhetische Urteil zunächst einmal ein subejktives. "Objektive", also für alle (vielelicht gar noch über alle Zeiten hinweg) verbindliche, ästhetische Urteile kann es meiner bescheidenen Meinung nach nicht geben. Aber sicher wird gleich jemand daherkommen und ganz objektiv verkünden, dass es doch objektive Urteile gibt. Derjenige ist dann wahrscheinlich kein Subjekt, sondern ein Objekt. :D:untertauch:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Lieber Nemorino,


    Vielen Dank für die so schnelle Antwort. Verstanden. Ist tatsächlich sehr einfach!


    Ich wünsche Dir ebenfalls noch einen schönen Abend. In welche Stadt/Ort darf mein Gruß gehen?


    wok

  • Man kann sicherlich objektiv urteilen, dass eine von einem Kammerensemble aufgeführte Bruckner-Symphonie relativ weit von dem entfernt ist, was Bruckner komponiert hat und er eine Aufführung seiner Werke sicherlich nicht so intendierte. Ebenso kann man objektiv urteilen, dass eine Aufführung von Bachs Passionen á la Richter sehr viel anders klingt als eine Aufführung zu Bachs Lebzeiten, denn darüber wissen wir heute sehr viel mehr als vor 50 Jahren.

    Bis hierher kann ich folgen.


    Den Bach, ja, den kann ich sicher und objektiv beurteilen, obwohl ich nicht da war. Ich habe nämlich fünfzig Jahre in allen Sorten von Chören gesungen, darunter auch die Passionen in den riesigen Chören und den großen Orchestern. Stell dir vor, ich weiß genau, wie das klingt, da muss ich nicht hingehen. Gerade, weil ich Ahnung habe, gehe ich da nicht hin. So ist es doch mit allem, ob Literatur, Musik oder Bildende Kunst.


    Bis hierhin nicht. Bach objektiv beurteilen zu wollen bedeutete für mich das Ende aller Annäherungsversuche an seine Musik. :no: Ich beibe dabei: Alle Interpretation ist subjektiv.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass Karl Richter oder jeder andere ernstzunehmende Bach-Interpret den Anspruch vertrat, er interpretiere Bach objektiv. Würden das denn HIP-Leute wie Herreweghe, Savall oder Koopman behaupten?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zu behaupten, ästhetische Urteile seien rein subjektiv und völlig beliebig, hieße nichts anderes, als zu sagen: Ästhetische Urteile sind keine Urteile - sie würden nämlich über nichts urteilen. Dann gibt es nur den Narzismus der Selbstgefälligkeit von Willkür und subjektivem Belieben. "Subjektiv" ist das Lieblingswort der Denkfaulen und Gedankenlosen, die einfach nur sagen wollen: Alles ist erlaubt und sich damit gegen jegliche Kritik ihres bescheidenen ästhetischen Urteilsvermögens immunisieren. Denn wenn es keine Verbindlichkeit gibt in ästhetischen Dingen, gibt es auch keinen Unterschied zwischen Kennern und Dilettanten, zwischen Gebildetenen und Ungebildeten, zwischen einem guten und einem schlechten Urteilsvermögen in Sachen ästhetischem Geschmack. Es sind immer die, die kein ästhetisches Urteilsvermögen haben, die behaupten, alles sei subjektiv-beliebig. Deswegen ist auch leicht erkennbar, dass dahinter ein Ressentiment steckt. Verbindlichkeit gibt es nur, wenn es auch einen verbindlichen Maßstab gibt, der die Beliebigkeit einschränkt. Deswegen sagte Kant: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, weil es Kriterien für guten und schlechten Geschmack gibt. Man muss sich nur bemühen, sie zu erkennen.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wie gesagt, Richter war nicht-momumental verglichen mit vielen Bach-Interpretationen in der ersten Hälfte des 20. Jhds. Abgesehen davon waren die auch nicht blöd und ihnen war normalerweise klar, dass Bach keine 100 oder mehr Choristen hatte. (Wobei ich nicht weiß, seit wann man diese berühmte Eingabe so liest, dass sie auf solistische Besetzung hindeutet, die meisten lasen früher wohl die Zahlen eher so, dass Bach gerne 30-40 Chorsänger gehabt hätte, sich aber eben mit weniger "zu gebrauchenden" begnügen musste.) Tovey war vor fast hundert Jahren schon klar, dass das 3. Brandenburgische idealerweise solistisch besetzt aufgeführt werden sollte und dass man bei Aufführungen von Bachs großbesetzter Musik Balanceprobleme hat, weil mit modernem Orchester relativ zu viele Streicher spielen und man normalerweise nicht 8-24 Oboen à la Royal Fireworks besetzen kann, um das auszugleichen (er meinte daher, man sollte im Tutti mit Klarinetten verdoppeln).

    Es geht immer um eine Balance zwischen unterschiedlichen Anforderungen. Gerade bei Bachs geistlicher Musik ist m.E. die Verlegung vom Gottesdienst in den Konzertsaal ein so deutlicher Anti-Authentizitätsschritt, dass Besetzungsfragen etc. dagegen verblassen. (Nur nehmen wir diesen Schritt halt schon seit 200 Jahren als selbstverständlich an.)

    Man kann schon objektiv feststellen, dass mit großen nichtprofessionellen Chören nicht die Transparenz und Agilität erreicht werden kann, die die Musik zumindest zum Teil zu verlangen scheint. Nur kann man natürlich das für weniger wichtig als andere Aspekte, etwa das Erreichen einer gewissen Wucht und Monumentalität in einem gegebenen Raum usw., halten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Lieber Holger, dein Beitrag ist für mich die schlüssige theoretische Umsetzung, was ich eher praktisch denke und erlebt habe. In diesem Zusammenhang heißt das für mich praktisch: Zu keiner Zeit können Aufführungen Bachscher Passionen mit 120 Sängern und einem 100köpfigen Chor (das war die Besetzung in Wuppertal) in irgendeiner Form die Intentionen des Komponisten widerspiegeln.

    Da für mich Holgers Beitrag#39 schlüssig ist, muss für mich danach nichts mehr kommen (Achtung! Da steht für mich, anderen schreibe ich nichts vor).

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  • Es geht immer um eine Balance zwischen unterschiedlichen Anforderungen. Gerade bei Bachs geistlicher Musik ist m.E. die Verlegung vom Gottesdienst in den Konzertsaal ein so deutlicher Anti-Authentizitätsschritt, dass Besetzungsfragen etc. dagegen verblassen. (Nur nehmen wir diesen Schritt halt schon seit 200 Jahren als selbstverständlich an.)

    Man kann schon objektiv feststellen, dass mit großen nichtprofessionellen Chören nicht die Transparenz und Agilität erreicht werden kann, die die Musik zumindest zum Teil zu verlangen scheint. Nur kann man natürlich das für weniger wichtig als andere Aspekte, etwa das Erreichen einer gewissen Wucht und Monumentalität in einem gegebenen Raum usw., halten.

    Genau so ist das. Und in der Kunst ist ohnehin erst einmal alles erlaubt.


    Nur die Denkfaulen sagen: Es muss so und so sein und kann gar nicht anders sein.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Holger, dein Beitrag ist für mich die schlüssige theoretische Umsetzung, was ich eher praktisch denke und erlebt habe. In diesem Zusammenhang heißt das für mich praktisch: Zu keiner Zeit können Aufführungen Bachscher Passionen mit 120 Sängern und einem 100köpfigen Chor (das war die Besetzung in Wuppertal) in irgendeiner Form die Intentionen des Komponisten widerspiegeln.

    Da für mich Holgers Beitrag#39 schlüssig ist, muss für mich danach nichts mehr kommen (Achtung! Da steht für mich, anderen schreibe ich nichts vor).

    Du deutest es an, lieber Dr. Pingel, dass es schwierig ist und vielleicht unmöglich, den Intentionen eines Komponisten gerecht zu werden. Eben weil ästhetische Urteile nicht so einfach und eindeutig sind wie 2+2=4, ist man mit dem Urteil "subjektiv" immer schnell bei der Hand, weil es natürlich ungemein schwierig ist, im Komplexen und Uneindeutigen zu einem nicht beliebigen, sondern allgemeinverbindlichen Urteil zu kommen. Aber hier ist es nicht anders als bei moralischen und politischen Urteilen. Wenn das Bundesverfassungsgericht als höchste Instanz das Urteil einer unteren Instanz kippt, weil es bestimmte Dinge anders bewertet, heißt das nicht, dass Gerichtsurteile generell nur subjektiv beliebig seien und keine Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen könnten. Es ist nämlich einsichtig, nach welchen Kriterien da geurteilt wurde. Jacques Derrida sagt schön, dass jede Urteilsentscheidung in moralischer Hinsicht durch eine Unentscheidbarkeit hindurch muss und also den Sinn der Unentscheidbarkeit behält. Das hat aber nichts mit Beliebigkeit und also eitler Subjektivität zu tun. Es entsteht auch so Verbindlichkeit, selbst und gerade in der Kontingenz des Uneindeutigen und Unentscheidbaren.


    Karl Richter hatte ein bestimmtes Bild vom Barock, dass nämlich eine gewisse Monumentalität zu diesem Stil gehört - wie man das ja auch bei der barocken Architektur sehen kann. Dass man den Barockstil nun vornehmlich als Monumentalstil betrachten kann und entsprechen zu monumentalen Aufführungen kommt, ist nicht subjektiv beliebig, sondern sehr gut ästhetisch (auch historisch) begründet. Nur hat sich das Bild des Barock inzwischen geändert - d.h. man hält andere Dinge inzwischen für wichtiger und wesentlicher. Die Monumentalisierung kann auf Kosten anderer wesentlicher Eigenschaften gehen wie der Durchsichtigkeit z.B. und der Rhetorik, der Sprachdeutlichkeit usw. Rhetorik war in der romantischen Tradition, in der auch Richter steht, verpönt, durch HIP hat man sie wieder entdeckt und wertet sie nicht mehr negativ. Dann kommt man zu einem anderen Gesamtbild des Barockstils und so ein Aufführungsstil kann obsolet werden. Deswegen verlieren Richters Aufnahmen aber nicht ihren ästhetischen Wert und ihre künstlerische Qualität. Ein unzeitgemäßer, als fragwürdig erkannter Aufführungsstil ist von einem einfach nur schlechten nämlich durchaus unterschiedbar. Bei Karajan hatten wir ja schon die Diskussion mit Glockenton z.B. Auch Karajan ist unhistorisch, aber die ästhetische Qualität seiner Aufnahmen kann man nicht bestreiten. Das ist nicht subjektiv-beliebig, auch wenn Karajans Aufnahmen in vielerlei Hinsicht dann fragwürdig sind. Und diese nicht unverbindliche, sondern Verbindlichkeit einschließende Fragwürdigkeit kann man auch begründen durch ein nicht-beliebiges ästhetisches Urteil, das zeigt, dass ästhetische Qualität hier Fragwürdigkeit nicht aus- sondern einschließt. :hello:


    P.S. Nach Immanuel Kant ist im strengen Sinne kein ästhetisches Urteil "objektiv" - das ästhetische Urteil "Die Rose ist schön" ist nämlich kein Erkenntnisurteil wie "Die Rose ist rot". Das Rot kann man als Eigenschaft dem Objekt Rose zuschreiben, das "schön" aber nicht in derselben Weise. Deswegen ist das ästhetische Urteil aber nicht subjektiv-beliebig, dass wir die rote Rose für schön halten. Da gibt nämlich die Allgemeinverbindlichkeit der Bezug auf die ästhetische Idee des Schönen. ;)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger, danke für deine beiden Artikel, die meiner Auffassung ein solides theoretisches Fundament verleihen.

    Dabei ist mir eine Sache aufgefallen. Bei Heinrich Schütz ist ja die Entwicklung rückwärts verlaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts war es, etwa in der Singbewegung, die höchste Kunst, Schütz a-cappella zu singen. Das war aber bei Schütz die Ausnahme, wie er etwa im Vorwort zur Geistlichen Chormusik (1648) darlegt. Er hatte ja nicht umsonst in Venedig die barocke Pracht der Gabrielischen Musik kennengelernt; ich bin nicht informiert, ob er Monteverdi kannte. Bei der Marienvesper teile ich die Aufnahmen in solche ein, die eher kammermusikalisch mit kleinen Besetzungen sind (also Weserrenaissance oder L´Arpeggiata) oder die mit mittleren Besetzungen doch große Pracht zeigen (Gardiner, Ralf Otto). Prüfstein ist für mich hier Nr.8, Nisi Dominus....

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  • Lieber Holger, danke für deine beiden Artikel, die meiner Auffassung ein solides theoretisches Fundament verleihen.

    Dabei ist mir eine Sache aufgefallen. Bei Heinrich Schütz ist ja die Entwicklung rückwärts verlaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts war es, etwa in der Singbewegung, die höchste Kunst, Schütz a-cappella zu singen. Das war aber bei Schütz die Ausnahme,

    So ganz die Ausnahme mit dem a-cappella Gesang war das mit SCHÜTZ auch nicht, lieber Herr Dr. Pingel.


    Bei den BACH-Motetten war es nämlich ganz ähnlich. BACH selbst hatte zwar die eine und andere Motette noch mit Orgelstimme oder auch mit wenigen Instrumentalstimmen komponiert, doch schon seine Nachfolger, vermutlich bereits der Thomaskantor JOHANN FRIEDRICH DOLES, praktizierten dann die rein vokale Ausführung von BACH's Motetten, und so nahm auch THOMASKANTOR GÜNTHER RAMIN mit seinem THOMANERCHOR LEIPZIG BACH's Motetten Nr. 1, 2, 3, 4 und 5 in den Jahren 1951, 1954 und 1955 a-cappella auf, und zwar in der Urtextfassung von Franz Wüllner erschienen bei BREITKOPF & HÄRTEL. Lediglich die Motette Nr. 6, BWV 230, spielte man mit einem Violoncello, Kontrabaß und Cembalo. Die meisten anderen Chöre sangen diese Motetten aber dann wohl seit den 50er Jahren nicht mehr a-cappella. Man ging also hier den umgekehrten Weg als bei den Oratorien, wo die Besetzung im Zuge der proklamierten historischen Aufführungspraxis immer mehr verkleinert wurde. Und in diesem Fall muß ich sagen, daß die mir vorliegende a-cappella-Aufnahme durch den Thomanerchor unter GÜNTHER RAMIN viel mehr zusagt als die vielen anderen Aufnahmen mit Instrumentalbesetzung, z. T. wie eine Kantate. Es ist einfach großartig, mit welcher Stimmästhetik und Disziplin z. B. die Motetten "Jesu, meine Freude" für fünfstimmigen Chor, BWV 227, und die Motette "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf" für zwei Chöre zu je vier Stimmen, BWV 226 von den Thomanern damals gesungen wurden, und mir gehen diese a-cappella-Aufnahmen tatsächlich mehr "unter die Haut" als die beste Aufnahme in Instrumentalbesetzung. Wenig erscheint mir hier einfach mehr. Aber auch dies dürfte Ansichtssache und Geschmacksache sein.

    wok



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  • Nach aktuellem Forschungsstand ist a cappella für Bach-Motetten historisch falsch, deswegen macht es kaum jemand mehr. Bei Schütz ähnlich. Insgesamt scheint der Trend auch bei noch älterer Musik (MA, Renaissance) dahin zu gehen, dass historisch meistens auch Instrumente colla parte mitspielten, aber genau weiß ich es nicht.

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  • Mein Sonntagmorgen wird heute mit dieser CD verschönert:

    Kantate "Wachet auf, ruft uns die Stimme" BWV 140

    mit Edith Mathis (Sopran), Peter Schreier (Tenor) und Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), sowie dem

    Münchener Bach-Chor und -Orchester, Dirigent: Karl Richter (Aufnahme: 1961).


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Einverstanden, lieber Rheingold! Ich bin aber erst einmal vor allem froh und glücklich, daß so große Musikkenner und -liebhaber wie Du und Helmut Hofmann nicht auch noch auf KARL RICHTER einschlagen, sondern im Gegenteil wie ich empfinden, daß man auch nicht - oder schon gar nicht - bei der Musik von BACH ganz ohne Gefühl, Sinnlichkeit, Verve und Begeisterungsfähigkeit auskommen kann.


    Viele Grüße

    wok

    Lieber wok,


    ich interpretiere diese Deine Aussage so, als ob HIP Musik ohne Gefühl und Sinnlichkeit wäre und wenn man Bach mit Gefühl hören will, man zu Karl Richter greifen müsse.

    Also ich heule auch bei der von Dr.Pingel erwähnten Herreweghe Aufnahme, mehrmals und immer wieder.
    Orchesterwerke mit Karl Richter mag ich mir nicht mehr anhören, da fehlt mir die Durchsichtigkeit. Aber seine Orgelinterpretationen höre ich ganz gerne mal, lieber als z.B Ton Koopman.


    Viele Grüße

    Boismortier

  • Also ich heule auch bei der von Dr.Pingel erwähnten Herreweghe Aufnahme, mehrmals und immer wieder.

    Also ich heule, wenn ich den Eigangschor besagter Aufnahme höre, auch, aber aus anderen Gründen! :D


    Ich finde ja, mein braucht als Hörer auch ein wenig Zeit, um die vorgetragenen gesungenen Worte zu verarbeiten und auf sich wirken zu lassen. In besagter Aufnahme wird teilweise so schnell und somit auch so kurz (pro Silbe) gesungen, dass kaum die Zeit bleibt, die deutsche Sprache in diesem Tempo überhaupt noch zu formen und dabei alle vorhandenen Konsonanten etc. unterzubringen - geschweige denn eine "Reaktionszeit" beim Zuhörenden einzuräumen. Das ist für meines Erachtens alles instrumental und "italienisch" gedacht, dabei den Besonderheiten der "Originalsprache" dieser Passion nicht gerecht werdend. Aus diesem Grunde fällt es mir schwer zu glauben, dass Bach das seinerzeit so schnell dirigiert haben soll wie Herreweghe jetzt (natürlich auch nicht so langsam wie Richter, klar!). Metronomzahlen der Bachschen Tempi sind meines Wissens nicht überliefert, aber ich gehe doch davon aus, dass Bach Tempi wählte, die den Zuhörenden (speziell unter den besonderen akustischen Verhältnissen in einer Kirche, Stichwort Nachhall) die Chance gaben, den Text zu verstehen. Denn darum geht es doch auch, oder nicht? Zumindest mir ist dieser Aspekt weit wichtiger, als dass die Vortragsbezeichnungen exakt in gleichem Tempo umgesetzt werden würden, wie man das bei gleichen Vortragsbezeichnungen im Falle einer italienischen Sinfonia oder einer französischen Suite aus guten Gründen tun würde.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Dabei ist mir eine Sache aufgefallen. Bei Heinrich Schütz ist ja die Entwicklung rückwärts verlaufen. Anfang des 20. Jahrhunderts war es, etwa in der Singbewegung, die höchste Kunst, Schütz a-cappella zu singen.

    Ein Freund von mir, lieber Dr. Pingel, der Organist ist und sich auch als Musikwissenschaftler mit dem Thema Orgel beschäftigt, erzählte mir mit einem Lachen davon, dass die Orgelbewegung mit ihrem puristischen Geist alle die verspielten barocken Register einfach abgebaut hat. Und was Wok hinzufügt über Bach, passt dazu: Auch der protestantische Bach-Kult neigt zum puritanistischen Purismus. Der Barock mochte aber keine secchezza ("Trockenheit"), er wollte Sinnlichkeit, Fülle, auch Opulenz. Warum hat Rubens wohl keine Mager-Models gemalt? :D Im Klavierunterricht durften wir Bach nur ohne Pedal spielen. Bis heute kann ich das nicht leiden. Hier bekenne ich mich eindeutig als Barockmensch (wiewohl ich ein paar Kilos weniger vertragen könnte obwohl ich nicht eigentlich dick bin :P ) :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Man kann beim Eingangschor zB als Richtlinie nehmen, dass der Choral nicht in Zeitlupe, sondern singbar erklingen soll. Dann kommt man automatisch auf ein relativ zügiges Tempo, vielleicht nicht 6 min, aber sicher auch nicht 9-10 (abgesehen davon gibt es einige historische Prä-HIP aufnahmen mit 6-7 min. Eingangschor). Auch Albert Schweitzers Bild der aufgeregt zusammenlaufenden Volksmenge spräche für ein flüssiges Tempo.


    Die Frage ist doch schlicht, was man mit monumental meint. Wir wissen, das Bach und andere Barockmusiker zB bei Orgeln durchaus mächtigen Klang, "gravitas" (was sich wohl besonders auf starken Bass bezog und auch für andere Musik gelten mag) forderten. Natürlich ist die Passion monumental i.S.v. Anspruch, Aufwand, Besetzung, Dauer etc. Ob sich das nun durch eher breite Tempi, durch Besetzungsstärken, die durch eine an späteren Chorwerken gebildete Vorstellung von Monumentalität usw. am besten umsetzen lässt, ist wieder ein andere Frage.

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  • Ein Freund von mir, lieber Dr. Pingel, der Organist ist und sich auch als Musikwissenschaftler mit dem Thema Orgel beschäftigt, erzählte mir mit einem Lachen davon, dass die Orgelbewegung mit ihrem puristischen Geist alle die verspielten barocken Register einfach abgebaut hat. Und was Wok hinzufügt über Bach, passt dazu: Auch der protestantische Bach-Kult neigt zum puritanistischen Purismus. Der Barock mochte aber keine secchezza ("Trockenheit"), er wollte Sinnlichkeit, Fülle, auch Opulenz. Warum hat Rubens wohl keine Mager-Models gemalt? :D Im Klavierunterricht durften wir Bach nur ohne Pedal spielen. Bis heute kann ich das nicht leiden. Hier bekenne ich mich eindeutig als Barockmensch (wiewohl ich ein paar Kilos weniger vertragen könnte obwohl ich nicht eigentlich dick bin :P ) :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

    Ein Beitrag, lieber Holger, den ich absolut unterschreiben kann, einschließlich der überflüssigen Kilos.

    Wir singen im Moment die Schützschen Einsetzungsworte (das sind zwei kleine Motetten), leider ohne Instrumente; ich glaube aber, wir haben keine guten. Das ist die Crux der evangelischen Kirchenmusik in den normalen Ortsgemeinden heute: die tollen Zinken, Posaunen, Hackbretter, Barockviolinen, Harfen usw., die haben wir einfach nicht oder können sie nicht bezahlen, außer vielleicht einem Cello und einem Cembalo.

    Es geht bei der ganzen Richter-Diskussion leider um eine Tatsache, die unsere Richter-Freunde nicht wahrhaben wollen: die Kantaten und die Passionen sind einfach schlecht gespielt (bevor ihr aufheult: gilt nur für mich und ein paar andere hier). Trockener, nichtbarocker Klang, Masse und Unbeweglichkeit, dazu laienhafter Chorgesang sind Merkmale schlechter Ausführung. Und wo wir gerade dabei sind: meine Erfahrung ist die, dass Fischer-Dieskau einfach keinen Bach singen konnte. Ich habe ihn live erlebt mit Liedern und auf CD mit Opern, er war ein Jahrhundertsänger, aber nicht bei Bach. Einer der Gründe ist der, dass er bei Bach genauso seine tiefgründigen Interpretationen machte wie bei Schubert in seinen Liedern.

    Zu Stimmenliebhaber #49: du berichtest von einer Schwierigkeit (Bach ist schlecht zu verfolgen). Dieses Problem haben Hörer, die wenig Bach hören oder fixiert sind auf ältere Aufnahmen Trainierte Chorsänger (dazu darf ich mich bei aller Bescheidenheit zählen) können diese Tempi leicht mitgehen, vor allem wo die Harnoncourtschen Rasereien längst einem Tempolimit zum Opfer gefallen sind. Was aber auch versierten Choristen Mühe macht, ist, dass Bach schwer zu singen ist, weil er die Chorstimmen wie Streichinstrumente behandelt; d.h. die Sänger müssen hier etwas lernen, was sie bei Schütz nicht gebraucht haben.

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  • In der Richter-Aufnahme verstehe ich aber im Eingangschor auch nicht mehr ?(:D

    Und einen 12/8 Takt auf langsame Achtel zu nehmen ist auch komisch.....

  • Und wo wir gerade dabei sind: meine Erfahrung ist die, dass Fischer-Dieskau einfach keinen Bach singen konnte.

    Aha! Immer wenn ich denke, dass du deinen Stuss-Vorrat bereits auf die Spitze getrieben hast und nun nichts Schlimmeres mehr kommen kann, schaffst du es doch immer wieder noch einen drauf zu setzen - auch eine Leistung, das muss man dir lassen!


    Beim Jahrhundertsänger sind wir uns einig. Mir ist er aber gerade aufgrund seiner Bach-Interpretationen (Matthäus-Passion, WO, Solokantaten) besonders lieb und teuer geworden. Das wird auch durch einen pauschalen und gedankenlosen Abqualifizierungssatz aus deiner Feder nicht anders!


    Und dass die späte "Matthäus"-Passion-Aufnahme Richters "schlecht gespielt" sei, diese Meinung dürftest du ziemlich alleine haben. Man muss ja das Tempo nicht mögen, ich halte es auch nicht für das ideale, aber auf die Art und Weise, wie er das interpretiert (die man nicht mögen muss), macht er das schon sehr gut - so viel Fairness sollte sein!


    Übrigens verstehe ich im Richterschen Eingangschor sehr viel Text (natürlich nicht alles dort, wo mehrere Texte übereinander gesungen werden.)


    Aber jetzt ziehe ich mich aus dieser Diskussion zurück, solch apodiktische Urteile wie das über den Bach-Interpret DFD sind einfach zu albern und zu niveaulos, als dass man auf dieser Grundlage seriös argumentieren und sich mit Nutzen austauschen könnte.


    P.S.: Ich möchte nochmals Alfred bitten, bei seinen technischen Betreuern nachzufragen, ob es nicht doch möglich sein könnte, dass man die Ignorierfunktion wieder aktivieren könnte - vielen Dank!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wir singen im Moment die Schützschen Einsetzungsworte (das sind zwei kleine Motetten), leider ohne Instrumente; ich glaube aber, wir haben keine guten. Das ist die Crux der evangelischen Kirchenmusik in den normalen Ortsgemeinden heute: die tollen Zinken, Posaunen, Hackbretter, Barockviolinen, Harfen usw., die haben wir einfach nicht oder können sie nicht bezahlen, außer vielleicht einem Cello und einem Cembalo.

    Lieber Dr. Pingel,


    toll, dass Du das machst! Das ist aber sehr schade ohne Instrumente! Aber gibt es keine versierten Laien, Studenten, die man für eine Mucke angagieren kann?


    Ich muss mal schauen, was es hier zur Weihnachtszeit in Münster gibt. Vielleicht ist ja auch Schütz dabei! :hello:


    Einen schönen Sonntag trotz Regengrau wünscht

    Holger

  • Tamino XBeethoven_Moedling Banner
  • Es geht bei der ganzen Richter-Diskussion leider um eine Tatsache, die unsere Richter-Freunde nicht wahrhaben wollen: die Kantaten und die Passionen sind einfach schlecht gespielt [...]. Trockener, nichtbarocker Klang, Masse und Unbeweglichkeit, dazu laienhafter Chorgesang sind Merkmale schlechter Ausführung.

    Genau so hat vor über 40 Jahren der damalige KMD an der Hagener Johanniskirche, Heinrich Ehmann (Sohn von Wilhelm Ehmann) auch argumentiert. Seine Kirchenmusiken orientierten sich, bei dem Vater nicht weiter verwunderlich, an der historischen Aufführungspraxis, wenngleich sein Instrumentalkörper nicht aus Original- oder nachgebauten Instrumenten bestand, denn das hätte eine Kirchengemeinde niemals finanzieren können.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Und wo wir gerade dabei sind: meine Erfahrung ist die, dass Fischer-Dieskau einfach keinen Bach singen konnte. Ich habe ihn live erlebt mit Liedern und auf CD mit Opern, er war ein Jahrhundertsänger, aber nicht bei Bach. Einer der Gründe ist der, dass er bei Bach genauso seine tiefgründigen Interpretationen machte wie bei Schubert in seinen Liedern.

    Ich habe, lieber Dr. Pingel, das mal versucht nachzuvollziehen - wo ich sagen muss, dass ich auf diesem Gebiet so gar kein Experte bin:




    So ganz unbedarft kommt mir bei Fischer-Dieskau in den Kopf, dass er das singt ein bisschen mit der Haltung wie in einem Mahler-Lied. Peter Harvey dagegen trägt das auch wunderbar expressiv vor, aber der Gesangsstil ist für meinen Eindruck "typisierender", weniger "solistisch", sondern er singt hier seine Rolle eher wie die eines Vorsängers vor einem Chor (hier vor dem "Chor" des Orchesters); die Haltung ist dann zwar die eines primus inter pares, aber das bleibt eben selbst noch von der Mentalität des Chorsängers geprägt, der einem Ganzen dient, auch wenn er als Einzelner aus diesem hervortritt. Es könnte demnach sein, dass Fischer-Dieskau hier nicht ganz "historisch" ist: Der Kult des Individuums ist 19. Jhd., zu Bachs Zeiten zählte mehr das Allgmeine, behaupte ich jetzt mal ungeschützt, der Solosänger im Barock übernimmt eher eine typische und in ihrer Typik festgelegte Rolle als dass er sich selbst in seiner Individualität zum Ausdruck bringt. Meintest Du so etwas, was Dich bei Fidi stört? (Das künstlerische Niveau von Fidi ist natürlich überragend (das wirst Du wohl auch so sehen), und auch Karl Richter gefällt mir sehr gut, das ist einfach ein schöner Bach, den man sich sehr gerne anhört!) :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber wok,


    ich interpretiere diese Deine Aussage so, als ob HIP Musik ohne Gefühl und Sinnlichkeit wäre und wenn man Bach mit Gefühl hören will, man zu Karl Richter greifen müsse.


    Viele Grüße

    Boismortier

    Lieber Boismortier, (ein sehr schöner Name, und ein sehr schönes Bild dieses berühmten Flöten- und Ballett-Komponisten !)


    Nein, soweit würde ich niemals gehen. Jede der beiden Interpretationsoptionen hat sicher seine besondere Ästhetik in den Ohren des Hörers. Ich plädiere ja auch nicht nur für KARL RICHTER, es gibt ja auch noch andere Dirigenten mit einer vergleichbaren Aufführungspraxis, wie z. B. KARL FORSTER oder KURT THOMAS. Ich bin aber schon der Meinung, daß Chorwerken wie den Passionen von BACH etwas mehr Klangopulenz und Sinnlichkeit gut stehen. Prälat und Domkapellmeister KARL FORSTER, Gründer und lange Zeit Leiter des CHORES DER St. HEDWIGSKATHEDRALE, hat sich die meiste Zeit seines Lebens mit Kirchenmusik und deren Aufführung beschäftigt, und auch er huldigte offensichtlich der heute als antiquiert geltenden Aufführungspraxis. Dabei gelten auch seine Aufnahmen von geistlicher Musik bis heute für viele noch immer für unverzichtbar.


    Wenn diese Aufführungen und Aufnahmen über Jahrzehnte hinweg Millionen von Menschen glücklich gemacht haben, und auch heute viele Musikliebhaber sich immer noch an diesen Tondokumenten erfreuen, dann sollte man das verstehen, und diese Sichtweise neben der HIP-Praxis einfach als eine der möglichen Optionen der Aufführungspraxis in der Musikgeschichte akzeptieren, auch wenn HERREWEGHE mit seiner Sichtweise nach heutigem Kenntnisstand BACH's Intentionen am nächsten kommen mag.


    Viele Grüße

    wok

  • Ich habe auf stimmenliebhabers Post (#54) geantwortet, dieser Beitrag ist offensichtlich gelöscht worden.

    So ganz unbedarft kommt mir bei Fischer-Dieskau in den Kopf, dass er das singt ein bisschen mit der Haltung wie in einem Mahler-Lied. Peter Harvey dagegen trägt das auch wunderbar expressiv vor, aber der Gesangsstil ist für meinen Eindruck "typisierender", weniger "solistisch", sondern er singt hier seine Rolle eher wie die eines Vorsängers vor einem Chor (hier vor dem "Chor" des Orchesters); die Haltung ist dann zwar die eines primus inter pares, aber das bleibt eben selbst noch von der Mentalität des Chorsängers geprägt, der einem Ganzen dient, auch wenn er als Einzelner aus diesem hervortritt. Es könnte demnach sein, dass Fischer-Dieskau hier nicht ganz "historisch" ist: Der Kult des Individuums ist 19. Jhd., zu Bachs Zeiten zählte mehr das Allgmeine, behaupte ich jetzt mal ungeschützt, der Solosänger im Barock übernimmt eher eine typische und in ihrer Typik festgelegte Rolle als dass er sich selbst in seiner Individualität zum Ausdruck bringt. Meintest Du so etwas, was Dich bei Fidi stört? (Das künstlerische Niveau von Fidi ist natürlich überragend (das wirst Du wohl auch so sehen)


    Schöne Grüße

    Holger

    Hier bringst du die Sache wieder auf den Punkt, ich habe mich da nicht deutlich genug ausgedrückt. Es gibt eine Kritik an Sängern, dass sie bestimmte Musiken zu expressiv gestalten und dadurch verfehlen. Gerade seine überragende Klasse bringt FiDi dazu, diese Stück in seiner Intention zu verfehlen. Es gibt andere Beispiele, wenn man z.B. Elisabeth Schwarzkopf (sie war die beste Marschallin, die ich je gehört oder gesehen habe) nimmt und aus der Orffschen Klugen ihre Interpretation mit der von Lucia Popp vergleicht.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Mir ist bei dieser ganzen Diskussion wie auch bei anderen Themen (9., 4. Satz) aufgefallen, dass hier oft außermusikalisch argumentiert wird. In meinem Theologie- und Soziologiestudium ist mir ein Phänomen aufgefallen, das sich in Deutschland (und nicht nur da) immer stärker ausprägt: die säkulare Religion. Kapital, Fußball und klassische Musik wären die hervorstechendsten Merkmale. Ich selber bin kein Wissenschaftler, daher werde ich mich hüten, darüber zu schreiben. Aber für einen klugen Doktoranden hätte ich ein schönes Thema:

    "Das Tamino-Klassikforum als Bibel der säkularen Religion der klassischen Musik." Ich hatte erst überlegt, dich, Holger darum zu bitten, weil du der einzige bist, der das könnte, aber vom Zeitbudget ist das absurd. Aber vielleicht wirfst du uns ab und zu ein paar Brosamen hin.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

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